ahavta - begegnungen am Gedenktag des Holocaust
Gestern Abend begann es in Jerusalem zu schneien, nachdem zuvor bereits im Golan beträchtliche Schneemengen gefallen waren. Im Stadtteil Gilo lieferten sich die Bewohner Schneeballschlachten. Die Kinder freuen sich, vielleicht auch, weil die Schulen für heute geschlossen bleiben. Auch die Autobahn zwischen Jerusalem und Tel Aviv wurde zeitweilig gesperrt. Der Busverkehr wurde eingestellt.
Heute vor 77 Jahren wurde das KZ Auschwitz-Birkenau durch die Rote Armee befreit. Seit 2006 ist der 27. Januar ein weltweit begangener Gedenktag. In Deutschland findet seit 1996 am oder um diesen Tag im Deutschen Bundestag die Gedenkstunde zum „Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“ statt.
In diesem Jahr hält der Präsident des israelischen Parlaments, der Knesset, Mickey Levy, eine Gedenkrede. Vor ihm spricht die Holocaust-Überlebende Dr. h.c. Inge Auerbacher. Sie wurde 1934 im badischen Kippenheim geboren. Als Siebenjährige wurde sie 1942 in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert. Nach dessen Befreiung kam die Familie zunächst in ein Flüchtlingslager für sogenannte „displaced persons“ in Stuttgart. Im Mai 1946 wanderte sie in die Vereinigten Staaten aus und ließ sich in New York nieder. 1953 erhielt Inge Auerbacher, die später als Chemikerin arbeitete, die US-Staatsbürgerschaft. 1986 veröffentlichte sie ihre Kindheitserinnerungen, die 1990 unter dem Titel Ich bin ein Stern in deutscher Übersetzung erschienen.
Die Gedenkstunde wird durch besondere musikalische Werke von Komponisten, die in Theresienstadt interniert waren, sowie aus dem jüdischen Widerstand gerahmt. Die Lieder werden vom Kantor der Liberalen Jüdischen Gemeinde Hannover, dem Tenor Yoed Sorek, gesungen, der am Flügel von Prof. Dr. Jascha Nemtsov und an der Klarinette von Susan Evans begleitet wird.
Die Sondersitzung des Bundestags wird ab 10 Uhr im Parlamentsfernsehen und im Internet übertragen:
Mehr und mehr wird deutlich, dass das Erinnern vergangenen Geschehens eine Perspektive auf Zukunft hin hat. Der Schuld früherer Generationen folgt die Verantwortung heute in dem, was morgen sein soll.
Der Auschwitz-Überlebende Marian Turski sagte:
Wenn ich heute jungen Menschen begegne, wird mir bewusst, dass sie nach 75 Jahren des Themas etwas überdrüssig sind: sowohl des Krieges, als auch des Holocaust, der Schoa, des Genozids. Ich verstehe sie. Deshalb verspreche ich euch, ihr jungen Menschen, dass ich euch nicht von meinem Leid erzählen werde. Ich werde euch nicht von meinen Erlebnissen erzählen, von meinen zwei Todesmärschen, davon, wie ich das Kriegsende erlebt habe, bei dem ich 32 Kilogramm wog, am Rande der Erschöpfung und des Lebens. Ich werde nicht davon erzählen, was am schlimmsten war, das heißt von der Tragödie, von meinen Nächsten getrennt zu werden, wenn du nach der Selektion ahnst, was sie erwartet. Nein, darüber werde ich nicht sprechen. Ich möchte mit der Generation meiner Tochter und der Generation meiner Enkelkinder über sie selbst sprechen.
Menschen trugen stets Verantwortung. Manche sind unter ihr zusammengebrochen, einige haben sie aufgehoben und sind mit ihr weitergegangen, wissend: Was wir heute tun, wirkt sich auf das Morgen aus. Ein Nichtstun ist ausgeschlossen.
Der 1926 als Mosze Turbowicz geborene Marian Turski ist Vorsitzender des Jüdischen Historischen Instituts in Warschau sowie seit Mitte Juni 2021 Präsident des Internationalen Auschwitz Komitees. Vor zwei Jahren hielt er in Auschwitz eine bewegende Rede zum 75. Jahrestag der Befreiung des Lagers. Darin appellierte er:
Seid dem Gebot treu. Dem elften Gebot: Du sollst nicht gleichgültig sein! Denn wenn du gleichgültig sein wirst, so wird, ehe du dich versiehst, auf euch, auf eure Nachfahren plötzlich irgendein Auschwitz vom Himmel fallen.
Rabbiner David Kraus veröffentlichte unter diesem Titel vor kurzem seine Geschichte – vom unbekümmerten jungen Draufgänger in Regensburg zum Rabbi in Jerusalem. Mit 24 Jahren wanderte er zurück nach Israel und in seine Geburtsstadt. Zusätzlich zu seiner Ausbildung und Einsetzung als Rabbiner ist er ausgebildeter Paar- und Familienberater.
In seinem Buch erzählt er entwaffnend ehrlich, voller Humor und sehr inspirierend, wie er durch einen Angriff auf ihn, der ihn monatelang ans Krankenbett fesselte, zum Nachdenken über den Sinn des Lebens kam. Anhand seiner eigenen Geschichte zeigt er, wieviel Weisheit im Judentum und in der Tora liegt, und wie sich die Widrigkeiten des Lebens zu Quellen des Glücks umwandeln lassen:
Das Leben ist vielleicht nicht einfach, aber es ist schön – denn alles, was passiert, passiert nicht dir, sondern für dich.
Seine Überzeugung, dass das Glück mit dem Zufall herantreibt, wobei sein „Zufall“ den Namen HaSchem (Gott) trägt, hat er wesentlich durch Rabbi Nachman von Brazlaw (1772–1810) gewonnen. Er ist ein „Brazlawer“ – und die sind (fast) immer fröhlich und glücklich…
Vor einer Woche erzählte David Kraus in einer Online-Veranstaltung der Deutsch-Israelischen Gesellschaft von seinem bewegten Leben in Deutschland und Israel, dem jüdischen Alltagsleben in Israel, dem Leben der orthodoxen Juden, der Welt der chassidischen Gemeinde der Brazlawer und seiner Tätigkeit als Familientherapeut in Israel.
Vergiss das Ziel, der Weg ist das Ziel, und am Ende wirst du dein Ding gemacht haben. Wie? …Das musst du selbst erleben, es ist ganz individuell. Aber klar ist, dass du es schaffen wirst, wenn du dich nur erst auf den Weg machst!