ahavta+ || Gott und die Judenvernichtung
In der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 wurde ich etwa gegen 2 Uhr nachts von meiner weinenden Haushälterin geweckt, die mir mitteilte, es seien zwei SA- Männer gekommen, die erklärten, ich müsse sofort zu einer Besprechung mit ihnen kommen. Sie gaben mir Zeit, mich anzuziehen. (...) Auf der Straße vor meinem Haus, Brühler Hohlweg 18, stand ein Auto, auf dessen Führersitz ein gut angezogener Mann saß, und ich wurde von diesen drei Personen nach der Oberrealschule gefahren, und zwar an der in hellen Flammen stehenden Synagoge vorbei. In der Halle war ein wüstes Getöse, wildester Lärm, Klatschen von Schlägen, Schreie der Getroffenen, und ich sah als erstes, wie ein Mann in wilder Eile durch eine Meute von zwei Reihen SA-Männern hindurchstürzte, halb fiel und mit allen möglichen gefährlichen Werkzeugen bearbeitet wurde.
Das Gesicht zur Wand gedreht, die Arme ausgestreckt mussten die misshandelten Menschen sich an den Längswänden der Turnhalle aneinander reihen. Karl Heilbrunn wurde das Gesicht mittels einer Koppel blutig geschlagen. Die Verletzungen waren so schwer, dass ein SA-Mann es zuließ, dass ein Arzt sich seine Wunden ansah.
Hiebe prasselten von allen Seiten auf mich herab. Ich erhielt heftige Schläge, insbesondere auf den Kopf und zwar auf die Schläfe. (...) Der Schlag auf meiner rechten Schläfe war besonders heftig gewesen. Ich nehme an, dass er mit einem Koppelschloss erfolgt war. Das Blut schoss aus der Wunde hervor. Es drang über mein Gesicht, durch Mantel und Kleidung hindurch und floss auf den Erdboden. (...) Da mein Gesicht der Wand zugekehrt war, konnte ich von den Vorgängen in der Turnhalle nur wenig sehen. Ich konnte jedoch deutlich wahrnehmen, was sich an dem mir zunächst liegenden Klettergerüst abspielte. Dort zwang man nämlich die ältesten und schwächsten Juden, an den Kletterstangen empor zuklimmen, was ihnen naturgemäß nicht gelang. Die Meute versuchte nachzuhelfen, indem sie auf diese wehrlosen Opfer mit Knüppeln einschlug. (...) Der Lärm in der Halle war fürchterlich. Das Schreien und Toben dauerte stundenlang. Es war die Hölle. Ich habe niemals in meinem Leben etwas so entsetzliches durchgemacht.
Die Misshandlungen wurden bis in die frühen Morgenstunden fortgesetzt. Anschließend mussten die 180 Juden, die sich in der Turnhalle befanden, antreten und auf das Kommando ihrer Peiniger rufen: „Juda, verrecke!“. Gegen 6 Uhr wurden 170 von ihnen auf Lastwagen verladen und in das Konzentrationslager Buchenwald gebracht. Die meisten wurden im Laufe des Frühjahres 1939 freigelassen. Karl Heilbrunn gelang die Flucht nach England und das Überleben. (Zitate aus Juden in Thüringen. Beiträge anlässlich des Gedenkens an die Pogromnacht 1938, Landeszentrale für politische Bildung Thüringen 1998)
Unter diesem Titel veröffentlichte Rabbiner Jonathan Sacks anlässlich des Jom HaSchoa und des 75. Jahrestages der Befreiung eine Reihe von Videos, in denen er seine Sichtweise zu einigen der wichtigsten Fragen, die der Holocaust aufwirft, darlegte. Das Transkript der ersten von zehn Folgen gebe ich dir in deutscher Übersetzung wieder.
Wo war Gott Ihrer Meinung nach während des Holocausts?
Der Glaube ist für mich eine sehr persönliche Erfahrung, und natürlich gibt es viele Antworten auf die Frage „Wo war Gott im Holocaust?“, aber ich kann dir nur meine geben. Als ich das erste Mal in Auschwitz war, war ich schlicht überwältigt. Ich stand in Auschwitz-Birkenau auf den Zuggleisen, auf denen Juden aus ganz Europa vergast, verbrannt und zu Asche gemacht wurden. Die Nazis gefährdeten sogar ihre eigenen Kriegsanstrengungen, indem sie Eisenbahnzüge für das unerbittliche Böse abzuzweigen um des Bösen willen. Ich ging durch das Stammlager Auschwitz und sah die Koffer, die Brillen, die Haare – die Nazis behielten alles. Alles war es wert, aufbewahrt zu werden, außer einer einzigen Sache, dem menschlichen Leben.
