ahavta+ beobachtet eine Mutation
Bereits im siebten Jahr lädt das Jewish Amsterdam Chamber Ensemble am heutigen Sonntag, um 20:15 Uhr, zum Chanukka-Konzert mit Rabbiner Israel Nachman aus Safed (Israel) in das Amsterdamer Concertgebouw ein – in diesem Jahr ohne Publikum, dafür jedoch online als Stream bei YouTube:
Allerdings fehlen die Einnahmen aus den nicht verkauften Konzertkarten. Daher bittet der Veranstalter, die Jewish Music Concerts Foundation, dringlich um Spenden mit dem Ziel, wenigstens 3.600 € einzuwerben, die das Minimum zur Kostendeckung sind.
Hier schon mal ein Vorgeschmack, was dich heute Abend erwartet (0:33 min):
Klassische Formen der Judenfeindschaft sind der Israelhass, die Leugnung des Holocaust oder die Propaganda, Juden hätten sich verschworen, „die Gehirne der Menschen durch Kunst, Medien und Musik“ zu kontrollieren. Äußerungen in diese drei Richtungen wurden in den vergangenen Jahren von Journalisten der Deutschen Welle, der Auslandsrundfunkanstalt der Bundesrepublik Deutschland, getätigt. Sogar der Leiter eines Korrespondentenbüros der DW gehörte dazu. Das hat die Süddeutsche Zeitung am Dienstag aufgedeckt:
In der Novemberausgabe der „zeitzeichen. Evangelische Kommentare zu Religion und Gesellschaft“ erschien ein Beitrag von Philipp Gessler, Redakteur der taz für Religion und Gesellschaft sowie „Zeitfragen“ sowie Redakteur und „Religionen“-Moderator von Deutschlandradio Kultur, unter dem Titel Nicht nur über die Mütter. „Vaterjuden“ sollten als vollwertige Juden anerkannt werden.
Rabbiner Jehoschua Ahrens, den Lesern von ahavta+ bekannt durch sein regelmäßiges „Wort zum Schabbat“, reagierte darauf am 18. November mit einem „Einspruch“ in der Jüdischen Allgemeinen:
Für das evangelische Magazin ist unsere Definition, wer Jude ist, einfach nur »vormodern« und »rein biologistisch und traditionell gedacht«, sie widerspreche »dem heutigen Leben und einer kulturell-familiären Interpretation des Judentums, die in einer zunehmend säkularen jüdischen Gemeinschaft immer wichtiger wird«. Jüdisches Selbstverständnis wird hier also pauschal als anachronistische Gesetzesstarrigkeit abgetan.
Wir Juden sollen weniger andersartig sein, das wäre doch auch gut für uns. Die Ursache allen Übels ist natürlich auch ausgemacht, denn man solle vor allem nicht »ängstlich auf orthodoxe Gruppen in Deutschland oder Israel schielen«. Die Zeitschrift weiß scheinbar nicht, dass es bei uns einen strömungsübergreifenden Grundkonsens zur jüdischen Statusfrage gibt.
Sind wir Juden also anachronistische Fundis, weil wir Traditionen halten, mit denen wir die letzten drei Jahrtausende gut gefahren sind? Nein, Christen sollten wirklich nicht versuchen, das Judentum zu »verbessern« – was wir machen und wie, das entscheiden wir schon selbst.
Der Vorwurf gegenüber Juden, sie seien gesetzlich und erstarrt in überholten mittelalterlichen Vorschriften ist zwar nicht neu. Neu jedoch ist dieser Anwurf in einer Zeit, die Geschlechtergleichheit propagiert und Sprachbesonderheiten durch Gendervorschriften nivelliert, in einer Zeit, die Gleichheit der Kulturen zur Ideologie erhebt und die jeden Sinn für die Bedeutung der klassischen Religionen preisgegeben und dafür ihre Weltlichkeit zur Religion erhoben hat.
Juden, jedenfalls solange sie ihre religiöse Tradition leben wollen, passen nicht in diese Zeit. Und das werden sie von nun an zunehmend zu spüren bekommen. Das Verbot koscherer Schlachtung in mehreren europäischen Ländern nach EU-Maßgabe und die Einordnung der Beschneidung jüdischer Söhne als Kindesmisshandlung sind der Anfang.
Diese neue Gestalt der Judenfeindschaft fällt den meisten Menschen in Deutschland noch gar nicht auf. Denn „erlaubt“ ist vorläufig noch das liberale Judentum, das sich geschmeidig genug an die Anforderungen der neuen Moderne anzupassen weiß. Zwar ist dieses zahlenmäßig im der Minderheit, vermag sich aber mit der Hilfe nichtjüdischer „Dialogpartner“, Medienvertretern wie Philipp Gessler und nicht zuletzt großzügiger staatlicher Subventionen und Förderprogramme im allgemeinen Bewusstsein bereits als die legitime Neuauflage überholten und unzeitgemäßen „Tora-Judentums“ darzustellen.
