ahavta+ || ein fröhlicher Tag für Israel
Eine Leserin der ahavta+Ausgabe zu Rosch HaSchana schickte mir diese Fotografie eines der Glasfenster in der Synagoge der niederländischen Stadt Enschede. Ich finde es künstlerisch wie inhaltlich zutiefst beeindruckend (wie auch die gesamte vom Art déco geprägte Synagoge; vielen gilt sie als schönste Westeuropas, daher will ich sie dir in einer späteren Ausgabe näherbringen). Gott ist unsichtbar, jedoch als strahlendes Licht in der Bildmitte vorstellbar. Die Schofarot werden geblasen um zur Umkehr des Menschen zu rufen. Denn seine Taten werden vom himmlischen Richter gewogen. Oi weh, kann das gut ausgehen?!
Doch Gott ist bereit, am Versöhnungstag vom Thron des Gerichts auf den Thron der Barmherzigkeit zu wechseln – sofern der Mensch ihm entgegengekommen ist. Dieser Weg bedeutet Aussöhnung mit denjenigen, denen man im vergangenen Jahr etwas schuldig geblieben ist oder mit denen die Beziehung aufgrund von Streit, Beleidigung oder Lüge zerbrochen ist. Um Vergebung zu bitten und Dinge in Ordnung zu bringen, ist also die Aufgabe für Juden in den zehn Tagen der Buße.
Der Versöhnungstag ist dann ganz auf Gott bezogen. Es ist ein voller Fastentag, an dem im traditionellen Judentum 25 Stunden weder gegessen noch getrunken wird. Wichtiger noch: In den Synagogen wird den ganzen Tag gebetet, die Gottesdienste sind wirklich lang andauernd und physisch anstrengend.
Im letzten der mit Thüringens Landesrabbiner Alexander Nachama geführten Gespräche, aufgezeichnet in der Corona-Zeit in der Erfurter Synagoge, geht es um die Teschuwa, um die Umkehr von Fehlern und falschen Wegen und die Schuld, die man dadurch auf sich geladen hat. Der Rabbiner erläutert, was „vollkommene Umkehr“ bedeutet und nimmt dazu den großen Interpreten der Tora Moses Maimonides (Rambam) zu Hilfe.
Was sind die Gebote und Regeln für Jom Kippur und was ist ihr Sinn?
Welche Ordnungen gelten für das Fasten?
Und welche Besonderheiten gelten für die Gebete des Versöhnungstages?
Wenn du Antworten suchst, dann frag mit mir den Rabbi!
Kennen Sie den? Ein amerikanischer Reporter fliegt nach Israel, um einen Juden zu interviewen, der seit 60 Jahren jeden Tag an der Kotel in Jerusalem betet. Als er den alten Juden schließlich trifft, fragt er ihn fasziniert, wie es sich anfühlt, seit so vielen Jahrzehnten täglich an der Klagemauer zu beten, woraufhin der Jude antwortet: „Wie es sich anfühlt? Als würde ich gegen eine Wand reden!“
Nun ist das zwar nur ein Witz. Aber mit den Witzen ist es wie mit den Lügen. Gelegentlich steckt ein Quäntchen Wahrheit drin. Das behauptet zumindest Konfuzius. Jedenfalls deutet dieser Witz auf die schwierige Frage hin, ob G’tt unsere Gebete erhört. Und sie im besten Fall auch beantwortet.
Im biblischen Judentum scheint die Sache klar. Und ein Blick in die Tora reicht aus, um alle Unklarheiten zu beseitigen. G’tt war da, war gegenwärtig, sprach und agierte unmittelbar.
Nun ist heute nicht damals. Die Zeiten haben sich geändert. Und die Umstände auch. Nur wenige werden heutzutage zweifelsfrei bezeugen, dass sie eine himmlische Antwort auf ihre Gebete erhalten haben. Was aber heißt das konkret? Antwortet G’tt nicht mehr? Oder fehlen uns heute die Antennen, um die Signale zu empfangen? Oder können wir sie nicht mehr deuten?
So beginnt ein Beitrag von Daniel Neumann, Direktor des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in Hessen. Du kannst ihn hier im neuen Heft der Zeitschrift BLICKPUNKT.E lesen und als Download bekommen:
Ein Beitrag von Daniel Neumann als PDF-Datei
In besonderer Weise auf die Gebete an Jom Kippur trifft zu, was Daniel Neumann dann weiter ausführt.
