ahavta+ beleuchtet „orthodoxes Judentum“
So sehen sie aus, „orthodoxe Juden“. Jedoch – nicht alle orthodoxen Juden sehen so aus. Diese beiden Tatsachen führen zu nahezu unendlichen Missverständnissen.
Im Radio-Gespräch geht es eingangs um die Frage, „warum … Juden so selten heimisch und solange nicht aufgenommen (wurden) in ihren Gemeinschaften in den Völkern“? Rabbiner Homolka verweist dazu auf die „Abgrenzung“, die „durch den Antijudaismus des Christentums entstanden“ ist. Der Fragesteller hakt nach und sucht nach Gründen auf Seiten der Juden (Minute 1:08): „Aber zum Mitbürger braucht es immer zwei Seiten, zum Miteinander. Jetzt ist ja klar, Sie sehen sich als erwähltes Volk, als Erlöste des Herrn, so die Bezeichnung, und die Orthodoxen zeigen das Besonderssein ja auch auf besondere Weise mit den Hüten, den Schläfenlocken, den Bärten, den Mänteln. Welchen Anteil hat das vielleicht am Fremdbleiben in den Gemeinschaften andernorts?“
Den merkwürdige Gedanken, Juden würden sich als „Erlöste des Herrn“ betrachten, übergeht Walter Homolka mit Recht. Er verweist darauf: Der orthodoxe „Teil des Judentums macht vielleicht mal 10% aus. 90% der Jüdinnen und Juden weltweit sehen aus wie du und ich.“
Das Zahlenverhältnis stimmt vielleicht, jedoch nur dann, wenn man sich wie Homolka auf die schwarzgekleideten Hutträger konzentriert. Aber es stimmt nicht, dass 90% der Juden sich äußerlich nicht von Nichtjuden unterscheiden. In der letzten Ausgabe des Newsletter hatte ich gerade erst berichtet, dass ein junger Jude krankenhausreif geschlagen wurde – seine ihn unterscheidende und als Jude erkennbar machende Kippa war der Auslöser.
Vom Zahlenverhältnis rückt Rabbiner Homolka dann selber ab, wenn er die orthodoxen Juden mit einer täuferisch-protestantischen Glaubensgemeinschaft in Analogie setzt: „Es gibt bei den Christen auch die Amischen, die sind ja auch nicht unbedingt repräsentativ für alle christlichen Gruppierungen.“ Das sind sie schon deshalb nicht, weil die Amish-People ausschließlich in den USA und Ontario leben und ihre Zahl gerade einmal 300.000 Menschen beträgt. Mit dem Vergleich wird Homolka den orthodoxen Juden also nicht gerecht, zahlenmäßig ebenso wenig wie inhaltlich.
Um diesen letzten Punkt – was „orthodoxes“ Judentum letztlich bedeutet – soll es im Weiteren gehen. Zur Veranschaulichung nehme ich das Bild eines weiteren Trägers einer Kippa, das Foto vom Treffen des israelischen Ministerpräsidenten Naftali Bennett mit US-Präsident Joe Biden am Freitag.
Der israelische Regierungschef trägt eine Kippa, weil er religiöser Jude ist. Wenn man ihn nach der „Richtung“ seines Judentums fragen würde, würde er vielleicht kurz stutzen, dann sagen, er sei dati (hebräisch: religiös), einfach ein praktizierender Jude, der die Gebote der Tora befolgt.
Bei seinem ersten Besuch in Washington als Premierminister hatte Naftali Bennett nicht vor, über den Schabbat zu bleiben. Aufgrund des tragischen Terroranschlags in Afghanistan musste das Treffen jedoch auf den Freitag verschoben werden, und es wurden schnell Vorkehrungen getroffen, damit er den Schabbat in seinem Hotel verbringen konnte. Aufgrund der COVID-19-Beschränkungen konnten der Ministerpräsident und seine Mitarbeiter nämlich das Hotel nicht verlassen, um eine Synagoge zu besuchen. Es wurde jedoch eine Lösung gefunden.
Mit Hilfe der israelischen Botschaft und „orthodoxer“ Juden in Washington DC wurde eines der Hotelzimmer in eine provisorische Synagoge umgewandelt, die mit einer Tora-Rolle und einer Lade ausgestattet war.
Naftali Bennett ist kein „orthodoxer“ Jude. Aber unterscheidet ihn etwas im Tun der Gebote von Orthodoxen?