Um nicht missverstanden zu werden: Ich kritisiere nicht ein liberales Judentum. Dieses ist eine großartige kulturelle Hervorbringung des deutschen Sprachraums. Ich kritisiere lediglich, dass von nichtjüdischer Seite dieses Judentum als das angenehme und in die Zeit passende deklariert und gefördert wird und Vertreter des liberalen Judentums in Deutschland diesen Ball recht gerne auffangen und weiterspielen.
So meinte der genannte Journalist der zeitzeichen in einem Telefonat, dass er es doch nur gut mit den Juden meine, wenn er ihnen wohlmeinende Ratschläge, sich doch endlich zu modernisieren, erteilt. und er berief sich dabei ausgerechnet auf den Hauptvertreter des liberalen Judentums bei uns.
Wie oft ist der Blick von außen klarer. In SAPIR, einem jungen amerikanischen „Journal of Jewish Conversations“ veröffentlichte die schwedische Journalistin und politische Aktivistin Annika Hernroth-Rothstein in diesem Herbst einen pessimistisch anmutenden Beitrag über die Lage der europäischen Judenheit, der mit den Worten beginnt:
Eines Tages werden wir über die Gegenwart – so schlimm sie auch ist – wie über die gute alte Zeit sprechen.
Hernroth-Rothstein zitiert zunächst aus der jüngsten Studie über die Wahrnehmung von Antisemitismus unter europäischen Juden, die 2018 von der EU-Agentur für Grundrechte veröffentlicht wurde:
Von den mehr als 16.000 Befragten waren 89 Prozent der Meinung, dass der Antisemitismus in ihrem Land in den letzten fünf Jahren zugenommen hat. 85 Prozent der Befragten hielten ihn für ein "sehr großes" oder "ziemlich großes" Problem in ihrem Land und sahen ihn tendenziell als "größtes soziales oder politisches Problem" in ihrem Heimatland. Sie erlebten Antisemitismus im Internet (89 Prozent), im öffentlichen Raum (73 Prozent), in den Medien (71 Prozent) und im politischen Leben (70 Prozent). Achtundzwanzig Prozent wurden im vergangenen Jahr in irgendeiner Form antisemitisch belästigt, und zwei Prozent wurden körperlich angegriffen; mehr als ein Drittel hat aus Sicherheitsbedenken jüdische Veranstaltungen gemieden. Ganze 38 Prozent hatten in den letzten fünf Jahren schon einmal daran gedacht auszuwandern.
Sie schlussfolgert:
Die europäischen Juden leben in Angst und in gewissem Maße auch im Verborgenen. Sie trauen ihren Regierungen nicht zu, sie zu schützen. In den 76 Jahren seit dem Holocaust ist der Judenhass in Europa wieder politisch opportun und gesellschaftsfähig geworden. Es wurde eine klare Linie gezogen: Die toten Juden der Vergangenheit sind gut, während diejenigen, die darauf bestehen, am Leben zu bleiben und jüdisch zu bleiben – insbesondere diejenigen, die den Staat Israel unterstützen, böse sind.
Anschließend stellt sie die These auf:
In Europa ist jüdische Observanz (also ein jüdisches Leben nach den Geboten der Tora) daher ein Akt der Rebellion. (…)
Und sie begründet:
Wenn wir zu jüdisch sind, müssen wir damit rechnen, angegriffen zu werden; wenn wir aber unsere Identität abschwächen und uns assimilieren, werden wir in Ruhe gelassen. (…)
Die ironische Dualität des Antisemitismus ist nirgendwo deutlicher als in Europa: Sie wollen nicht, dass wir zu ihnen gehören, aber sie nehmen uns übel, dass wir uns weigern, uns zu assimilieren. Dass wir nicht bereit sind, unsere jahrtausendealte Identität, unseren Glauben und unsere Traditionen durch moderne Dogmen zu ersetzen, ist für die europäische Gesellschaft ein Beweis für Ruchlosigkeit, die allzu oft mit dem Tod bestraft wird.
(Die Hervorhebungen stammen von mir.)
Anschließend dreht sie den Spieß um und deklariert das als schlimmen eigenen Verlust Europas, was dieses den Juden vorwirft, jedenfalls soweit diese wie Annika Hernroth-Rothstein „als gläubige Jüdin, als Zionistin, als Tochter Abrahams aufrecht stehen“ wollen und sich nicht in die Gleichheitsideologie der Gegenwart einzupassen bereit sind:
Die Lektion Europas wird in den kommenden Jahren und Jahrzehnten immer wieder geschrieben werden, aber im Grunde ist sie ganz einfach: Ohne Glauben kann man keine Nation aufbauen, und ohne Tradition kann man sie nicht am Leben erhalten.
