ahavta+ erinnert und fragt den Rabbi
Die folgende Gedichtinterpretation schrieb Harald Hartung 2008 für die Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 185
Begräbnis meines Vaters
Am Judenfriedhof ist viel Land umbrochen, und Sarg um Sarg kommt, und die Sonne scheint. Der Pfleger sagt: So geht es schon seit Wochen. Ein Kind hascht Falter, und ein Alter weint.
Dumpf fällt der Vater in die Erde, ich werfe Lehm nach, feucht und kalt. Der Kantor singt. Es wiehern schwarze Pferde. Es riecht nach Sommeraufenthalt.
Die mir die Gärten meiner Stadt versagen, die Bank im staubigen Grün am Kai, sie haben mir den Vater totgeschlagen, daß ich ins Freie komm und Frühling seh.
Erich Fried war von Kindheit an auf das Schlimmste vorbereitet. Sechsjährig wurde er in Wien zusammen mit seiner Mutter Zeuge des Blutigen Freitags vom Juli 1927, der Niederschlagung einer Demonstration gegen den Freispruch rechtsradikaler Mörder. 1930 schrieb er darüber ein Gedicht. Da war er neun. Es war nicht sein erstes, aber sein erstes politisches Gedicht. Später sagte sein Lieblingslehrer ihm eine Laufbahn als Schriftsteller voraus. Da saßen arische und jüdische Schüler schon in getrennten Bänken. Der Anschluss ersetzte den austrofaschistischen durch den nazistischen Antisemitismus.
Am 15. März 1938 sprach Hitler vor der fanatisierten Menge auf dem Heldenplatz. Vor seinem Eintreffen in Wien hatten jüdische Bürger, die man zusammengetrieben hatte, die Straßen reinigen müssen. Der siebzehnjährige Fried beobachtete vom Fenster der Wohnung im Alsergrund die Plünderungen jüdischer Geschäfte. Im April verhaftete man die Eltern unter dem Vorwurf der „Vorbereitung zur Devisenverschiebung ins Ausland“. Bei einem Verhör trat ein Gestapo-Beamter dem Vater die Magenwand ein. An den Folgen starb Hugo Fried am 24. Mai, seinem 48. Geburtstag. Erich Fried emigrierte im August 1938 über Belgien nach England. Es gelang ihm, die Mutter vor Kriegsausbruch nach London zu holen. Vor dem Jewish Refugee Committee nach seinem Berufsziel befragt, antwortete er: „Ein deutscher Dichter.“
„Begräbnis meines Vaters“ kommt ohne alle historischen Daten aus. Aber es ist - mit einem Wort Paul Celans - seiner Daten eingedenk. Es öffnet sich dem Leser. Erich Fried hat immer offene, keine hermetischen Gedichte schreiben wollen. Dieses kommt dem Leser durch die vertraute Strophenform besonders entgegen. Es spricht von seinem Thema so anrührend wie unsentimental. Es verdrängt weder das angetane Unrecht noch Schmerz und Trauer.
Der Gedichteingang entwirft die Situation. Im Nebeneinander von Nüchternheit und Banalität meint man den neusachlich-ironischen Ton Kästners und Tucholskys zu hören. Der Grund dafür, dass der Judenfriedhof erweitert werden muss, ist ausgespart. Der Leser kann nicht umhin, zu ergänzen: Was seit Wochen kommt, sind die Särge von Opfern, von Ermordeten oder zum Selbstmord Getriebenen. Umso stärker ist der Kontrast zur Idylle, den der banal gesetzte Binnenreim noch verstärkt: „Ein Kind hascht Falter, und ein Alter weint.“
Die zweite Strophe verkürzt den Vers ins Lapidare, von fünf auf vier Hebungen. „Dumpf fällt der Vater in die Erde.“ Nicht die Leiche fällt, sondern der Vater - gewaltsam, als wäre er noch am Leben. So gerät die Geste des Sohnes, der Lehm nachwirft, mechanisch, wie bewusstlos. Der Rest ist wie ein Film, den das Bewusstsein als fremd und unzugehörig wahrnimmt: das Singen des Kantors, das Wiehern der schwarzen Pferde, der Geruch nach Sommeraufenthalt.
