ahavta+ folgt dem traditionsgebundenen Judentum
Das Judentum gibt es nicht. Höchstens Judentümer. Das war zu allen Zeiten so. Vielleicht war die Aufspaltung in Gruppen und Richtungen jedoch niemals größer als in den Jahrzehnten vor der Zerstörung des Tempels in Jerusalem im Jahre 70. Allein schon aus dem Neuen Testament wissen wir von Pharisäern und Sadduzäern, Priestern und Schriftgelehrten. Und natürlich scharten auch Jesus von Nazaret und Johannes der Täufer Schüler um sich, die eine Gruppierung für sich bildeten. Vom Schriftsteller Josephus kennen wir zum Beispiel Essener, Zeloten und Sikarier. Nach dem verlustreichen Ende des jüdischen Krieges gegen die Römer gab es viele dieser Gruppen nicht mehr, entweder weil sie wie die Priesterschaft und die Sadduzäer ihr Fundament, den Jerusalemer Tempel verloren hatten, oder weil sie aufgerieben und vernichtet wurden wie die Essener und die Zeloten.
Ausgehend von den Pharisäern und zurückgeführt auf Rabbi Jochanan ben Sakkai bildete sich in den folgenden Jahrzehnten das rabbinische Judentum als Einigungs- und Einheitsbewegung, das auch einzelne Sadduzäer und Priesternachkommen integrierte. Selbstkritisch führte sie später den Verlust des Jerusalemer Heiligtums auf die Spaltungen und innerjüdischen Feindschaften bis hin zum Blutvergießen zurück.
Mit Rabbi Jehuda haNassi, oft einfach nur Rabbi genannt, kam etwa um das Jahr 200 herum dieser Prozess der Vereinheitlichung mit der Redaktion der Mischna zu einem ersten Abschluss.
Dieses „rabbinische Judentum“ ist das Fundament aller heute bestehenden Formen des Judentums. Für alle Richtungen ist es der Bezugspunkt des Glaubens und der religiösen Praxis. Will man einen Wesenskern des rabbinischen Judentums definieren, wird man die Etablierung der einen Tora in zweifacher Gestalt nennen, nämlich der schriftlichen Tora in der Bibel mit den drei Teilen Weisung (Tora als fünf Bücher Mose), Propheten sowie den übrigen Schriften und der mündlichen Tora, der Überlieferung, die das Schriftwort interpretiert und ergänzt. Wichtig dabei ist (wie wir bei Rabbi Akiva gesehen haben), dass im Verständnis des rabbinischen Judentums diese mündliche Überlieferung bereits im Augenblick der Offenbarung der schriftlichen Tora an Mose auf dem Sinai begonnen hat.
Die mündliche Tora behält ihren offenen und beweglichen (=mündlichen) Charakter auch dann, wenn seit der Mischna und später im Talmud und weiteren (literarischen) Werken bis in die Gegenwart diese aufgeschrieben überliefert wurde. Der mündliche Charakter zeigt sich vor allem in der Form ihrer Aneignung im laut gesprochenen Lernen und Diskutieren im Lehrhaus.
Die mündliche Tora wird vor allem im Lehrhaus vom Lehrer auf seine Schüler weitergegeben. Dieser Vorgang, der erstmals im Traktat „Sprüche der Väter“ in der Mischna benannt wird, sorgt in einem im einzelnen diffizilen Prozess für ein Bewahren der Tradition wie auch für Innovation und Erneuerung (hebräisch chidusch).
Das Judentum war so vom 2. bis 18. Jahrhundert eine relativ einheitliche und stabile Größe. Nicht nur deshalb gilt: Wer Judentum kennenlernen will, muss das rabbinische Judentum studieren. Da man, wie erwähnt, dafür nahezu zwingend einen Lehrer braucht, ergibt sich besonders für Nichtjuden ein nicht auflösbares Dilemma. Eine aktive Teilhabe am Lernprozess ist aus verschiedenen Gründen, die ihren Kern in immer wieder erfahrener Judenfeindlichkeit haben, so gut wie nicht möglich. So bleibt letztlich nur die Lektüre der schriftlichen Zeugnisse des traditionsgebundenen Judentums. Diese aber sind zu großen Teilen wegen ihres mündlichen Charakters und ihres Sitzes im Leben im Lehrer-Schüler-Verhältnis nicht aus sich selbst heraus zu verstehen. Von diesem Faktum rühren übrigens zahlreiche Missverständnisse über das Judentum in der nicht-jüdischen Welt her.
Um das genannte Dilemma, wenn schon nicht auflösen, so doch mildern zu können, habe ich mit dem freitäglichen „Wort zum Schabbat“ mit der Unterstützung von jetzt fünf jüdischen Lehrern einen Weg gefunden, doch kleine Bissen der mündlichen Lehre gemeinsam genießen zu können...
Innerhalb des rabbinischen Judentums gab es nichtsdestoweniger immer wieder Auseinandersetzungen, so zum Beispiel um die Relgionsphilosphie des Maimonides (1135–1204), oder es gab neue Strömungen, wie etwa den Chassidismus.
So sehr der Chassidismus neue Bräuche und Lebensäußerungen entwickelte und daher zunächst von manchen Lehrern im traditionellen Judentum bekämpft wurde, stand er doch ganz auf den genannten Fundamenten des rabbinischen Judentums. Ja, das Lehrer-Schüler-Verhältnis wurde sogar noch verstärkt und zu einer Gefolgschaft der Schüler, der Chassidim, hinter einem Zaddik (einem „Gerechten“) ausgeweitet.
Naftali Zwi Horowitz in Ropschitz in Galizien war einer dieser Zaddikim. Der Tradition zufolge wurde er am 22. Mai 1760, dem Todestag des Baal Schem Tow, des Begründers der chassidischen Bewegung, geboren. Er starb am 8. Mai 1827 und hinterließ zehntausende Schüler.
Horowitz war eine entscheidende Figur in der Entwicklung des galizischen Chassidismus. Es gibt viele Minhagei Ropschitz, „Bräuche von Ropshitz“, die von galizischen Chassidim befolgt werden. Er war bekannt für seine tiefe Weisheit, seinen scharfen Sinn für Humor und seine musikalische Begabung. Besonderen Wert legte er auf das Torastudium seiner Schüler.
Horowitz betonte die Macht des Gebets und sagte, dass ein Mensch in der Lage sein muss, unter allen Umständen zu beten und sich niemals entschuldigen soll: „Ich habe den Kopf jetzt nicht frei für das Gebet.“ Auf die Frage, wie ein Zaddik einen göttlichen Erlass rückgängig machen kann, antwortete er, dass ein Zaddik durch sein Handeln und Beten eine neue Welt erschafft, für die der alte Erlass nicht gilt.
Die Würdigung auf seinem Grabstein lautet:
Der Einzige in seiner Generation, der Gott kannte.
Bei Georg Langer wird er „Der heilige Rabbi Naftali von Ropschitz“ genannt. Aus Langers Buch „Neun Tore“ erhältst du heute „Das dritte Tor“:
In der nächsten Ausgabe folgen wir dann moderneren Richtungen des Judentums. Bis dahin grüße ich dich
herzlich, Dein Ricklef
PS: Vergiss nicht, heute abend um 18 Uhr bei der „Premiere“ bei YouTube dabei zu sein, wenn Dr. Yuval Lapide den Sinn und die Bedeutung von Jom Kippur erläutert: