ahavta+ bringt dir zwei große Beter im Judentum nahe
Im Staat Israel bilden sämtliche religiösen Richtungen neben den orthodoxen, chassidischen und vor allem den generell traditionsgebundenen Juden eine kleine Minderheit – die noch kleiner wird, wenn man als Gruppe auch die säkular lebenden Juden einbezieht. In den USA mit seinen europäischen Wurzeln und auch in Europa selbst ist es etwas anders. Aber Zahlen und Größenverhältnisse lassen sich nicht nennen, da die nicht an die rabbinische Tora-Tradition gebundenen Strömungen sich wiederum in zahlreiche Gruppen auffächern.
In seinem von mir empfohlenen Buch 99 Fragen zum Judentum beschreibt Rabbiner Dr. Walter Rothschild alle genannten Richtungen unter seiner Antwort auf Frage 42. Daher gebe ich ihm hier das Wort (und du erhältst zugleich einen Eindruck von der Art der Rabbinerantworten auf sicherlich auch deine Fragen).
Die jüdische Gemeinde ist in viele verschiedene Strömungen oder Meinungen unterteilt - ein alter Witz besagt, »Wo zwei Juden zusammen sind, wird man drei Meinungen finden«. Gewöhnlich werden diese Etiketten von einer Gruppe selbst verwendet, um sich von anderen zu unterscheiden, manchmal wird der Ausdruck von Außenstehenden gebraucht, um eine Gruppe zu definieren. Es hat viele Versuche gegeben, zentrale vereinigte Strukturen zu schaffen, aber die meisten sind zum Scheitern verurteilt.
In dieser kurzen Einführung kann nur ein oberflächlicher Abriss gegeben werden: aber einige dieser Gruppen können wie folgt definiert werden:
Ultraorthodoxes Judentum/Haredi
Orthodoxes Judentum
Neo-orthodoxes Judentum
Konservatives Judentum
Reformjudentum
Liberales/progressives Judentum
Rekonstruktionismus
Säkulares (weltliches) Judentum
Humanistisches Judentum
Die dargelegte Reihenfolge ist grob in der Ordnung vom extremen Fundamentalismus zur extremen Nichtübereinstimmung mit der fundamentalistischen Lehre. In der Tat gibt es viel Überlappung zwischen all diesen Kategorien, und was folgt, ist in keiner Weise vollständig – kann aber für diejenigen hilfreich sein, die keine Vorstellung davon haben, wie man auch nur anfängt, diese Bezeichnungen zu verstehen.
Der »klischeehafte Jude« mit tiefschwarzem Hut und langen Schläfenlocken ist jemand, der sein ganzes Leben lang gemäß der strengsten Auslegung der Regeln für ein jüdisches Leben lebt. Solch eine Auslegung erfordert, dass man normalerweise zumindest einen großen Teil seines Lebens in einer »geschlossenen Gemeinde« lebt, umgeben von Menschen, die auf dieselbe Weise denken, essen, beten und arbeiten. Dies würde normalerweise von ihren Gegnern als ultraorthodox eingeordnet – obwohl sie selbst natürlich eine positivere Beschreibung vorziehen würden, wie zum Beispiel »Tora-getreu«. Der Ausdruck »Haredi« kommt von einem hebräischen Bibelwort, das »zittern« oder »schütteln« bedeutet.
Der Ausdruck orthodox ist ironischerweise griechischen Ursprungs und bedeutet »rechtgläubig«. Der Ausdruck ist erst seit dem Ende des 18. Jahrhunderts gebraucht worden, da dieses Konzept tatsächlich als Reaktion gegen diejenigen Juden entwickelt worden war, die so sehr von der Aufklärung überzeugt waren, dass sie bereit waren, große Teile der Tradition als überholt zu verändern oder gar abzuschaffen.
Modern orthodox beschreibt den von vielen Juden unternommenen Versuch, ihre traditionellen Wertvorstellungen mit moderner Technik und modernem Lebensstil zu verbinden. Das konservative Judentum entstammt auch einer wohlerwogenen Synthese zwischen uralt und modern und versucht, eine mittlere Linie zwischen sklavischem Gehorsam gegenüber der Tradition und der Kenntnis der Bedürfnisse des zeitgenössischen Lebens zu ziehen.