Im Judentum … hat das hebräische Wort, das gemeinhin für das Beten verwendet wird, überhaupt nichts mit Beten, Bitten oder Sonstigem zu tun! Das Wort, das hier gebraucht wird, ist „lehitpalel“ – und es bedeutet: sich selbst zu prüfen.
Es geht bei dem hebräischen Wort für das klassische Beten also gar nicht darum, einen anderen zu einem bestimmten Verhalten zu bewegen. Sondern es geht darum, sich selbst in Augenschein zu nehmen und zu prüfen. Das heißt: Es geht beim jüdischen Gebet weniger darum, G’tt zu ändern. Sondern es geht vielmehr darum, sich im Lichte des Ewigen selbst zu ändern.
Das jüdische Verständnis des Gebets erklärt Neumann am Schluss mit einem schönen Vergleich des italienischen Rabbiners Leone da Modena:
Stellen Sie sich einen Mann in einem Boot vor, der sich selbst ans Ufer zieht. Wenn wir es nicht besser wüssten und die Gesetze der Physik außer Acht lassen würden, dann könnten wir durchaus glauben, dass der Mann versucht, das Ufer zum Boot zu ziehen.
Tatsächlich ist das Ufer natürlich unbeweglich, während es der Mann in dem Boot ist, der sich auf das Ufer zubewegt. Ähnlich ergehe es uns im Gebet. Wir glauben manchmal, dass wir G’tt im Gebet an unseren Willen heranführen. In Wirklichkeit allerdings bewirkt das Gebet genau das Gegenteil: Wir werden dadurch näher an G’ttes Willen herangeführt.
Sprich: Durch das Gebet nähern wir uns dem Ewigen an. Unterziehen uns selbst einer kritischen Betrachtung. Prüfen unsere Erwartungen und Wünsche ebenso wie unser Verhalten. Untersuchen den Deckungsgrad von „soll“ und „ist“. Versuchen, in seinem Licht zu wachsen. Uns zu erheben. Uns zu verändern. Und im besten Fall beenden wir das Gebet als bessere Menschen, als wir es begonnen haben.
Deshalb ist Jom Kippur ungeachtet des Fastens und der langen Gottesdienste richtig sowie in der Tiefe verstanden ein Tag der Freude.
Bereits zur Zeit des Tempels wurde diese Freude gelebt. In der Mischna Ta'anit 4,8 heißt es:
Rabban Simon ben Gamliel berichtete: Es hat in Israel keine fröhlicheren Tage gegeben als den fünfzehnten Aw und den Versöhnungstag. An ihnen zogen die jungen Männer Jerusalems (hier der Text nach dem Jerusalemer Talmud) in weissen Kleidern hinaus (auf Brautschau), und zwar in geborgten (um diejenigen, die sich keine schönen Kleider leisten können, nicht zu beschämen). Die Töchter Jerusalems zogen dazu hinaus und führten in den Weingärten Reigentänze aus.
Und was sangen sie dabei? „Jüngling, erhebe die Augen und betrachte, was du dir wählst. Richte deinen Blick nicht auf Schönheit, richte deinen Blick auf Familie. Trügerisch ist Anmut und eitel ist Schönheit; eine gottesfürchtige Frau, nur sie ist Lobes wert“ (Sprüche 31,30).
Heute ist es noch immer Brauch, an Jom Kippur weiße Kleidung anzuziehen. Und noch immer gilt: Nicht das Äußere zählt, sondern Gott schaut tief ins Herz der Beter und auf ihre Absicht.
Und die Freude? Sie stellt sich ein am Ausgang des Versöhnungstages, wenn der gnädige Gott gelobt wird: „Du, Gott der Verzeihungen, bist gnädig, barmherzig, langmütig, reich an Gnade und Gutes zu mehren…“
Christen meinten oft, der „gnädige Gott“ sei ein Privileg von ihnen, verliehen durch Jesus Christus. Und entsprechend das jüdische Beten am Versöhnungstag eher der verzweifelte Ruf in die Leere. Wie irrig und irregeleitet dies ist, möge dir Rabbi Moses ben Jakob ibn Esra (Ramba) zeigen. Um 1100 unserer Zeit hat er den Pijjut, das liturgische Gedicht אֵל נוֹרָא עֲלִילָה, El Nora Alila, geschrieben. Am Versöhnungstag wird es (überwiegend in sefardischer Tradition) zur Eröffnung des Schlussgottesdienstes Ne'ila gesungen.
