ahavta+ begegnet Maria
So hat David Flusser einen ebenso einfühlsamen wie eindringlichen Beitrag geschrieben. Er erschien 1990 in seinem längst vergriffenen Band mit dem programmatischen Titel „Das Christentum – eine jüdische Religion“ im Kösel-Verlag.
Dir als Mitglied von ahavta+ gebe ich heute diesen Text an die Hand. Zuvor möchte ich Dir jedoch den Autor vorstellen.
In meinen Augen war er ein Genie. Persönlich hatte ich das Glück, Professor Flusser in Jerusalem hören zu dürfen. Ich kenne kaum jemanden, der beides, die schriftliche und mündliche Tora Israels und das Neue Testament so gut kannte wie er, inwendig wie auswendig. Mein Jerusalemer Studienbegleiter Dr. Michael Krupp, sagte über Flusser:
Ich habe viele Lehrer im Neuen Testament gehabt, keiner kannte dieses Buch so gut wie er, und keiner diesen Jesus so intim wie er, auch keiner von den Juden.
David Flusser wurde am 15.9.1917 in Wien geboren. Er wuchs in Freiberg in Böhmen (Przibram, Pibrans) auf. 1939 emigrierte er nach Palästina. Er starb am 15.9.2000 in Jerusalem. David Flusser war praktizierender orthodoxer Jude. Die im Tora- und Talmudstudium erworbenen Kenntnisse setzte er zum Studium antiker griechischer, römischer und auch arabischer Texte sowie der Schriftrollen vom Toten Meer ein. Flusser sprach fließend Deutsch, Tschechisch, Hebräisch, Englisch und Französisch. Als Altphilologe beherrschte (und sprach!) er auch Latein, Griechisch und weitere Sprachen.
Von einem Pfarrer war in Böhmen Flussers Interesse an Jesus und dem Christentum geweckt worden. Er beschloss 1938, alles was er konnte über die Zeit des Zweiten Tempels zu lernen. Er studierte Altphilologie und Geschichte. 1957 promovierte er an der Hebräischen Universität Jerusalem. 1962 wurde er dort Professor für Vergleichende Religionsgeschichte.
Bei einem Gespräch mit Christen sagte Flusser einmal über Jesus: „Mein Meister und euer Gott“ (Marcel Dubois).
Im Vorwort zu dem erwähnten Band schreibt David Flusser, was er mit seinen dort gesammelten Überlegungen erreichen möchte:
Es geht uns hier nicht darum, um durch die Aufdeckung der jüdischen Wurzel des christlichen Glaubens das Christentum zu stärken und so seine Wunden zu heilen. Es ist vielleicht schön, wenn viele liebe Christen meinen, daß durch das Judentum das Christentum genesen wird. Aber hier geht es uns eher um etwas anderes: Hier geht es um die »hebräische Wahrheit« im Neuen Testament. Zu dieser hebräischen Wahrheit gehört nicht nur das Alte Testament, sondern sie ist auch im späteren jüdischen Schrifttum und auch in den rabbinischen Quellen beinhaltet. Womöglich viel über diese hebräische Wahrheit zu erfahren, ist das Gebot der Stunde.
„Womöglich viel über diese hebräische Wahrheit zu erfahren, ist das Gebot der Stunde.“ Das ist auch meine Überzeugung. Und 30 Jahre nach diesen Worten Flussers sind sie eher dringlicher geworden. Zwar geben heute viele viel auf den „christlich-jüdischen Dialog”. Aber der ist nicht was Flusser im Sinne hatte:
Das folgende Büchlein sollte nicht als ein Beitrag zum christlich-jüdischen Dialog verstanden werden. Ich wollte auch nicht meinen Lesern nahebringen, was sie vom Judentum und vom Christentum meinen oder sogar glauben sollen. (…)
In beiden Religionsgemeinschaften beruht ja der Glaube auf konkreten historischen Tatsachen und der Glaube hat auch einen noetischen Aspekt: Ich glaube, damit ich (mehr) verstehe. Es scheint sogar, daß durch die modernen Errungenschaften man nicht nur gezwungen ist, die für gesichert erklärten Tatsachen neu kritisch zu beleuchten, sondern daß jetzt man vorsichtig den Umkreis der zum Glauben gehörigen Tatsachen wird erweitern müssen. Das alles heischt nach einem mühsamen und fruchtbaren Denken und Überdenken. Was heute oft fehlt, ist einerseits Mut und andererseits eine einfache Gottesfurcht, die den Theologen und den Gläubigen eine ungeheuere Verantwortung Gott und der Wirklichkeit gegenüber auferlegt. (…)
Durch die »hebräische Wahrheit« verschiebt sich zwangsweise vieles in der kirchlichen Glaubensüberlieferung: Manches, was früher als besonders bedeutend erschienen ist, tritt ein wenig in den Hintergrund, wobei andere kirchliche Lehren, die vielleicht als nebensächlich erschienen sind, jetzt ungeheuer an Bedeutung gewinnen.
Dies wird auch in David Flussers Mediation über Maria deutlich.
Als Mutter des am Kreuz als Opfer römischer Judenfeindschaft gemordeten Jesus ordnet David Flusser Maria ein in das Leiden vieler Mütter um ihrer Söhne und Töchter und erkennt in ihr eine paradigmatische Funktion.
Wenn die Verehrung Marias zur Besserung der Menschen beitragen soll, soll man auch ihren Schmerz um den toten, gemordeten unschuldigen Sohn vorbildlich und stellvertretend verstehen, und zwar für das menschliche Leiden überhaupt – und besonders für den Schmerz der Mutter. Und ich als Jude kann nicht umhin, Maria als die schmerzensreiche jüdische Mutter zu sehen, deren unschuldiger Sohn ein Opfer des Judenhasses geworden ist.
„Darum gehört auch Maria zu den unzähligen jüdischen Müttern, die ihre grausam gemordeten jüdischen Kinder beweinen.“
Hier nun dein Link zum Download des Beitrages von David Flusser:
aus: David Flusser, Das Christentum – eine jüdische Religion, 1990, 17–29.
Heftige Regenfälle bei stürmischen Wetter, diese bringt die Winterzeit in Israel. In der judäischen Wüste kann das von den Höhen der Berge herabströmende Wasser schnell gefährlich werden für Wanderer, manchmal sogar für Autofahrer. Das zeigt diese Aufnahme vom 1. Januar 2022 aus dem Wadi Zin. Der Link führt dich zum Video.
Dir wünsche ich einen gar nicht stürmischen, vielmehr ruhigen Start in das neue Jahr und grüße dich
herzlich, dein Ricklef