Die Bezeichnung „orthodoxes Judentum“ kam in Deutschland im 19. Jahrhundert auf als Abgrenzung zum neu entstehenden Reformjudentum. Von Anfang an war sie falsch, denn „orthodox“ heißt „der rechten Lehre folgend“. Die Gebote der Tora sind jedoch keine Lehre, sondern wollen getan werden. Daher sagen manche, besser spräche man von „orthopraxen“ Juden, von die Tora befolgenden Juden. Heute benutzen „orthodoxe Juden“ den Begriff aber längst als Eigenbezeichnung.
In seinem Wort zum Schabbat am Freitag wies Rabbiner Dr. Walter Rothschild darauf hin, dass es in 5. Mose 28 in der Unterscheidung von Segen und Fluch über dem Volk Israel darum geht, ob „du gehorchest der Stimme von HaSchem, deines Gottes, zu beobachten, auszuüben all seine Gebote, die ich dir heute gebiete,“ (Vers 1) oder ob „du nicht gehorchest der Stimme von HaSchem, deines Gottes, zu beobachten, auszuüben all seine Gebote und Satzungen, die ich dir heute gebiete“.
Bis zum Entstehen eines Reformjudentums war dies die gemeinsame Klammer um jedes Jude-Sein: Alle Gebote der Tora sind zu beobachten – jedenfalls soweit sie ausgeübt werden können. Nicht befolgt werden können zum Beispiel die Gebote für den nicht mehr bestehenden Tempel in Jerusalem oder in der Diaspora die Gebote, die nur das Land Israel betreffen.
Die Online-Enzyklopädie Wikipedia beschreibt die „Basis des orthodoxen Judentums“:
Das orthodoxe Judentum orientiert sich an der schriftlich und mündlich überlieferten Lehre, die in der Tora und dem Talmud niedergeschrieben ist. Es entwickelt diese Grundlagen in den nachfolgenden Werken des rabbinischen Judentums bis heute weiter. Die ganze Tora gilt im orthodoxen Judentum als maßgebendes Wort Gottes, das aber in der Zeit in seiner Auslegung entwickelt und zunehmend entfaltet wird. Die Autorität der Tora ist prägend für das orthodoxe jüdische Leben, welches als ein ganzheitlicher Gottesdienst verstanden wird.
Insofern gibt es ein „orthodoxes Judentum“ in dessen Selbstverständnis mindestens seit dem Beginn des rabbinischen Judentums, der üblicherweise mit der Neuorientierung nach der Zerstörung des Tempels im Jahre 70 angesetzt wird. Andersherum ausgedrückt: Das allgemeine, das „normative“ Judentum enthielt schon immer das „orthodoxe Judentum“ – oder war mit ihm identisch.
Ein Dissens entstand erst mit dem Aufkommen eines „liberalen“ Judentums, das die generelle Gültigkeit aller Gebote als Weisung vom Sinai abgelegt hat.
Seitdem gibt es auch eine Polemik des liberalen Judentums gegen die Orthodoxie. Sie wird in dem Radio-Gespräch mit Rabbiner Homolka besonders sichtbar.
Der Interviewer Norbert Joa sagt (Minute 11:03): „Wir müssen noch mal erklären „liberal“ und „orthodox“, also Begriffserklärung. Bei den Orthodoxen heißt es, in der Tora ist alles offenbart. Seit Jahrtausenden steht fest: Nichts mehr ist zu ändern und auch nichts auszulegen für die neue Zeit. Die Liturgie ist fix. Kein Schabbat-Gottesdienst, habe ich gelernt, unter 3 Stunden – bei Ihnen gern auch mal in einer. Und Mann und Frau bei den Orthodoxen klassisch ungleich. Bei Ihnen ist aber Wandel in vielerlei Hinsicht möglich“.
Rabbiner Walter Homolka korrigiert hier zwar etwas, indem er sagt: „Das orthodoxe Judentum ist nicht ganz so starr, wie Sie es jetzt beschrieben haben“, wiederholt aber doch den entscheidenden Punkt: „In der Tat gibt es da einige Unterschiede zum liberalen Judentum, und die sind wesentlich in der Frage begründet, ob man an einem bestimmten historischen Punkt stehen bleibt und sich nicht mehr verändert, oder ob diese Veränderung eben über die Generationen weiter möglich ist.“
Diese Sichtweise deckt sich mit derjenigen vieler Christen auf das Judentum: Dieses sei irgendwann „stehengeblieben“ und verändere sich nicht mehr. Für viele ist genau das die Definition orthodoxen Judentums. Sie ist grundfalsch.
Um diese Ausgabe von ahavta+ nicht zu lang werden zu lassen, sollen die Begründung dieser Aussage und die Korrektur der falschen Definition in der nächsten Woche folgen.
Bis dahin wünsche ich dir eine gute Zeit und zunächst einen schönen Sonntag.
Herzlich, Dein Ricklef