70 oder 75 Seelen? Wenn Gott mitzählt
Hinter dem biblischen Zahlenstreit verbirgt sich ein radikaler Gedanke: Ein Midrasch deutet an, dass Gott selbst mitzählt und Sein Volk nach Ägypten begleitet.
Das Neue Testament ist ein Widerschall, ein Resonanzkörper der Tora. Allerdings entstanden seine Schriften zu einer Zeit, als die Tora selbst noch in Bewegung war. Besser gesagt, es existierten Varianten der schriftlichen Überlieferung nebeneinander. Im Wochenabschnitt Wajigasch gibt es dafür ein gutes Beispiel.
In 1. Mose 46,26f. lesen wir:
Alle Personen, die dem Jaakob nach Mizrajim kamen, die von ihm stammenden, außer den Frauen der Söhne Jaakobs, alle Personen: sechsundsechzig. Und Josefs Söhne, die ihm in Mizrajim geboren worden: zwei Personen; alle dem Hause Jaakobs gehörige Personen, die nach Mizrajim gekommen waren: siebzig.
In der langen und großen Rede des Stephanus in Apostelgeschichte 7,2–53 hingegen schreibt diese in Vers 14:
Josef aber schickte nach seinem Vater und ließ ihn und alle seine Verwandten zu sich kommen, fünfundsiebzig Personen.
So wird der Vers in den deutschen Bibeln wiedergegeben. Zum Verständnis sollten wir den griechischen Text jedoch wie folgt übersetzen:
Josef aber schickte nach seinem Vater und ließ ihn holen; alle seine Verwandten waren fünfundsiebzig Personen.
Wie erklärt sich der Unterschied – hier 70, dort 75 Seelen? Der naheliegende Grund ist der Text der Septuaginta, der antiken jüdischen Übersetzung des Tenach für die griechischsprachige Diaspora des Judentums.
Die beiden Septuagintaverse 46,26f. lauten in deutscher Übersetzung:
Alle Seelen aber, die mit Jakob nach Ägypten kamen, die aus seinen Lenden hervorgegangen waren – ohne die Frauen der Söhne Jakobs –, alle Seelen waren sechsundsechzig. Die Söhne Josephs aber, die ihm im Land Ägypten geboren wurden, waren neun Seelen. Alle Seelen des Hauses Jakob, die nach Ägypten kamen, waren fünfundsiebzig.
Die Septuaginta zählt also alle Söhne Josephs mit zu den Seelen des Hauses Jakobs, nicht nur Ephraim und Manasse. In Vers 20 hatte sie – über den hebräisch-massoretischen Text der Tora hinaus – bereits fünf dieser Nachkommen genannt:
Die Söhne Manasses, die ihm die syrische Nebenfrau gebar, waren Machir, und Machir zeugte Galaad; die Söhne Ephraims, des Bruders von Manasse, [waren] Suthalaam und Thaam; die Söhne Sulthalaams aber: Edem.
Allerdings kommt man bei 2 + 5 = 7 noch nicht auf neun Söhne Josephs, und somit auch nicht auf die Gesamtsumme von 75 Personen.
Lange Zeit nahm man an, dass es sich bei den 75 Personen um eine Eigenart der griechischen Übersetzung der Tora handelt. Die Entdeckung der Schriften vom Toten Meer zeigte jedoch mit den Fragmenten der Höhle 4 in Qumran (4QGen-Exod-a und 4QExod-b) einen hebräischen Text mit der Lesart 75 Personen. Die Angabe 70 Personen fand sich ebenfalls in Qumran in der Handschrift 4QPaleoGen-Exod¹. Das letztgenannte Fragment wird auf die Jahre 100–25 v. Chr. datiert, die beiden anderen auf die Jahre 125–100 v. Chr. bzw. 30 v.–20 n. Chr. Damit wäre die Angabe von 75 Personen das älteste bekannte Textzeugnis.
Es ist jedoch nicht zu entscheiden, welche Zahlenangabe ursprünglich ist. Das Problem der Varianten ist jedenfalls sehr alt. So versucht bereits das nichtbiblische Buch der Jubiläen, das möglicherweise auf das 2. Jh. v. Chr. zurückgeht, zu erweisen, dass beide Zählungen richtig sind.
