ahavta+ denkt nach über Juden in der Kirche
Jakob Zvi Griner konvertierte als Grzegorz Pawłowski zum Christentum, um sein Leben zu retten. Aus Dankbarkeit, dass Christen ihm geholfen hatten in der Zeit der Judenvernichtung zu überleben, wurde er später selbst Priester. Dennoch empfand er sich stets als Jude: „Ich bin als Jude geboren, ich habe als Christ gelebt und ich werde als Jude sterben“; „mein Herz fühlt sich jüdisch an“.
Zeit seines Lebens nach der Schoa litt er unter dem Gegensatz, einerseits dem jüdischen Volk zuzugehören und andererseits der Kirche zu dienen.
Ich empfinde es als tragisch, dass es diesen Gegensatz gibt. Denn wie kann es sein, dass ein jüdischer Mensch dem Juden Jesus nachfolgt, zugleich aber damit eine Entfremdung von seinem Volk auf sich nehmen muss?
Entfremdung bezeichnet einen individuellen oder gesellschaftlichen Zustand, in dem eine ursprünglich natürliche Beziehung des Menschen aufgehoben, verkehrt, gestört oder zerstört wird. (Wikipedia)
Geschichtlich betrachtet gibt es für die Entfremdung jüdischer Christen von ihrem Volk mannigfaltige Gründe. Sie begann bereits im 1. Jahrhundert und hat im Neuen Testament ihren deutlichen Niederschlag gefunden. Jüdische Christen, die mit anderen Christen aus den Völkern Gemeinschaft pflegten, gerieten in eine Zwickmühle: Entweder fingen sie an, unjüdisch zu leben, indem sie etwa jüdisch nicht erlaubte Speisen zusammen mit den Griechen aßen, und distanzierten sich so von ihrer Vergangenheit – oder sie blieben den Geboten der Tora treu und distanzierten sich damit von ihren Glaubensgeschwistern.
Die Entfremdung erreichte einen schrecklichen Höhepunkt als ab 1941 die Christen jüdischer Herkunft genauso den Judenstern tragen mussten wie die nicht-christlichen Juden. Es geschah selbst in Gemeinden der sogenannten „Bekennenden Kirche“, dass getaufte Juden von ihren Glaubensgeschwister aufgefordert wurden, nicht mehr zum Gottesdienst zu kommen. Hier wurden Judenchristen faktisch aus der Kirche herausgeworfen und in ihrem Judesein alleingelassen.
Juden mit christlichem Glauben, die den Holocaust überleben konnten, wurden anschließend nicht als Opfer des Nationalsozialismus anerkannt. Sie erhielten selbst nach dem Krieg keine Unterstützung von ihrer evangelischen Kirche. Erst seit wenigen Jahren wird die grauenhafte Schuld, die die Kirchen auf sich geladen hatten, erkannt.
Im Dritten Reich erzählten Christen die folgende Geschichte:
Gestapo-Männer stürmten in einen christlichen Gottesdienst, weil sie vermuteten, dass sich dort Juden versteckten. Sie riefen: „Juden raus!“ Nichts rührte sich. Wieder: „Juden raus!“ Da stieg der Gekreuzigte von seinem Kreuz vorne im Altarraum herab und lief durch das Kirchenschiff nach draußen.
Wenn etwas dran ist an dieser Geschichte: Ist der Christus später eigentlich wieder in die Kirche zurückgekehrt?
Theologisch betrachtet scheint mir der Platz der jüdischen Christen „zwischen den Stühlen“ von Kirche und jüdischem Volk nur dann angemessen gestaltet werden zu können, wenn die Kirche es nicht länger ihren jüdischen Mitgliedern überlässt, sich irgendwie zwischen Tora und Evangelium zurechtzufinden und so letztlich mit gespaltener Identität zu leben.
Das aber bedeutet: Die Christenheit insgesamt müsste sich mehr und eindeutiger zu Jesus Christus als Juden bekennen – sie muss jüdischer werden.
Daran mitzuwirken, sieht ahavta - Begegnungen als seine Aufgabe. Deshalb auch ahavta+. Und darum danke ich dir, dass du dabei bist und diese Aufgabe mitträgst.
Letztlich sind es nicht allein die jüdischen Christen in den Kirchen, die den Grund für diese Aufgabe bilden – eine Aufgabe, die sich nicht dadurch erledigt, dass ihr Erfolg in unseren Tagen so gut wie ausgeschlossen scheint. Vielmehr liegt ihre Begründung im Herrn Jesus Christus selbst.
Das Fundament christlicher Existenz ist das Bekenntnis „am dritten Tage auferstanden von den Toten“. Jesus lebt und wirkt durch den heiligen Geist in denen, die dieses Bekenntnis sprechen und Wirklichkeit sein lassen.
Christus lebt dabei auf zweierlei Weise.
Zum einen lässt er die heiligen Schriften, die Tora, lebendig werden, wenn Christen sie erforschen und immer neu auslegen. Die Tora ist Offenbarung an Mose vom Sinai. Darin gehört sie zu allererst dem jüdischen Volk, das sie interpretiert und als mündliche Tora jeden Tag weiterführt und aktualisiert. Der lebendige Christus gibt jedoch denen, die ihm folgen wollen, auch wenn sie nicht geborene Juden sind, die Schlüssel an die Hand, ebenfalls die Schrift zu verstehen und auszulegen. Als Jude führt Christus seine Nachfolger dabei ins jüdische Lehrhaus der mündlichen Tora. Dort sollen sie von und mit seinem Volk lernen, was Mose lehrte.
Zum anderen lebt Christus in denen, die an seine Auferweckung glauben, indem er sie lebendig macht zu einem Handeln, das nicht dem Zeitgeist folgt, sondern den Geboten und Weisungen der Tora, wie Jesus selbst sie vorgelebt hat. Ganz schlicht gesagt: Die Schülerinnen und Schüler des Christus leben die Gottesliebe und die Nächstenliebe den Anforderungen und Herausforderungen des jeweiligen Tages gemäß.
Dass diese Liebe dabei auch als eine zu Gottes Volk Israel gelebt werden will, versteht sich dabei fast schon von selbst…
Denn Lernen der Tora und Tun der Tora – dies verbindet Juden und Christen auf das engste. Die Unterschiede, die es dabei gibt, sind zwar durchaus zahlreich, aber in der Substanz marginal.
Ich wünsche dir einen friedlichen Sonntag und grüße dich
herzlich, Dein Ricklef