ahavta+ || Jesus der Jude
Jesus war Jude. Am Bremer Dom „predigen“ die Türen, durch die nicht nur Sonntags die Besucher der Gottesdienste, sondern täglich viele Hundert Besucher gehen, etwas anderes.
Die Türen wurden 1891 von dem Kölner Künstler Peter Fuchs entworfen. Das linke Portal zeigt Szenen aus dem Alten Testament, das rechte aus dem Neuen Testament. Bei dieser Tür sind Jesus und seine Jünger deutlich nichtjüdisch dargestellt, denn alle anderen Juden tragen Judenhüte und sind in antisemitischer Weise kenntlich gemacht sind. Die Formulierung „Judenfratze“ wurde dabei bereits im künstlerischen Gebrauch verwendet.
Ein jüdischer Besucher des Doms hatte 2003 gegen die fortwährende Herabsetzung seines Glaubens durch die Darstellungen protestiert. Die Verantwortlichen der St. Petri Domgemeinde dachten sechs Jahre darüber nach, ob er recht habe.
Während des Bremer Kirchentags 2009 wurde schließlich das Domportal „zum Mahnmal umfunktioniert“, wie eine Bremer Zeitung schrieb, und eine Gedenktafel neben dem Eingang angebracht.
Auf der Website der Domgemeinde liest man entsprechend:
Verschiedene Darstellungen der Israeliten und Juden tragen deutlich antisemitische Züge. Darin nehmen die Domtüren das christliche Kunstverständnis ihrer Zeit auf.
Die Domportale mahnen uns
Die St. Petri Domgemeinde ist sich bewusst, dass es sich hierbei um christliche Antijudaismen handelt. Sie weiß um die Shoa und das schwere Leid, das Jüdinnen und Juden zugefügt wurde. Auch unsere Gemeinde hatte daran ihren Anteil. Heute fühlt sie sich verpflichtet, das Verständnis zwischen Judentum und Christentum zu fördern.
Eine Aufforderung an jeden von uns
Daher versteht die St. Petri Domgemeinde diese Portale als Mahnmal. Es fordert dazu auf, sich Diskriminierungen aus ethnischen und religiösen Gründen bewusst zu machen und sie entschieden zurückzuweisen.
Damit und seitdem ist der Fall für die christliche Gemeinde erledigt. Ich frage mich und dich allerdings, ob man christliche Judenfeindschaft einfach durch eine Erklärung in eine Mahnung, gegen Diskrimierungen vorzugehen „ummünzen“ kann.
„Der ganz normale Antisemitismus“ hat Andreas Mertin seinen Beitrag von 2009 über die Domtüren überschrieben. Er stellt dort wichtige Fragen:
Man könnte nun, um es einmal zu pointieren und wie auch in der aktuellen Diskussion geschehen, damit argumentieren, dass doch außer Juden niemand die antisemitische Gestaltung des Bildes erkennen würde. Wenn dieses an sich schon ungeheuerliche Argument zutreffen würde – und ich will das nicht abstreiten -, dann wäre der gesamte Unterricht bundesrepublikanischer Schulen gescheitert, denn dann wären die Menschen heute nicht (mehr) in der Lage, antisemitische Stereotypen zu erkennen. Ist das so? Ich fände das erschreckend. Wenn man aber die herabsetzende Darstellung auf der Kirchentür erkennt und sie einfach für ethisch nicht so schlimm hält, was sagt man dann über den eigenen Umgang mit den antisemitischen Verbrechen des 20. Jahrhunderts aus? Und wenn man die Darstellung für unerträglich hält, meint sie aber den Besuchern unter Begleitung einer Gedenktafel zumuten zu können, was sagt man dann? Alle Bilder des Künstlers mit Ausnahme der antisemitischen und antijudaistischen Teile stimmen mit unserem Glauben überein, die kritischen aber nicht? Und infizieren die antisemitischen Bilder nicht alle anderen? Die guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen? Geht das so einfach? Wenn Jesus auf den anderen Bildern als Nicht-Jude dargestellt ist – in welcher Tradition befinden wir uns dann?