Das Ich des Gedichts greift erst in der Schlussstrophe ein - als habe es sich zurückhalten müssen. Jetzt findet es zu zornerfüllter, sarkastischer Klage. Sie ist sarkastisch im Wortsinn, nämlich bis aufs Fleisch gehend. Es geht ja um Fleisch vom eigenen Fleische. Es geht um den Zorn dessen, dem man das Leben einschnürt; auch um das Verbot für Juden, die Gärten und Parks der Stadt zu betreten. Der Zorn gipfelt im grotesken Paradox, dass einzig die Folge einer Gewalttat den Sohn für kurze Frist ins Freie gelangen lässt. Dieses „ins Freie“ ruft uns die Frühlingsszene aus „Faust“ in Erinnerung. Also jenen Goethe, den die Nazis für sich reklamierten.
„Begräbnis meines Vaters“ ist ein bewegendes Gedicht. Es übersteigt die Konvention, deren es sich bedient, durch die Kraft des Authentischen. Erich Fried veröffentlichte es 1946 in „Österreich“, seinem zweiten Gedichtbuch. Die Grabtafel Hugo Frieds in der israelitischen Abteilung des Wiener Zentralfriedhofs ist noch erhalten.
Aus meinen Gesprächen mit dem Thüringer Landesrabbiner Alexander Nachama erhältst du heute exklusiv die dritte Video-Aufzeichnung. Was macht einen Juden zum Juden? Ist es die jüdische Religion? Ist es die Geburt von einer jüdischen Mutter?
Diese Tagung der Landeszentrale für politische Bildung Thüringen findet am 21./22. Juni 2021 im Erfurter Augustinerkloster statt. Es wird kein Online-Format geben. Sie ist eines der wenigen Angebote im Themenjahr „Neun Jahrhunderte jüdisches Leben in Thüringen“, welches das jüdische Leben in der DDR und ihre Konfliktfelder in den Blick nimmt.
Die Überlebenden des Holocaust, die sich nach dem Ende des Krieges in der sowjetischen Besatzungszone niederließen, schwankten noch etliche Jahre lang zwischen Bleiben und Gehen. Während die einen Deutschland nur als Zwischenstation auf dem Weg nach Palästina oder den USA ansahen, letztlich aber doch in Berlin, Erfurt oder Leipzig blieben, sahen sich andere zu Beginn der 1950er-Jahre erneut zur Flucht aus ihrer alt-neuen Heimat gezwungen. Nur ein kleinerer Teil schloss sich wieder zu jüdischen Gemeinden zusammen. Die meisten der aus dem Exil in den sowjetischen Machtbereich zurückgekehrten Juden standen der Religion eher fern und wollten am Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft mitwirken. Zwar verstand sich die DDR als antifaschistischer Staat, jedoch war sie mit dem gesellschaftlichen Nachlass des Naziregimes konfrontiert.
Die Tagung fragt, ob und wieweit dieser Anspruch eines Neubeginns in der SBZ/DDR eingelöst wurde: Freiheit der Religionsausübung, staatliche Unterstützung für die Gemeindegründung und besondere soziale Fürsorge für die Überlebenden waren überschattet von fortdauerndem Antisemitismus in der Bevölkerung, vom Scheitern einer Wiedergutmachungsregelung und von der stalinistischen Verfolgung, die phasenweise auch eine deutlich antisemitische Richtung aufwies. Auch in Thüringen sahen sich viele der früheren jüdischen Verfolgten zur erneuten Auswanderung gezwungen. In der Erinnerungspolitik dominierte der kommunistischen Widerstand, während die verfolgten und ermordeten Juden als passive Opfer galten, die „nicht gekämpft“ hatten. Die jüdische Widerstandsgruppe um den Kommunisten Herbert Baum wurde entsprechend dieser Logik zu einer kommunistischen Gruppe umgedeutet.
Da es Corona-bedingt nur wenige Plätze gibt, solltest du dich bei Interesse sofort zu dieser spannenden Tagung anmelden. Dazu dient der Flyer, den du dir hier laden kannst:
Meine Befürchtung im letzten ahavta+ hat sich leider bewahrheitet. Es brodelt, vor allem jetzt, in der letzten Nacht des Fastenmonats Ramadan, in Zusammenstößen, die von der Hamas und der Hisbollah nahestehenden Kräften geschürt werden.
Hier kannst du dich informieren:
Sicher wird die aktuelle Situation auch in der Begegnung mit Johannes Gerloff, heute um 17 Uhr, zur Sprache kommen. Hast du dich angemeldet? Sonst hier:
Also vielleicht bis nachher, in jedem Fall aber sehr herzlich
Dein Ricklef