ahavta+ entdeckt die mizwot
Die „Zehn Wege zu Gott“ sind ein 10-teiliger Lehrplan über Judentum und jüdische Identität, der auf traditionellen Quellen und den Lehren von Rabbiner Jonathan Sacks basiert. Er kann als gebündelte Darstellung jüdischer Existenz dienen. Daher habe ich dessen Grundtexte für dich übersetzt.
Die Besonderheit des Judentums besteht darin, dass es sich hohe Ideale zu eigen macht und sie durch einfache, alltägliche Taten in die Lebenswirklichkeit umsetzt: durch den Weg der Mizwot, das Handeln in Übereinstimmung mit Gottes Willen. Wir denken nicht nur über die Wahrheit nach, wir leben sie.
Wir denken nicht über die Schöpfung nach, indem wir theoretische Physik studieren. Wir leben sie vielmehr, indem wir das, was wir essen und trinken, segnen und Gott als den Schöpfer all dessen anerkennen, was wir genießen. Wir denken nicht über unsere Verantwortung für die Umwelt nach. Wir halten den Schabbat und setzen unserer Ausbeutung der Welt eine Grenze, einen Tag von sieben. Wir studieren nicht nur die jüdische Geschichte. An den Fasten- und Festtagen erleben wir sie nach. Die Wahrheit wird wahr, wenn sie zur Tat wird. Auf diese Weise verändern wir die Welt.
Es gibt diejenigen, die die Welt sehen, wie sie ist, und sie akzeptieren. Das ist der stoische Weg. Es gibt diejenigen, die die Welt sehen, wie sie ist, und vor ihr fliehen. Das ist der mystische, klösterliche Weg. Aber es gibt auch diejenigen, die die Welt sehen, wie sie ist, und sie verändern. Das ist der jüdische Weg. Wir verändern sie durch Mizwot, heilige Taten, die ein Stückchen Himmel auf die Erde bringen.
Jede Mizwa ist ein Miniaturakt der Erlösung. Sie verwandelt etwas Weltliches in etwas Heiliges. Wenn wir die Kaschrut einhalten, verwandeln wir Nahrung für den Körper in Nahrung für die Seele. Wenn wir den Schabbat einhalten, heiligen wir die Zeit und schaffen in unserem Leben Raum zum Atmen und Danken, indem wir das feiern, was wir haben, anstatt nach dem zu streben, was wir noch nicht haben. Wenn wir die Feste feiern, heiligen wir die Geschichte, indem wir sie in unser persönliches Gedächtnis aufnehmen und eine Verbindung zwischen der Vergangenheit unserer Vorfahren und unserer Gegenwart herstellen. Wenn wir die Gesetze der teharat hamischpacha, der reinheitsgemäßen Familie, einhalten, verwandeln wir eine physische Beziehung in ein heiliges Band der Liebe.
Die Mizwot bringen Gott in unser Leben durch die anspruchsvolle Gestaltung eines Lebens, das in Übereinstimmung mit Gottes Willen gelebt wird. Sie sind die Poesie des Alltags und machen das Leben zu einem heiligen Kunstwerk.
Mizwot lehren uns, dass der Glaube aktiv und nicht passiv ist. Es geht darum, was wir tun, und nicht nur darum, was uns geschieht. Wenn wir eine Mizwa vollziehen, kommen wir Gott nahe und werden zu seinem „Partner im Schöpfungswerk“. Jede Mizwa ist ein Fenster in der Mauer, die uns von Gott trennt. Jede Mizwa lässt das Licht Gottes in die Welt strömen.
Die einfachste Antwort ist stets: Weil es die Tora befiehlt. Rabbiner Andrew Steiman gibt freilich in Folge 21 der Videothek des jüdischen Lebens noch weitere Erläuterungen:
Warum die Beschneidung gerade am achten Tag vorgenommen wird.
Inwiefern die Entfernung der Vorhaut als Vervollkommnung angesehen werden kann.
Weshalb jeder jüdische Mann bei der Beschneidung bluten soll.
Wieso die Beschneidung in der Antike als eine Art Impfung angesehen wurde.