Andreas Mertin zieht diese Schlussfolgerungen:
Es ist merkwürdig, dass in Deutschland in den Kirchen die Symbolik des Nationalsozialismus nach 1945 aus den Kirchen entfernt wurden, nicht aber die den Antisemitismus der Nazis ermöglichenden und befördernden antijudaistischen und antisemitischen Bilder. Das gibt dann doch zu denken.
Ich kann nicht erkennen, welche theologischen Gründe die Beibehaltung dieser Darstellungen rechtfertigen. Alles an diesen Bildern ist falsch: das Dargestellte, die Ideologie und die Verbindung mit der christlichen Theologie. Wenn man auch nur für eine Sekunde den Gedanken von den Kirchen als Zeichen in der Stadt ernst nimmt, dann gehören die Darstellungen sofort entfernt, aber nicht um sie wegzusperren, sondern um an jenem Ort, an dem wir über Geschichte und deren kulturelle Vergegenwärtigungen diskutieren – dem Museum – in den Diskurs über die Judenverfolgung durch das Christentum einzutreten.
Den Fall der Bremer Domtüren habe ich nach einem guten Jahrzehnt hervorgeholt, weil er mir zeigt, dass die Kirchen 2022 keinen Schritt weiter sind. Das hat zur Folge, dass nun der Bundesgerichtshof in diesem Monat über die sogenannte „Judensau“ an der Wittenberger Stadtkirche entscheidet. Durch alle Instanzen hindurch kämpft ein jüdischer Kläger, um die Entfernung des Reliefs durchzusetzen.
Beschriftete Tafeln oder gar Videoleinwände, wie von Marc Felix Serrao im Beitrag der NZZ genannt, können zwar Erklärungen und Schuldeingeständnisse bieten, doch können sie weder in Bremen noch in Wittenberg in theologische Tiefen eindringen.
Die 1988 in den Boden unter dem Relief eingelassene Bronzeplatte zeigt zudem die Zeitbezogenheit aller deutenden Worte. Im vorletzten Jahr der DDR war es ein Durchbruch, dass die von dem Bildhauer Wieland Schmiedel gestaltete Arbeit mit dem Titel „Quetschung – Gegenzeichen zum Schmährelief an der Stadtkirche zu Wittenberg“ in den öffentlichen Raum gelegt werden konnte. Die beiden Inschriften gehen auf den Schriftsteller Jürgen Rennert zurück. Der Text der deutschen Inschrift lautet:
Gottes eigentlicher Name, der geschmähte Schem Ha Mphoras, den die Juden vor den Christen fast unsagbar heilig hielten, starb in sechs Millionen Juden unter einem Kreuzeszeichen.
Gemeint ist das Haken-Kreuzzeichen. Doch dass Gottes Name – und damit Gott selbst? – in der Schoa starb, ist für mich eine problematische Aussage, wenn sie von nichtjüdischer Seite kommt.
Dieser Text führt mich gerade in seiner Schwierigkeit weiter. Dazu ist zu bedenken, dass Jesus, der mit dem biblischen Schrei und der Frage, warum sein Gott ihn verlassen habe (Psalm 22,2), am Kreuz verschied, von seiner Geburt bis zu diesem Tod Jude gewesen ist.
Auf „eine Spurensuche“ hat sich der Heidelberger Professor Dr. Klaus Müller begeben und ist an vier Stationen dem jüdischen Lebensweg Jesu gefolgt. Er beginnt seinen Beitrag mit den Worten:
Die Jüdischkeit Jesu weist Christinnen und Christen an Israel, motiviert zur Begegnung mit dem Judentum. Jesus der Jude ist der nächst liegende Grund für eine christliche Öffnung zum jüdischen Volk hin. Jesus der Jude bestimmt die christliche Haltung zu Israel als tiefste Verbundenheit mit seinen jüdischen Schwestern und Brüdern und ihren Glaubenstraditionen. Jesus war Jude und hat ein jüdisches Leben gelebt. Ich will mit den folgenden Bemerkungen versuchen, diesen einfachen Satz zu belegen und auszuweisen an der christlichen und jüdischen Literatur.