Pijjutim sind so feinsinnig mit Wortspielen und zahllosen Anspielungen auf die Tora, dass sie eigentlich unübersetzbar sind. Hier nimmt zum Beispiel der Titel El Nora Alila zwei Worte aus Psalm 66,5 auf und ist als Refrain kunstvoll gereimt (alila – mechila; alila – ne'ila).
Daher ist die nachfolgende Übertragung lediglich ein Versuch. Aber höre zunächst die Version, die Kantor Eyal Bitton aufgenommen hat:
Refrain: Gott machtvoller Taten, / Gott machtvoller Taten, / finde Vergebung für uns / zur Stunde von Ne’ila.
Nur wenige hier sind versammelt / und schauen suchend aus zu dir, / zitternd vor Ehrfurcht, / zur Stunde von Ne'ila.
Sie schütten ihre Seelen dir aus, / tilgen ihre Vergehen und Lügen, / finde Vergebung für sie, / zur Stunde von Ne'ila.
Sei ihr Beschützer, / bewahre sie vor Fluch / und siegle sie für Gnade und Freude / zur Stunde von Ne'ila.
Vergib ihnen und sei barmherzig / und an allen, die verletzen und kämpfen, / übe Gerechtigkeit / zur Stunde von Ne'ila.
Erinnere die Gerechtigkeit ihrer Vorväter / und erneuere ihre Tage, / wie früher und einst / zur Stunde von Ne'ila.
Rufe aus ein Jahr des Gnadenwillens, / und bring zurück den Rest der Herde / von Aholibah und Aholah (Juda und Israel) / zur Stunde von Ne'ila.
Ihr werdet gesegnet sein mit vielen Jahren, / ihr Söhne und Väter, / in Glück und Frohsinn, / zur Stunde von Ne'ila.
Michael, Fürst Israels, / Elia und Gabriel, / ruft doch aus die Erlösung / zur Stunde von Ne'ila.
Und hier noch die erst vor wenigen Tagen veröffentlichte Fassung des Gebetes, wie sie Mitglieder mehrerer Generationen der Familie Sa'id Nechemias singen und spielen. Sie stammt aus Damaskus und ist in Jerusalem lebend selbst Teil der Rückkehr des „Restes der Herde“.
Ne'ila heißt wörtlich das „Schließen“, nämlich nicht nur der Gottesdienste am Versöhnungstag, sondern auch der himmlischen Tore, durch die die Gebete der Buße und Umkehr vor den Thron Gottes gelangen und ihn zum Erbarmer werden lassen.
Wenn der gnädige Gott also kein Privileg der Christen ist, was macht dann deren Besonderheit aus? Ich mache dir diesen Vorschlag:
Der Prophet Jesaja ruft über Jerusalem und Israel aus (60,11): „Deine Tore sollen stets offen stehen und weder Tag noch Nacht zugeschlossen werden, dass der Reichtum der Völker zu dir gebracht wird“. Jesus Christus hat diesen Reichtum ermöglicht, –auch wenn kaum schon etwas davon zu sehen ist – das Kommen der Nichtjuden aus den Völkern zu Israel. Die Tore können offen bleiben, weil das Volk Israel keine Furcht mehr haben muss vor Feinden. Die Christen aus den Völkern verwandelt von Feinden zu Freunden des Gottesvolkes; das ist das endzeitliche Ereignis schlechthin – so sieht es Johannes in seiner neutestamentlichen Offenbarung (21,24ff):
„Die Völker werden wandeln im Licht (der Herrlichkeit Gottes); und die Könige auf Erden werden ihre Herrlichkeit in die Stadt (Jerusalem) bringen. Und ihre Tore werden nicht verschlossen am Tage; denn da wird keine Nacht sein. Und man wird die Herrlichkeit und die Ehre der Völker in sie bringen. Und nichts Unreines wird hineinkommen und keiner, der Gräuel tut und Lüge…“
Es wird dann wohl sein ein Versöhnungstag ohne Ende, ohne Schlussgebete, ohne Schließen der Tore, voller Freude, voller Licht, voller Herrlichkeit, voller Glanz – denn es bedarf der Umkehr nicht mehr…