Oftmals sind Reformjudentum, liberal und progressiv austauschbare Ausdrücke, einfach weil das Umherziehen der Juden während des vergangenen Jahrhunderts dazu führte, dass Synagogen und Gemeinden in einem bestimmten Land einen dieser Namen anstelle des anderen angenommen haben. Für Historiker und Liturgen sind die Unterschiede wichtig, aber nicht für den Zweck dieser kurzen Einführung. Diese sind Antworten auf die Moderne und auf die Wertvorstellungen der Aufklärung und wurden im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert entwickelt, um zu versuchen, das Judentum aus der Ghetto-Mentalität herauszubringen, in die es in Europa hineingezwungen worden war, und um einige der besseren Ideen der umgebenden Kultur aufzunehmen: die liberalen Wertvorstellungen, den Universalismus, die Konzepte der Gleichheit für alle einschließlich der Frauen, die Notwendigkeit des Verständnisses der Gebete und Predigten (indem sie in einer Sprache gehalten werden, die vom Gottesdienstbesucher verstanden werden konnte), die Kürzung der Länge der Gottesdienste, die Anpassung an die moderne Technik bezüglich der Befolgung des Sabbats, das Aufgeben »doppelter« Feiertage usw.
Der Rekonstruktionismus ist eine Bewegung, die in Amerika begann, und zwar als eine bewusste Anpassung und Zuweisung von Vorrang der jüdischen Kultur und Traditionen gegenüber der Religion. Schon der Name zeigt ein Verlangen an, die älteren religiösen Formen zu »rekonstruieren«.
Humanistische und säkulare Juden sind diejenigen, die vielleicht keinen strengen religiösen Glauben haben, aber einen starken Sinn für ihre jüdische Identität bewahren, und zwar auf weltlichen Wertvorstellungen von sozialer Gerechtigkeit beruhend. Einige sind tatsächlich in »Humanistischen Synagogen« organisiert, andere haben ein distanzierteres Verhältnis zur jüdischen Gemeinde.
Es sollte hervorgehoben werden, dass kein Jude in eine dieser Kategorien hineingezwungen wird, und es wird auch kein Jude gezwungen, in einer zu bleiben – die Menschen wachsen auf und ändern sich, sie ziehen in neue Wohnorte, wo eine andere Art von Gemeinschaft besteht, oder sie leben in einer Stadt, wo nur eine Art von Synagoge zur Verfügung steht. Oder – nun, die Menschen ändern sich – und ihr Glaube und dessen Ausübung ändern sich oft mit ihnen. Jede dieser Gruppen ist natürlich überzeugt, dass sie die beste und anständigste und praktikabelste oder sachdienlichste Philosophie vertritt, um die jüdische Kontinuität zu erhalten – die Wahrheit muss ja sein, dass sie alle einige positive und einige weniger positive Seiten haben und dass niemand ein Monopol hat. Die interne Auseinandersetzung zwischen diesen Gruppen ist manchmal lautstark, aber immer interessant und im Wesentlichen gesund.
David Stromberg, der das Bittgesuch an Gott, das Singer um 1952 in hebräischer liturgischer Sprache auf die Rückseite eines Quittungszettels geschrieben hatte, im Tablet veröffentlicht und ins Englische übersetzt hat, schreibt einleitend dazu:
Im religiösen Juden sieht Singer das Symbol derjenigen, die verstehen, dass Handlungen Konsequenzen haben, und die glauben, dass es eine höhere Macht in der Welt gibt, die will, dass die Menschen gut sind. Wie er in einem anderen Aufsatz schreibt, „symbolisiert der Jude, wie er vom Sohar gesehen wird, die Kräfte des Guten“. Singers Religiosität drückte sich in einer einzigartigen Auffassung von Literatur als mystischer Praxis aus – doch dieses Gebet zeigt ihn trotz seines berühmten Skeptizismus im Alter von fast fünfzig Jahren bei einer persönlichen und spirituellen Bilanz, die seine persönlichen Wurzeln des Glaubens in Worte fasst.
Herr der Welt, erfülle mein Herz mit Liebe für das Volk Israel und mit Ruhe für die Seele. Lass mich den Schöpfer in jedem einzelnen Geschöpf sehen, seine Barmherzigkeit für alles Geschaffene. Es gibt keinen einzigen Wassertropfen und kein Staubkorn, in dem nicht dein Licht ist oder das außerhalb deiner Herrschaft existiert. Es gibt kein Geschöpf ohne seinen Schöpfer. Daher leben alle, die dies wissen, in dauernder Freude.