Ständig für seine Identität zu kämpfen, bedeutet, seine Identität ständig zu bekräftigen - etwas, was Europa schon sehr lange nicht mehr tut. Juden verkörpern all das, was Europa fehlt: Glaube, Identität, Tradition, Nationalismus und Überleben. (…)
Irgendwann nach dem Zweiten Weltkrieg hat Europa beschlossen, dass Religion, Nationalstaaten und partikulare Identitäten der Feind des Friedens sind. Als Juden sind wir Überbleibsel der alten, fast vergessenen Teile Europas, und so ist es nur logisch, dass wir als Staatsfeinde behandelt werden.
Ein zweiter Zeuge für die neue Mutation des Antisemitismus ist der französische Philosoph Alain Finkielkraut. Im Interview mit der NZZ vom 1.11.2021 zeichnet er ein ebenso düsteres Bild von der europäischen Zivilisation wie Annika Hernroth-Rothstein. Die Cancel-Culture breite sich aus, die eigene Kultur werde verleugnet und die Gesellschaft sei durchdrungen vom Wunsch, nichts mehr zu sein, um niemanden zu verletzen. Und Opfer seien die Juden, die auf ihrer Religion beharren. Und genau deshalb nehme die Feindschaft ihnen gegenüber zu.
Die Wurzel der Gleichheitskultur sieht Finkielkraut in der Geschichte:
Seit Ende des Zweiten Weltkrieges gibt es in Europa eine Art schlechtes Gewissen, das zum Grundsatz führte: «Nie wieder.» Dazu kam die Einsicht, dass die europäische Zivilisation das Grauen hervorgebracht hat, Hitler letztlich ein Produkt einer Hochkultur war. Mit der verfluchten Vergangenheit wollte man also brechen und anstelle der europäischen Zivilisation eine europäische Konstruktion aus Normen und Werten schaffen.
Diese Werte beruhten auf dem künftigen Verzicht auf Identität:
Um für die Verbrechen der Grosseltern zu büssen, hat man die Gastfreundschaft im grossen Stil eingeführt. Die Exzesse davon kann man in Schweden sehen. Malmö ist heute eine «judenfreie» Stadt. In ganz Europa zeigt sich eine Libanisierung, die letztlich ein Resultat dieses Reueempfindens ist.
Das Auffällige und für Juden fatale ist, dass sich das Lernen aus der Holocaust-Geschichte, das heute sogar von manchen stolz verkündet wird, sich im Ergebnis wieder gegen Juden richtet, jedenfalls soweit sie sozusagen störrisch auf ihrer spezifisch eigenen Identität beharren. Finkielkraut meint, das dies für Juden nicht gut ausginge:
In fünf Jahren könnte es in einigen Vierteln von Paris ähnlich (wie in Malmö) sein. In Seine-Saint-Denis sind Juden nicht willkommen. Einige von ihnen verlassen die Gemeinden und ziehen in Pariser Stadtteile, in denen sie besser akzeptiert werden. Immer mehr jüdische Eltern ziehen ihre Kinder von öffentlichen Schulen ab, um sie in Privatschulen und manchmal auch in katholischen Schulen unterzubringen. Dies hängt zum einen an dem Verfall der Standards – in vierzig Jahren verrückter Gleichmacherei haben wir den Sinn für Wettbewerb und Anspruch aufgegeben. Es liegt aber auch am Antisemitismus. Wer einen Davidstern trägt, versteckt ihn.
Juden beginnen erneut, nicht in unsere Zeit zu passen. Dies sollte uns zum Nachdenken bringen. Wir haben eine klare Alternative. Entweder werden Juden, die jüdisch leben wollen, keinen Platz mehr bei uns haben – oder wir fangen an, die Normen und Werte unserer Gegenwart zu hinterfragen und zu ändern.
Du und ich, wir werden gewiss die zweite Möglichkeit vorziehen. Aber ihre Verwirklichung wäre das erste Mal in der Geschichte, dass Juden nicht zum Opfer und Sündenbock der gerade herrschenden Ideologie gemacht werden.
Ich bedauere, dir zum Lichterfest der Freiheit und zum zweiten Advent keine leichtere Kost und keine froheren Gedanken übermittelt zu haben. Doch es gelingt mir nicht, das Wetterleuchten am Horizont zu übersehen.
Ich wünsche dir gleichwohl Chag Orim sameach und einen schönen Adventssonntag und grüße dich
herzlich, Dein Ricklef