Rechnerische Probleme machen sie beide. Die Schwierigkeit, die Zahl 75 Personen nachzuweisen, habe ich bereits genannt. Bei der Zahl 70 Personen liegt die Schwierigkeit darin, dass 1. Mose 46,15 dreiunddreißig Nachkommen Leas nennt, man jedoch, wenn man diese zählt, nur auf zweiunddreißig Personen kommt. Damit beträgt die Summe aller zum Hause Jaakobs gehörigen Personen, die nach Mizrajim kamen, 69 und nicht 70.
Der Kommentator Rabbi Awraham Ben Meïr Ibn Esra (ca. 1089–1164) gab eine naheliegende Erklärung:
Das Richtige in meinen Augen ist: dass Jakob in der Berechnung ist und sie von ihm an [zu zählen] beginnt, als ob [der Vers] sagen würde: Jede Person seiner Söhne und seiner Töchter zusammen mit seiner Person waren dreiundreissig.
Bei der Gesamtsumme von 70 Personen müsste Jakob also mitgezählt werden.
Auch dies ist nicht ganz unproblematisch, weshalb Raschi einem Midrasch im Talmudtraktat Baba Batra folgend einen anderen Vorschlag favorisiert (den vorzustellen hier zu weit führt).
Der tiefere Grund für die Zahl ist vielleicht ein anderer. Der moderne Kommentator Robert Alter schreibt:
Siebzig bedeutet Fülle, eine große runde Zahl, zehnmal die heilige Sieben, und ihre Verwendung hier verdeutlicht, das Jakob, der einst ein vereinsamter Flüchtling war, zu einer großen Familie herangewachsen ist, dem Zellkern einer Nation.
Bereits das Buch der Jubiläen vermutet eine solche symbolische Bedeutung der 70 und setzt die 70 Nachkommen Jakobs/Israels in Beziehung zur Zahl der Völker, die nach dem Geschlechtsregister in 1. Mose 10 ebenfalls siebzig beträgt.
Theologisch am tiefgreifendsten ist jedoch ein Midrasch in Pirké de Rabbi Elieser 39: Gott selbst macht die Zahl 69 zur 70 voll.
Als sie [alle Nachkommen, die mit Jakob nach Ägypten kamen] an die Grenze zu Ägypten kamen, wurden alle Männer gezählt und es waren 66. Joseph und seine beiden Söhne in Ägypten machten insgesamt 69. Und es steht geschrieben: „Mit siebzig Personen zogen deine Väter nach Ägypten hinab“ (5. Mose 10,22). Was hat der Heilige, gesegnet sei er, gemacht? Er hat sich zu ihnen gezählt, und die Gesamtzahl wurde siebzig, um zu erfüllen, was gesagt ist: „Ich werde mit dir nach Ägypten hinabziehen“ (1. Mose 46,4).
Gott ist also nicht nur im übertragenen Sinn mit Israel verbunden, sondern ganz persönlich. Er ist so real und nahezu physisch bei den Nachkommen Jakobs anwesend, dass man ihn sogar mitzählen muss, um auf die Zahl 70 zu kommen. Ich denke, du spürst die Radikalität dieser Aussage …
Vielleicht war Rabbi Akiwa im 2. Jahrhundert der radikalste Toraausleger. In einer gewagten Auslegung (die im Jerusalemer Talmudtraktat Sukka 4; 54c überliefert ist) erklärt er den Vers 2. Samuel 7,23 im eben angedeuteten Sinn: „Dein Volk, das du dir aus Ägypten erlöst hast, aus den Völkern und ihren Göttern.“
Eigentlich steht dort nicht „ihre Götter“, sondern „ihr Gott“. Rabbi Akiwa liest jedoch „sein Gott“, nämlich der Gott des Volkes Israel. In seinem Sinn muss der Vers also lauten:
„Dein Volk, das du dir erlöst hast aus Ägypten, aus den Völkern mit seinem Gott.“ Akiwa deutet an:
Wenn es möglich wäre zu sagen: als ob du dich selbst erlöst hättest.
Die Beziehung zwischen Gott und seinem Sohn Israel ist mit Rabbi Akiwa so eng, wie es das Neue Testament und die Christenheit von Gott und seinem Sohn Jesus Christus bekennen.
Damit lässt sich zu Stephanus in der Apostelgeschichte zurückkehren. Der Grundtenor seiner Rede ist: Der Gott Israel ist ein Mitgehender. Er ist bei den Stammvätern Israels wie bei den Menschen in der Geschichte seines Volkes zu finden, und jetzt konzentriert in dem gekreuzigten Gerechten – deshalb wohnt er nicht an einem einzigen Ort, „in Tempeln, die mit Händen gemacht sind“.