Ihre Eltern sind nur Körper, die heute hier sind und morgen in ihren Gräbern liegen. All ihre Freunde, all ihre Besitztümer und Ehren sind wie ein vorübergehender Schatten. Sie selbst sind wie vorbeiziehende Wolken, wie der Baum des Jona.
Aber du – du warst seit jeher und wirst ewig sein. Du bist das einzig wahre Wesen, der Grund aller Dinge.
Nur für dich sind alle Probleme gelöst, alle Herausforderungen mühelos. In dir gibt es nichts Hinterhältiges – keine Vergeltung, Ungerechtigkeit oder Schuld.
Das Böse lebt in allen Dingen vorübergehend, nicht in dem, was ewig besteht. Du weißt, warum du das Böse geschaffen hast – und wer sind wir, deine Vollkommenheit in Frage zu stellen?
Wir haben nur einen einzigen Trost in dieser Welt – dass du unser Schöpfer bist und wir die Macht haben, dir mit Freude, Ehrfurcht und Liebe zu dienen, unser ganzes Leben lang – und dass du uns die Fähigkeit gegeben hast, solche Dinge zu verstehen.
Auch wenn wir den Sinn des Lebens nicht kennen oder nicht wissen, warum du uns zu leiden in diese Welt geschickt hast, so verstehen wir doch, dass es unsere Aufgabe ist, aufzubauen und nicht zu zerstören, zu trösten und nicht zu quälen, deinen Geschöpfen Freude zu bringen und nicht Leid.
Es gibt nur eine Freude: die Freude in der Welt zu vermehren und nicht zu vermindern. Suche das Glück, aber nicht auf Kosten deines Nachbarn oder deines Nächsten, denn du bist er und er ist du, Geschwister seid ihr, Kinder Gottes.
Gott, bewahre meine Zunge vor dem Bösen, meine Lippen vor dem Betrug, meinen Geist vor der Sünde. Öffne mein Herz für deine Gebote, lass mein Herz deine Tora suchen, und lass all mein Tun einem höheren Zweck dienen.
Diejenigen, die Gott fürchten, sind die einzigen, die sich nicht gegenseitig verletzen, weder in der Tat noch grundsätzlich. Sie werden niemals Krieg gegeneinander führen, und deshalb sind sie das Symbol des Friedens in der Welt, wie geschrieben steht: „und der Friede eurer Kinder soll wachsen.“
Dieses Tor im Buch von Georg Langer (siehe ahavta+ vom 25. Juli 2021) ist der chassidische Lehrer und Zaddik Rabbi Uri ben Pinchas von Strelisk (1756–1826). Er lebte in Ostgalizien zur Zeit der größten Ausbreitung des Chassidismus. Er war Sohn eines armen Handwerkers in der Stadt Janów und wurde dort Schüler des berühmten Rabbi Schlomo von Karlin. Nachdem dieser 1792 von russischen Soldaten getötet worden war, ließ er sich in Strelisk nieder, hinterließ dort jedoch keine Dynastie von Zaddikim.
Die Strelisker Chassidim waren für ihre Armut und Askese bekannt. Uri betrachtete die Armut als bevorzugte Lebensweise und maß ihr besondere Bedeutung bei.
Uri war bekannt für die lange Dauer seiner Gebete und für deren ekstatischen und leidenschaftlichen Charakter. Deshalb wurde er der Seraph, der brennende Engel, genannt. Auch in seinen Predigten an seine Jünger betonte er die Bedeutung des Gebets, sah er doch im Gebet die Essenz der Aufgabe des Menschen. Er sagte einmal:
Wer hat jemals gesagt, dass man mit ganzem Herzen beten soll? Vielleicht ist es besser, mit einem gebrochenen Herzen zu beten.
Seine Worte wurden von seinem Schüler Seew Schinblum von Lebov in dem Buch Imre Kadosch aufgeschrieben.
Heute ist der sechste Tag des Sukkot-Festes. Um das Gebot, in einer Laubhütte zu sitzen, hat jemand seine Sukka auf dem Balkon seiner Hamburger Wohnung errichtet:
Ich wünsche Jüdinnen und Juden Moadim leSimcha, Tage der Freude, und dir einen gesegneten Sonntag.
Herzlich, Dein Ricklef
PS: Vergiss nicht, deine Wahlstimmen abzugeben und dich anschließend um 17 Uhr zum Gespräch mit Johannes Gerloff „unter dem Feigenbaum“ in der Reihe „Sonntags in Jerusalem“ einzuwählen: