ahavta+ besucht Marokko
Mittwoch landete Jair Lapid in Marokko. Es war der erste Besuch eines israelischen Außenministers seit 22 Jahren. Mit ihm baut Israel auf den Vereinbarungen auf, die der amerikanische Präsident Donald Trump im vergangenen Dezember als Teil der „Abraham-Abkommen“ verkündet hatte: Marokko erklärt sich bereit, volle diplomatische Beziehungen zu Israel aufzunehmen und die USA erkennen im Gegenzug das umstrittene Gebiet Westsahara als Teil Marokkos an.
Da die Biden-Administration entschieden hatte, nicht dahinter zurückgehen zu wollen, konnten nun die nächsten Schritte beschlossen werden:
Zwischen Tel Aviv und Casablanca wurden Direktflüge aufgenommen und sollen in einigen Monaten täglich angeboten werden.
Marokkos militärische Antiterroreinheit hat ein Team nach Israel entsandt, um an einer internationalen Übung teilzunehmen - das erste Mal seit mehr als 20 Jahren, dass marokkanische Soldaten in Israel waren.
Die israelische und die marokkanische Cyberverteidigung haben eine Kooperation vereinbart.
Am Donnerstag eröffnete Lapid die offizielle israelische Vertretung. Als Nächstes führen Israel und Marokko Gespräche über die Umwandlung der diplomatischen Verbindungsbüros in Tel Aviv und Rabat in offizielle Botschaften.
Wie in vielen Ländern des Nahen Ostens findet sich auch in Marokko eine alte jüdische Kultur, die vermutlich bis in die Zeit des Zweiten Tempels zurückreicht. Mit der Ankunft der Araber erlebten die Juden zunächst eine Phase der relativen Freiheit. Nach dem islamischen Recht hatten sie als nicht-muslimische Anhänger einer „Buchreligion“ die Möglichkeit, sich in die Obhut des Sultans zu begeben, wenn sie die Oberherrschaft des Islam anerkannten und eine Schutzsteuer, die Djizya, zahlten. Im Gegenzug durften sie als Dhimmi (arab. Schutzbefohlener) ihr Gemeindeleben religiös und juristisch selbst organisieren. Ihre Alternative war, entweder freiwillig zum Islam überzutreten, oder aber ohne Status zu bleiben, was nicht empfehlenswert war.
Der Status des Dhimmi war genau kodifiziert und beinhaltete eine Reihe von Verboten. So durfte sich ein Jude nicht abfällig über den Islam oder den Propheten äußern, keine Muslime bekehren, keine Muslimin heiraten, keine Waffen tragen und vieles andere nicht. Eine Missachtung dieser Verbote konnte mit dem Tod bestraft werden. Weniger streng durchgesetzte und geahndete Verbote bestanden darin, keine Kleider tragen zu dürfen, die sie als Muslime erscheinen ließen, keine Gotteshäuser zu bauen, die höher waren als die der Muslime, oder bei der Ausübung ihrer Riten öffentliches Aufsehen zu erregen. Die praktische Anwendung des Dhimmi-Schutzes fiel im Laufe der Geschichte unterschiedlich aus, je nach der Gesinnung der Herrschenden, der Stabilität der politischen Lage oder dem Anteil der jüdischen Bevölkerung.
Die Vertreibung der Juden aus Spanien 1492 brachte viele von ihnen nach Tanger, Tetuan, Fès und Meknès im Norden Marokkos sowie nach Rabat und Mogador (heute Essaouira) an der Atlantikküste. Die massive Einwanderung führte zu sozialen Spannungen, die man teils abfederte, indem man den Juden abgeschlossene Viertel zuwies: Das erste Mellah, die Entsprechung des späteren europäischen Ghettos, entstand 1438 in Fès.
Im 16. und 17. Jahrhundert bildet sich unter den marokkanischen Juden eine erste kleine Elite von Händlern und Handwerkern heraus, die sich vor allem als Juweliere, Weinbauern und im Handel mit Edelsteinen betätigten. Einige waren sogar Bankiers und durften sich offiziell „Händler des Sultans“ nennen.
Im 19. Jahrhundert stiegen jüdische Eliten in der marokkanischen Gesellschaft weiter auf: Sie spielten eine bedeutende Rolle im internationalen Handel, insbesondere mit England, und übernahmen sogar diplomatische Ämter.
In der Zeit bis zum Zweiten Weltkrieg ließen sich zahlreiche Juden aus Algerien und Tunesien, sogar aus dem Nahen Osten und Europa, in Marokko nieder. Die meisten zog es in die prosperierenden Städte wie Casablanca, Rabat und Marrakesch. Während es 1900 etwa 100.000 Juden in Marokko gab, stieg ihre Zahl auf 225.000 im Jahre 1939 und 300.000 im Jahre 1948, was ca. 4% der Gesamtbevölkerung ausmachte. In Essaouira war die jüdisch-marokkanische Bevölkerung im 19. Jahrhundert sogar zahlenmäßig größer als die muslimische. Marokko war die größte jüdische Diaspora in der muslimischen Welt.