Was die jüdisch-rituelle Beschneidung von der chirurgischen unterscheidet.
Warum heute manche ein Verbot der Beschneidung fordern und warum die Beschneidungsdebatte vor einigen Jahren keine war.
Die Reihe „Frag den Rabbi!“ hat eine neue Folge:
Angemerkt sei hier, dass Lukas in seinem Evangelium, Kapitel 2,21, berichtet, dass auch Jesus am achten Tag beschnitten und dieses Ereignis mit seiner Namensgebung verbunden wurde. Leider ist das altkirchliche „Fest der Beschneidung Jesu“ am 1. Januar schon lange hinter dem unbiblischen Neujahrstag zurückgetreten, wenn nicht sogar vielerorts in Vergessenheit geraten. Aber das ließe sich ja wieder ändern…
Alle bisherigen Folgen der Reihe „Frag den Rabbi!“ kannst du unter dem folgenden Link aufrufen:
Meine lieben Freundinnen und Freunde, Bomben fallen in fast allen Städten in der Ukraine, unschuldige Männer, Frauen und Kinder sterben oder flüchten aus dem Land. Ihr werdet mit Sicherheit von eurem Senior Rabbiner erwarten, dass er nicht über den Wochenabschnitt spricht.
Mit diesen Worten verließ Rabbiner Dr. Gábor Lengyel im Text seiner Ansprache zum Wochenabschnitt Pekude am 4. März scheinbar bereits nach drei Sätzen den Inhalt der Parascha, um „mit euch einige Gedanken zum aktuellen barbarischen Überfall auf die Ukraine durch Wladimir Putin mit seinen Beratern und seiner gehorchenden Armee (zu) teilen.“ Dazu zitierte er verschiedene Stimmen „aus der jüdisch-israelischen Welt”. Einige davon möchte ich dir hier weitergeben.
„Roman Shmulenson, heute 44 Jahre alt, stammt aus einer ukrainisch- jüdischen Familie, ging 1993 in die USA. Er ist der Leiter der Jüdischen Emigrationsgesellschaften in den USA und sagte am 29. Februar in einem Gespräch folgendes“:
Wir waren Juden in der Ukraine und in Russland. Wir haben uns mit den Russen, mit den Ukrainern nicht identifiziert! Die ukrainische Flagge bleibt bei mir das Symbol des ukrainischen Nationalismus, das ukrainische Vaterland hat uns aus unseren Geburtsstätten vertrieben, deshalb haben wir das Land verlassen! Ich werde die ukrainische Flagge nie in meinem Leben zeigen, wenn schon eine Flagge, dann die Flagge der USA, welche uns aufgenommen hat und von Israel, das Land unserer seelischen Heimat.
„Dagegen sprach in meinem geliebten Hartman Institut in Jerusalem der Rektor des Instituts, Rabbiner Dr. Donniel Hartman über die schreckliche Invasion der russischen Armee in die Ukraine in anderen Tönen, welche uns auch nachdenklich machen könnte.“
Einerseits bin ich glücklich, dass Tausende Israelis auf den Straßen von Israel demonstrieren und ihre Solidarität mit dem leidenden ukrainischen Volk zeigen. Andererseits höre ich die unterschiedlichen Töne und offiziellen Erklärungen meiner israelischen Regierung. Es macht mich traurig, dass Israel eine Resolution der Vereinigten Nationen, die wahrscheinlich die russische Invasion verurteilen wird, nicht zustimmen wird. Die Gründe dafür liegen auf der Hand: Russland, das über Syrien herrscht, macht ein Auge zu, wenn Israel militärische Anlagen in Syrien bombardiert.
Israel muss aufstehen und klare Solidarität mit dem ukrainischen Volk zeigen. Moral muss höher stehen als aktuelle politische oder wirtschaftliche Überlegungen gegenüber Russland.
„Es ist ebenfalls sehr bemerkenswert, was der Refusnik - ich hoffe, ihr kennt diesen Begriff - Natan Sharansky, geboren in Donezk, der neun Jahre in einem sibirischen Straflager Gulag saß, und eines Tages über die berühmte Glienicker Brücke in Berlin ausgetauscht wurde, in diesen Tagen über die „Zurückhaltungspolitik“ der israelischen Regierung“ sagte:
Israel ist so, wie früher die Hofjuden in Europa. Israel ist der Hofjude von Vladimir Putin.
Zur Frage, ob „die israelische Einwanderungsbehörde die Juden im Alter zwischen 18 und 60 aus der Ukraine holen“ solle, sagte Rabbi Dr. Donniel Hartman:
Das ist nicht die Zeit, diese Juden aus der Ukraine zu holen! Die Juden, die nach Israel wollten, hätten das seit vielen Jahren tun können. Sie fühlten sich überwiegend Ukrainer, auch aus diesem Grund sind ihre Plätze jetzt in der Ukraine!
Juden sollen dort bleiben, aufstehen und für die Ukraine kämpfen! Gerade jetzt, wo ein assimilierter Jude, Präsident Selenskyj, wie Ester in der Purimgeschichte, seine Rolle erkannt hat und ein Held für die Ukraine und für die ganze demokratisch denkende Welt wurde! Der Jude Selenskyj opfert sein Leben für die Ukraine!
Rabbiner Lengyel fügte seine eigene Stimme zu dieser Meinungsvielfalt hinzu. Er dachte dabei an die russischen Menschen, die am Krieg nicht beteiligt sind:
Leider werden unsere Brüder und Schwester aus Russland, die meistens unschuldig sind, auch Jahrzehnte noch leiden müssen. Das ukrainische Volk, genauso wie wir Juden, kann nicht so schnell vergessen. Ich möchte aber, genauso, wie ich als Schoaopfer den deutschen Freunden meine Hand reiche, dass wir auch unseren vielen Freundinnen und Freunden aus Russland unsere Hand reichen, um bei der Bewältigung der Scham, Reue und Umkehr, die Teschuwa eine kleine Hilfe zu leisten.
Am Schluss seines Ansprachentextes kehrte Rabbiner Lengyel zum Wochenabschnitt Pekude zurück:
Das Stiftszelt ist ein Symbol der Einheit im Judentum. Zwar besteht das Stiftszelt aus mehreren Teilen, dennoch heißt es in der Tora: „So wird die Wohnung ein einziges Ganzes.“
Das gleiche gilt zu den Geboten der Tora und für unsere Gemeinde. Jede und jeder Einzelne von uns ist ein Glied in der jüdischen Gemeinschaft mit unterschiedlicher Herkunft, Kultur, worüber wir offen miteinander diskutieren und streiten mögen. Wenn wir aber die Tora und unsere Gemeinde als Ganzes betrachten, dann sind wir eins.
Warum zitiere ich so ausführlich aus der Ansprache zum Schabbat von Rabbiner Dr. Gábor Lengyel? Gedanken und Meinungen aus ganz unterschiedlichen Positionen zu Wort kommen zu lassen und nebeneinander stehen zu lassen, kennzeichnet jüdische Debatten nicht nur im Talmud, sondern bis heute. Juden müssen in ihren Ansichten durchaus nicht übereinstimmen. Diese können sich sogar fundamental widersprechen. Alle haben jedoch ihren Platz und ihre Berechtigung, je nach Sichtweise. Was sie jedoch in ihrer Unterschiedlichkeit zusammenhält, ist das einigende Band der Tora, die für alle gilt und alle umfasst. Jede einzelne Meinung und jeder jüdische Mensch ist Teil des klal Israel, der Gemeinschaft und des Volkes Israel, dessen Basis die Tora ist.
In allen öffentlichen Debatten der letzten Jahre in Deutschland wie auch jetzt zum Krieg in der Ukraine scheint mir die gleichberechtigte Vielfalt der Meinungen verloren gehen zu drohen. Kann es sein, dass dies daran liegt, dass unsere Gesellschaft kein einigendes Band mehr hat, weil die Religion dieses im Zeitalter des Säkularität, der allgemeinen Religionslosigkeit nicht mehr zu bieten vermag?