Den Aufsatz gebe ich dir heute zum Lesen in einer Download-Datei:
In seinem Judesein ist Jesus der Garant für eine dauerhafte und tragende Verbindung zwischen Juden und Christen. Und so konnte der Jerusalemer Wissenschaftler David Flusser schreiben (siehe zu Flusser auch die Ausgaben ahavta+ #90 vom 2. Januar und #95 vom 6. Februar 2022):
Judentum und Christentum sind eine Religion.
Freilich, sie teilen eine Religion in unterschiedlichen Glaubensweisen und Glaubensäußerungen, die einen in der Bindung an den auferweckten Jesus Christus, die anderen heute zuallermeist ohne einen Bezug zu Jesus.
Gleichwohl, wenn Juden Geschwister in derselben Religion und im Dienst an demselben einen Gott, dem Schöpfer, Erhalter und Erlöser der Welt, sind, dann führt diese Erkenntnis, wenn sie denn gelebt wird, zu dramatischen Veränderungen.
Dann nämlich werden die Christen selbst von den judenfeindlichen Bildmotiven am Bremer Domportal beleidigt.
Dann nämlich werden Christen durch die „Judensau“, die plötzlich auch eine „Christensau“ ist, mit verhöhnt.
Die Erkenntnis in Kirche und Theologie, dass jede Judenfeindlichkeit zugleich Christenfeindlichkeit ist, ist dann auch, aber bei weitem nicht nur der Schlüssel zum Umgang mit antisemitischen Bildwerken an und in den Kirchen:
Magst du in eine Kirche gehen, durch deren Bau oder deren Kunst du selbst verhöhnt und beleidigt wirst?
Und diese Frage ist keine, die der deutsche Bundesgerichtshof, sondern nur eine Kirche, eine Gemeinde und jede Christin, jeder Christ für sich beantworten muss…
Die Erkenntnis, dass Judentum und Christentum eine Religion bilden, hat noch viele weitere Folgerungen. Nur wenn diese gelebt und praktiziert werden, bewahrheiten sie die Erkenntnis.
Über die sich ergebenden Folgen und Folgerungen schreibe ich dir in späteren Ausgaben mehr. Eine von ihnen sei aber jetzt genannt, weil sie ein Grundanliegen von ahavta+ darstellt: Kenntnisse über das Judentum und jüdisches Leben sind ebenso wichtig wie das Wissen von christlichen Glaubenszusammenhängen.
Daher kannst du dir heute eine neue Folge der Videothek jüdischen Lebens anschauen:
Rabbiner Andrew Steiman denkt bei seiner Antwort natürlich zunächst an seine eigene Hochzeit. Er hat unter der Chuppa geheiratet. Dieser Baldachin soll an das „Haus Israel“ erinnern, in das das Paar eintritt und nun ein solches gründet.
Traditionell bekommt nur die Braut einen Ring. Dieser Ring bedeutete früher ihre matierelle Absicherung im Fall, dass sie den Mann verlor. Rabbiner Steiman erläutert insbesondere die „Anheiligung“ der Braut durch ihren Ehemann.
Auch deswegen wird vor der Zeremonie in der Chuppa der Hochzeitsvertrag unterschrieben. Dieser Vertrag im Innenverhältnis ist das eigentlich für eine jüdische Ehe bedeutsame.
Die Trauzeremonie unter der Chuppa mit Publikum und Gästen dokumentiert die Ehe im Außenverhältnis.
Schließlich erklärt Rabbiner Steiman die Rolle Jerusalems und des Zusammenhangs von Trauer und Freude unter dem Hochzeitsbaldachin. Dies alles siehst du in dieser Folge der Reihe „Frag den Rabbi!“