Mit der Gründung des Staates Israel und vor allem nach der marokkanischen Unabhängigkeit 1956 verliessen Zehntausende das Land. Für Marokko wurde der Exodus zum Geschäft. In der „Operation Jachin“, organisiert vom israelischen Geheimdienst Mossad zwischen 1961 und 1964, wurde die Ausreise von etwa 97.000 Juden aus Casablanca und Tanger nach Frankreich und Italien vereinbart. Israel liess sich das etwas kosten. Für die ersten 50.000 emigrierenden Juden entrichtete Jerusalem auf Geheiss von David Ben Gurion an König Hassen II. eine Sofortzahlung von einer halben Million Dollar, danach gab es für jeden Emigranten 250 Dollar.
Mitte der 1970er Jahre zählte die Gemeinschaft nur noch 20.000 Mitglieder und heute 3.000 Juden – im Vergleich zu Ägypten mit etwa 20 verbliebenen Juden ist das immer noch viel.
Unter König Hassan II., der bis Juli 1999 regierte, keimte immer wieder Hoffnung auf. Es entstanden wirtschaftliche Kontakte mit Israel. Im Freihafen von Tanger wurden Güter aus Israel neu etikettiert und umgeladen für den Export in muslimische Länder, die zwar gerne israelische Produkte kaufen, aber auf Diskretion Wert legen. Ab 1994 gab es „Verbindungsbüros“, die aber 2000 mit dem Beginn der zweiten Intifada wieder geschlossen wurden.
Im Jahr 2011 verabschiedete Marokko unter König Mohammed VI. (seine Privatlehrer als Jugendlicher waren vornehmlich Juden) eine neue Verfassung. Mit dieser ist das Königreich das erste arabisch-muslimische Land, das die jüdische Kultur als grundlegendes Element seines multikulturellen Erbes und Fundament seiner gegenwärtigen Identität anerkennt.
Wie hoch das Ansehen von König Hassan II. war, zeigt die Reaktion auf seinen Tod 1999: Die marokkanische Gemeinschaft in Israel rief damals eine siebentägige Trauerzeit aus. Dass sie der früheren Heimat verbunden ist, liegt auch daran, dass die ersten Jahre in Israel eine schwierige Zeit für viele marokkanische Juden waren. Weil sehr viele Einwanderer und Flüchtlinge aus der arabischen Welt nach Israel kamen, war das Land überfordert. Die Lebensbedingungen der „Misrachim“, wie die orientalischen Juden genannt werden, waren katastrophal. Sie waren bis in die siebziger Jahre „Bürger zweiter Klasse“, galten als ungehobelte Zeitgenossen.
In Israel leben heute rund 700.000 Juden mit marokkanischen Wurzeln. Ihr Frühlingsfest Mimuna im Anschluss an Pessach ist inzwischen offizieller Feiertag in Israel. Der Ursprung dieses Festes ist unbekannt, wird jedoch zumeist mit dem Jahrestag des Todes des Rabbi Maimon Ben Abraham, des Vaters des großen mittelalterlichen Rabbi Moses Maimonides (bekannt als Rambam) in Zusammenhang gebracht.
Neta Elkayam gehört zu den Tausenden von marokkanischen Juden, die in Israel leben und an marokkanischen Bräuchen und Traditionen festhalten. Die Sängerin sagt, sie sei „besessen“ von authentischer marokkanischer Kunst, vor allem von sakraler Musik. Sie habe „Heimweh“ und vermisse die Vielfalt der marokkanischen Naturlandschaften wie die der Sahara, die sie als Teil ihrer Identität betrachtet. Elkayams Lieder in marokkanischem Arabisch werden in Israel immer beliebter.
Ihr Lied Muima basiert auf einem Gedicht von Mosche Ben Hamu. Es ist eine kritische Anspielung auf das Verlassen der Mutter als Allegorie auf das Vergessen der Muttersprache und der Schätze der Vergangenheit.
Noch einmal kommt ahavta+ auf den Israelsonntag am 8. August zurück. Für den Band Denkskizzen 4. Zu den Predigttexten der sechs Perikopenreihen, hrsg. von Alexander Deeg hat Rabbiner Dr. Jehoschua Ahrens den Text Matthäus 5,17-20 bearbeitet:
Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen. Denn wahrlich, ich sage euch: Bis Himmel und Erde vergehen, wird nicht vergehen der kleinste Buchstabe noch ein Tüpfelchen vom Gesetz, bis es alles geschieht. Wer nun eines von diesen kleinsten Geboten auflöst und lehrt die Leute so, der wird der Kleinste heißen im Himmelreich; wer es aber tut und lehrt, der wird groß heißen im Himmelreich.
Denn ich sage euch: Wenn eure Gerechtigkeit nicht besser ist als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen.
Rabbiner Ahrens bestätigt durch seine sehr lesenswerten Erläuterungen die Feststellung von Frank Crüsemann:
Jeder theologische Weg, der an der Tora vorbeiführt, verlässt damit auch das Neue Testament.
ahavta+ dankt Jehoschua Ahrens für die Erlaubnis, den Text mit dir zu teilen.
Einen schönen Sonntag wünscht dir
herzlich, Dein Ricklef