Ich konnte das nicht glauben. Sie behielten die Koffer und töteten eineinviertel Millionen Menschen, eine viertel Million Kinder. Und dann sah ich die Fotos, denn anfangs wurden die nach Auschwitz geschickten Menschen dort fotografiert. Das wurde natürlich bald eingestellt. Aber es gab Fotos von vier-, fünf-, sechsjährigen Kindern. Ich bin einfach zusammengebrochen. Ich weinte und fragte mich: „Gott, wo warst Du?“
Und mir kamen Worte in den Sinn. Ich behaupte nicht, dass es sich um eine Offenbarung handelte, aber so lauteten sie: „Ich war in den Worten: ‚Du sollst nicht morden‘. Ich war in den Worten: ‚Du sollst einen Fremden nicht unterdrücken‘. Ich war in den Worten, die zu Kain gesagt wurden, als er Abel tötete (der erste Mord in der Bibel): ‚Das Blut deines Bruders schreit zu mir aus der Erde‘.“
Und plötzlich wusste ich: Wenn Gott spricht und die Menschen sich weigern zuzuhören, ist selbst Gott in dieser Situation hilflos. Er wusste, dass Kain im Begriff war, Abel zu töten, aber er hat ihn nicht aufgehalten. Er wusste, dass der Pharao im Begriff war, die israelitischen Kinder zu töten. Gott hat es nicht verhindert. Gott gibt uns die Freiheit und er nimmt sie nie wieder zurück. Aber er sagt uns, wie wir diese Freiheit nutzen sollen. Aber wenn die Menschen sich weigern, auf ihn zu hören, ist selbst Gott machtlos.
Und dann ist da noch die zweite Antwort: Diese habe ich von Überlebenden des Holocaust erhalten, von denen mir viele sagten, dass sie das Gefühl hatten, dass Gott persönlich bei ihnen war und ihnen die Kraft und den Mut zum Überleben gab. Es gab Menschen, die in Auschwitz ihren Glauben verloren haben. Es gab Menschen, die ihren Glauben behielten, und es gab Menschen, die in Auschwitz zum Glauben fanden. Eine der bewegendsten Geschichten ist meiner Meinung nach die, die Victor Frankl über sich selbst erzählt hat.
Als er zum ersten Mal nach Auschwitz kam, nahmen sie ihm alles, seine Kleidung, seine Identität und das, was ihm am wertvollsten war, abgesehen von seiner Frau und seiner Familie, nämlich das Buch, das er geschrieben hatte. Er sagte: „Als sie mir das wegnahmen, war mein Leben zu Ende.“
Und natürlich, nachdem man ihnen die Kleider abgenommen und alle in die Dusche geschickt hatte, erwartete er, dass das der Tod sein würde. Aber er war einer der Glücklichen. Es war wirklich nur eine Dusche. Und danach gaben sie ihm Kleidung, Kleidung von Leuten, die getötet worden waren. Er zog diese Kleidung an und fand etwas in einer der Taschen. Er nahm es heraus und sah, dass es ein Stück Papier war. Es war aus einem Siddur, einem Gebetbuch, herausgerissen worden.
Es enthielt diese Worte: „Schma Jisrael, Haschem Elokeinu, Haschem Echad“, Höre, Israel, der Herr, unser Gott, der Herr ist eins. „WeAhavta et Haschem Elokecha..." Und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit all deiner Kraft. Und Frankl sagte: „Diese Worte haben mich überwältigt. Sie sagten zu mir: ‚Jetzt musst du alles leben, was du jemals gelehrt und praktiziert hast. Du musst es hier, jetzt, in Auschwitz leben.’“
Und das gab ihm den Mut zu tun, was er dann tat, nämlich den Menschen den Willen zum Leben zu geben. Das ist der Ort, an dem Gott im Holocaust war. Er war in den Geboten, in der Heiligkeit des Lebens, die auf so grausame und verheerende Weise ungehört blieben, und er war in den Herzen einiger Überlebender, die zu Gott fanden und daraus Kraft schöpften.
Haben Sie nach dem Holocaust noch Vertrauen in die Menschheit?
Nach dem Holocaust habe ich das Gefühl, dass ich an Gott glauben muss, weil ich einfach nicht an die Menschheit glauben kann. Der Holocaust hat nicht in irgendeinem mittelalterlichen Jahrhundert stattgefunden. Der Holocaust fand nicht in einem unterdrückten Land der Dritten Welt statt. Er fand mitten im Herzen Europas statt. Er fand im Deutschland von Goethe, Schiller, Kant, Hegel, Bach und Beethoven statt. Er fand in dem Land statt, das sich selbst für das zivilisierteste der Welt hielt. In jenem Jahrhundert, das als das hehrste der Welt galt.
Es geschah im aufgeklärten, emanzipierten Europa. Und glaube nicht eine Sekunde dass dies nur Deutschland war! Hätte man im Jahr 1900 gefragt, welches die weltweiten Epizentren des Antisemitismus sind, hätte man nur zwei Antworten geben können. Paris, das Paris der Dreyfus-Affäre, und Wien, das Wien des notorisch antisemitischen Bürgermeisters Karl Luege.
Paris und Wien waren die kultiviertesten kosmopolitischen Städte der Welt, und doch waren sie weltweit führend im Antisemitismus. Der Holocaust wurde nicht von den Massen vorangetrieben und ausgelöst. Tatsache ist, dass mehr als 50 % der Ärzte in Deutschland Mitglieder der NSDAP waren. Der größte Philosoph Deutschlands, Martin Heidegger, war ein begeistertes Mitglied der NS-Partei. Der größte Jurist in Deutschland, Carl Schmitt, war der Rechtstheoretiker des Naziregimes.
Die Juden wurden über Nacht entlassen, jeder einzelne aus seinem Beruf, aus den Gerichten, aus der Justiz, aus der Medizin, aus dem akademischen Leben – und niemand hat protestiert. Und die Wahrheit ist, wenn man protestiert hätte, diese Proteste wären durchaus wirkungsvoll gewesen. Denn wir wissen, dass bestimmte Ärzte und bestimmte christliche Würdenträger tatsächlich gegen das Euthanasieprogramm protestiert haben. Und es wurde gestoppt. Aber niemand protestierte, als die Juden einfach über Nacht aus den Berufen entfernt und de facto zu Untermenschen erklärt wurden.
Es waren die führenden Köpfe in Deutschland. Die Wannseekonferenz im Januar 1942, auf der die Endlösung beschlossen wurde... Mehr als die Hälfte der Personen, die am Tisch saßen, waren Ärzte. Sie waren entweder Mediziner oder Leute mit Doktortitel, und sie waren diejenigen, die die Vernichtung aller 11 Millionen europäischen Juden beschlossen. Das war der Plan, dass ganz Europa judenrein sein sollte, frei von Juden.
Ich kenne niemanden, der nach so etwas noch an die Menschheit glauben kann. Es ist erschütternd und schockierend, und deshalb glaube ich, dass wir an das eine Wesen glauben müssen, das die Menschheit zu den Engeln und von den Dämonen weg gehoben hat. Und das ist Gott. Für mich ist der Glaube an Gott nach dem Holocaust schwierig, aber er ist notwendig.
Kümmert sich Gott um das Leben des Einzelnen, oder hat er nur sichergestellt, dass das jüdische Volk als Nation nicht völlig vernichtet wurde?
Wir glauben, dass Gott jedem einzelnen Menschen sein Bild und Gleichnis verliehen hat. Daher zählt jeder einzelne Mensch; er ist wichtig, hat Würde und ist heilig. Jeder Mensch ist einzigartig. Selbst eineiige Zwillinge haben nur 50 % ihrer Eigenschaften gemeinsam. Deshalb ist kein Mensch durch einen anderen ersetzbar. Gott kümmert sich um uns als Individuen und nicht als Gesamtheit, Klasse oder Gruppe. Das ist es, was den Holocaust so unerträglich macht, wenn man darüber nachdenkt. Die Weisen sagten, dass jedes Leben wie ein Universum ist, und wir als Volk haben 6 Millionen Universen verloren. Die Menschheit als Ganzes hat im 20. Jahrhundert über 100 Millionen Universen durch die Brutalität des Menschen gegen den Menschen verloren. Jeder Einzelne von uns zählt.