ahavta basic || kühne Geschichten
Der theologische Kommentar zum „Brief an die Gemeinden in Galatien“ des Apostels Paulus, gewichtig in Inhalt wie Umfang, an dem Peter von der Osten-Sacken mehrere Jahre arbeitete, erschien 2019. Er richtet sich naturgemäß an das Fachpublikum. Aufhören zu schreiben konnte er nach diesem opus magnum natürlich nicht. Es waren seine Enkel Leo, Carlo und Hannah, die ihn noch einmal zu einem anderen literarischen Genre führten. Ihnen ist das 160-seitige Buch gewidmet, das ich dir heute vorstelle.
Bereits vier Jahrzehnte zuvor hatte er gleichsam als „Fingerübung“ Jugendbücher geschrieben, damals unter einem Pseudonym – um Menschen, die gerne an seiner Reputation gesägt hätten, keine Angriffsfläche zu geben.
Das tägliche Niederschreiben der insgesamt 75 Zugänge auf „kühne Geschichten“ führte ihn freilich nicht weg von seinem Lebensthema, der Bibelauslegung. Im Gegenteil, denn Auslegung geschieht, wie es die jüdische Überlieferung von Beginn an praktizierte, im Erzählen. Und so erzählt der Verfasser das erste Buch der Bibel. Es ist kein einfaches Nacherzählen, sondern auch ein Ausdeuten, Weiterdenken und ein Ausziehen in die Gegenwart der Leser hinein, immer wieder inspiriert von den Midraschim der Juden. Und da Bilder manchmal mehr als Worte zu erzählen vermögen, hat er das Buch auch noch eigenhändig illustriert.
Zwei Seiten höchstens hat jedes Kapitel. Schon das ist kindgemäß. Und Peter von der Osten-Sacken hat immer wieder in seinen Enkeln Kinder vor Augen. Jedes Kind fragt in bestimmtem Alter: „Warum muss ich denn schon ins Bett?“ Des Verfassers Antwort im Kapitel „Warum schlafen wir?“ ist dann aber zugleich so philosophisch, theologisch wie auch ökologisch, dass auch der erwachsene (Vor-)Leser seine Freude hat.
Zur Erläuterung des Buchtitels heißt es auf dem vierten Vorsatzblatt:
Und warum nennt er deine Geschichten kühn? fragte der Engel Scheálja den Herrn der Welt. Weil ich den Menschen entschwunden bin, antwortete ER.
Der Erzähler und Ausleger Peter von der Osten-Sacken bringt den Schöpfer der Welt und Gott Israels dir nahe und vielleicht sogar zurück…
ahavta+ macht drei Beispielkapitel aus diesem schönen Buch zugänglich. Es ist im Januar in der 2. Auflage im Kulturverlag Kadmos Berlin erschienen.
Das Bild vom Ölbaum im Brief an die Römer des Apostels Paulus, Kapitel 11,17–24 gehört zu den wichtigsten Texten im Neuen Testament. Paulus verwendet das Bild vom edlen Olivenbaum für die Juden; mit dem wilden Olivenbaum meint er die Nichtjuden. So warnt er die Menschen, die aus den Völkern über Jesus Christus zum Gottesvolk Israel gekommen sind, vor Überheblichkeit:
Vielleicht hat man dich als Zweig vom wilden Ölbaum
in den edlen eingepfropft.
Dann wirst du jetzt vom Saft aus seiner Wurzel miternährt.
Aber denke nicht,
dass du den anderen Zweigen überlegen bist!
Wenn du es trotzdem tust,
dann denke daran:
Nicht du trägst die Wurzel,
sondern die Wurzel trägt dich!
(Übersetzung: Basisbibel)
Es ist ein Bild. Darin ist es so anschaulich wie einprägsam. Eben so hat es auch seine Grenzen. Schon immer haben Ausleger, die das Bild darüber hinaus auspressen wollten, darauf verwiesen, dass man gärtnerisch doch Bäume veredelt und in der Regel edlere Zweige auf einen wilderen Baum aufpfropft. Peter von der Osten-Sacken meint dazu humorvoll: „Vielleicht verhält es sich … einfach so, dass das Stadtkind Paulus im Botanikunterricht mit seinen Gedanken woanders war.“
Zur Ehrenrettung des Apostels kann ich anfügen: Es gibt bei Bäumen das Phänomen der Inoskulation. Der Begriff leitet sich von der lateinischen Wurzel in + osculari ab, „nach innen hinein küssen“. Bäume, die diesen Prozess durchlaufen haben, werden in der Forstwirtschaft als Gemel bezeichnet, vom lateinischen Wort für „ein Paar“.
Meistens wachsen die Äste von zwei Bäumen derselben Art zusammen, aber auch bei verwandten Arten kann eine Inoskulation beobachtet werden. Die Zweige wachsen zunächst getrennt nebeneinander her, bis sie sich berühren. An diesem Punkt wird die Rinde an den sich berührenden Flächen allmählich abgeschliffen, wenn sich die Bäume im Wind bewegen. Sobald sich das Kambium von zwei Bäumen berührt, veredeln sie sich manchmal selbst und wachsen zusammen.
Wenn ich dieses Bild, das Michael Warburton weitergegeben hat, auf das des Apostels Paulus lege, ergibt sich die Deutung: Der jüngere Baum, die Nichtjuden, die Menschen aus den Völkern haben ihre heidnische Wurzel verloren. Genährt werden sie jetzt von dem älteren Baum Israel aus der Kraft seiner Wurzel. Der jüngere ist ein Teil des älteren Baumes geworden; beide sind ein Paar. Gott hat aus Liebe zu allen Menschen den jüngeren in den älteren hineingeküsst. Es bleiben jedoch zwei Bäume, ihre Identität ist verschieden. Trotzdem gehen sie nicht getrennt durch die Zeiten, durch Sommer wie Winter.
Über das christliche Sandsteinrelief der sogenannten „Judensau“ an der Stadtkirche zu Lutherstadt Wittenberg hatte ich in zwei vergangenen Ausgaben geschrieben (#123 und #125). Es wurde um 1290 geschaffen.
Welche Zeugnisse jüdischer Ikonographie des Mittelalters gibt es eigentlich? Im Volk des Buches kommen natürlich so gut wie ausschließlich Buchillustrationen in Betracht.
In Spanien wurde 1340 die „Barcelona-Haggada“ geschrieben. Eine Haggada ist die Erzählung und Handlungsanweisung für den Seder an Erew Pessach, dem Abend des Fests der Befreiung der Israeliten aus der ägyptischen Sklaverei. Von alter Zeit bis heute sind Haggadot illustriert.
„Sklaven waren wir dem Pharao in Ägypten“. Diesen Satz der Haggada hat die Barcelona-Haggadah in eine bildliche Darstellung gefasst.
Meine Interpretation dieser Buchseite für das christlich-jüdische Verhältnis steht bei ahavta+. Sie erkennt ein Bild der Hoffnung auf andere Zeiten mit den Bedrückern der Gegenwart. Angeregt wurde sie durch Forschungen von Marc Michael Epstein.