ahavta+ || erlöst aus der Hand unserer Feinde
Im Jahr 1300 wurde in der Stadt Cervera in der Region Katalonien, Spanien, ein Bibelmanuskript kopiert. Die Handschrift umfasste nicht nur den Bibeltext, sondern auch eine Kopie des zweiteiligen grammatikalischen Traktats von David Kimchi (bekannt unter dem Akronym RaDaK) mit dem Titel Sefer HaMikhlol, das Sefer Hadikduk (das Buch der Grammatik) und Sefer HaSchoraschim (das Buch der Wurzeln) enthält. Das Traktat von RaDaK umschließt die Bibel von vorne und hinten. So bietet die Cervera-Bibel ihren Lesern eine wunderbare Gelegenheit, ihre Hebräisch-Kenntnisse zu vertiefen.
Nicht nur das, sondern gerade das grammatikalische Werk enthält eine Fülle wunderbarer großformatiger Illustrationen. Den Illustrator kennen wir mit Namen, denn Josef HaZarfati (Josef der Franzose) entschied sich, seinen Namen in zoomorphen Buchstaben (Buchstaben in Form von Tieren) zu schreiben.
Das gesamte Werk ist heute als Digitalisat der Biblioteca Nacional de Portugal in Lissabon zugänglich. Die Geschichte der Bibel und ihr Weg in die portugiesische Nationalbibliothek ist ein spannendes Kapitel für sich, die 2012 anlässlich der Ausstellung der Cervera-Bibel in der New Yorker Met erzählt worden ist (englisch).
Gegenüberliegend auf den Blättern 444 und 445 finden sich zwei aufeinander Bezug nehmende Illustrationen. Wie das Hebräische „liest“ man auch sie von rechts nach links.
Ein Mann auf den Zinnen einer Burg weist nach links. Offensichtlich gibt es dort einen Kampf zu kämpfen. Denn der Ritter rechts zückt bereits sein Schwert. Unwillkürlich blickt der Betrachter nun auch nach links. Welche Auseinandersetzung findet dort wohl statt? Es muss sich um eine große Schlacht oder um eine besondere Gefahr handeln…
Auf dem linken Blatt jedoch – und nun gebe ich Marc Michael Epstein in seinem Aufsatz Thought Crimes: Implied Ensuing Action in Medieval Manuscripts Made for Jewish Patrons & Audiences das Wort (Übersetzung R.M.) –
sind wir überrascht, dass wir nichts anderes sehen als zwei Jäger, die sich an einen kleinen schwarzen Vogel heranpirschen, der gerade seine Flügel zusammengeklappt hat und auf einer Brüstung zur Ruhe gekommen zu sein scheint.
Dieses winzige Wesen wird gerade von links mit einer fast grotesk großen Armbrust beschossen. Das ist ein direkter Angriff mit einer viel zu starken Waffe für einen so kleinen Vogel, denn Armbrustbolzen sind zum Durchschlagen schwerer Rüstungen gedacht, nicht zum Erschießen von Raben. Und diese Armbrust hier ist ein stattliches Exemplar, fast so groß wie der Mann, der sie so unwahrscheinlich schwingt. Man kann sich vorstellen, dass die Bolzen ziemlich schwer sind.
Rechts bereitet sich ein Falkner vor, seinen Falken zu loszulassen. (…) Auch dies ist ein unverhältnismäßiger und unrealistischer Angriff: Falken jagen Hasen oder kleine Säugetiere oder sogar essbare kleinere Vögel. Aber ein Rabe ist ein lästiger Aasfresser, ein „Müll“-Vogel, ein Galgenvogel, der von niemandem geliebt wird (außer vielleicht von den Wärtern im Tower von London). Keiner isst Raben. Man will sie loswerden, nicht kaufen. Jeder, der schon einmal mit Greifvögeln trainiert oder gejagt hat, weiß, dass es eine lächerliche Zeit- und Kraftverschwendung ist, einen Falken auszusenden, um einen Raben zu fangen. Das Ganze wirkt wie eine kleine Komödie über das Thema der maßlos überzogenen Gewalt mit dem Einsatz von so viel Feuerkraft gegen eine so kleine Bedrohung.
Was ist das Ergebnis dieses ganzen Trubels? Der kleine schwarze Vogel ist, wie gesagt, gerade erst zur Ruhe gekommen. Doch einer seiner Füße steht bereits auf der Brüstung, und er neigt den Kopf, wobei er ein wachsames Auge in die Richtung des Armbrustschützen richtet, während er sich gleichzeitig dem Falken zuwendet. Die Neigung des Vogelkopfes und die Stellung der schwarzen Iris seines Auges im Weißen verleihen ihm einen ungläubigen, leicht spöttisch-ironischen und skeptischen Blick. In einer Sekunde wird er dem tödlichen, aber zu schweren Armbrustbolzen entkommen. Der Falke, der – in der Erwartung, auf einen Hasen losgelassen zu werden – einen Moment lang verwirrt und deshalb, obwohl er schnell ist, nicht schnell genug sein wird, um den kleinen Raben zu fangen, vorausgesetzt, er würde es überhaupt versuchen.
Die dringende Aufforderung des gestikulierenden Herrn wird töricht und überflüssig erscheinen, während der schwerttragende Protagonist, der noch immer Zeter und Mordio schreit, mit gezücktem Schwert auf der Bildfläche erscheint, nur um zu beobachten, wie der kleine schwarze Vogel im Wind davonsegelt und triumphierend krächzt, weil er entkommen ist.
„In der Tat schreit diese Szene geradezu danach, politisch gelesen zu werden“, lautet das Resümee von Marc Michael Epstein. Seine Deutung der Armbrust auf das Kreuz der die Juden verfolgenden Kirche, des Jägers auf den weltlichen Adel, der die Juden unterdrückt, seines Falken auf dessen Agenten, „vielleicht jüdische Informanten“, und des Ritters auf die Armee oder den militarisierten Mob, halte ich zwar für „überinterpretiert“.
Doch überzeugend scheint mir, dass sich der jüdische Betrachter der Illustration mit dem schwarzen Raben identifiziert, der letztlich allen übermächtigen Bedrohungen davonfliegt.
Analog zum Hasen der Barcelona-Haggada, dem der ihn früher verfolgende Jagdhund dienen wird, sieht der mittelalterliche jüdische Betrachter auch hier ein durchaus heiter stimmendes Hoffnungsbild. Wie für Hase und Rabe gilt auch für Israel demnächst erlöst aus der Hand unserer Feinde (Lukasevangelium 1,74).
Und indem die Zukunft wie im Evangelium, dadurch dass sie (hier durch das Bild) erzählt wird, bereits zur Gegenwart wird, verwandelt sich die Tiergeschichte als Fabel in eine Trostgeschichte für Israel inmitten seiner Bedrängnis.
Warum aber verwenden mittelalterliche Juden Tierfabeln, um sich Hoffnungs- und Trostgeschichten zu erzählen? Darüber möchte ich am nächsten Sonntag mit dir nachdenken.