ahavta+ || kühne Geschichten
Der theologische Kommentar zum „Brief an die Gemeinden in Galatien“ des Apostels Paulus, gewichtig in Inhalt wie Umfang, an dem Peter von der Osten-Sacken mehrere Jahre arbeitete, erschien 2019. Er richtet sich naturgemäß an ein Fachpublikum. Aufhören zu schreiben konnte er auch nach diesem opus magnum natürlich nicht. Aber es waren seine Enkel Leo, Carlo und Hannah, die ihn noch einmal zu einem anderen literarischen Genre führten.
Bereits anderthalb Jahrzehnte zuvor hatte er, wohl als „Fingerübung“, Jugendbücher geschrieben, damals noch unter einem Pseudonym – um Menschen, die gerne an seiner Reputation gesägt hätten, keine Angriffsfläche zu geben.
„Die Bibel und ihre kühnen Geschichten“ führte ihn freilich nicht weg von seinem Thema, der Bibelauslegung. Im Gegenteil, denn Auslegung geschieht, wie es die jüdische Überlieferung von Beginn an praktizierte, im Erzählen. Und so erzählt der Verfasser das erste Buch der Bibel. Es ist kein Nacherzählen, sondern auch ein Ausdeuten und Weiterdenken, immer wieder inspiriert von Midraschim der Juden. Und da Bilder mehr noch als Worte zu erzählen vermögen, hat er das Buch auch noch eigenhändig illustriert.
Zwei Seiten nur hat jedes Kapitel. Schon das ist kindgemäß. Und Peter von der Osten-Sacken hat immer wieder in seinen Enkeln Kinder vor Augen. Jedes Kind fragt in bestimmtem Alter: „Warum muss ich denn schon ins Bett?“ Des Verfassers Antwort im Kapitel „Warum schlafen wir?“ ist dann aber zugleich so philosophisch, theologisch wie auch ökologisch, dass der erwachsene (Vor-)Leser seine Freude daran hat.
Zur Erklärung des Buchtitels heißt es auf dem vierten Vorsatzblatt:
Und warum nennt er deine Geschichten kühn? fragte der Engel Scheálja den Herrn der Welt. Weil ich den Menschen entschwunden bin, antwortete ER.
Der Erzähler und Ausleger Peter von der Osten-Sacken bringt den Schöpfer der Welt und Gott Israels dir nahe und vielleicht sogar zurück…
BUCH GEBUNDEN, JANUAR 2022 IN DER 2. AUFLAGE, 160 SEITEN, 160 ABBILDUNGEN
Die Leseprobe reicht bis zum 6. Schöpfungstag. Für dich als Mitglied von ahavta+ füge ich noch die drei Kapitel über den „schönste(n) Tag“, den Abschluss der Schöpfung sowie die wichtige Frage „Wie spricht Gott zu uns?“ an.
Das Bild vom Ölbaum im Brief an die Römer des Apostels Paulus, Kapitel 11,17–24 gehört zu den wichtigsten Texten des Neuen Testamentes. Paulus verwendet das Bild vom edlen Olivenbaum für die Juden; mit dem wilden Olivenbaum meint er die Nichtjuden. So warnt er die Menschen, die aus den Völkern über Jesus Christus zum Gottesvolk Israel gekommen sind, vor Überheblichkeit:
Vielleicht hat man dich als Zweig vom wilden Ölbaum
in den edlen eingepfropft.
Dann wirst du jetzt vom Saft aus seiner Wurzel miternährt.
Aber denke nicht,
dass du den anderen Zweigen überlegen bist!
Wenn du es trotzdem tust,
dann denke daran:
Nicht du trägst die Wurzel,
sondern die Wurzel trägt dich!
(Übersetzung: Basisbibel)
Es ist ein Bild. Darin ist es so anschaulich wie einprägsam. Darin hat es jedoch auch seine Grenzen. Schon immer haben Ausleger, die das Bild über diese hinaus auspressen wollten, darauf hingewiesen, dass man gärtnerisch doch Bäume veredelt und in der Regel edlere Zweige auf einen wilderen Baum aufpfropft. Peter von der Osten-Sacken meint daher humorvoll: „Vielleicht verhält es sich … einfach so, dass das Stadtkind Paulus im Botanikunterricht mit seinen Gedanken woanders war.“
Zur Ehrenrettung des Apostels kann ich anfügen: Es gibt bei Bäumen das Phänomen der Inoskulation. Der Begriff leitet sich von der lateinischen Wurzel in + osculari ab, „nach innen hinein küssen“. Bäume, die diesen Prozess durchlaufen haben, werden in der Forstwirtschaft als Gemel bezeichnet, vom lateinischen Wort für „ein Paar“.
Meistens wachsen die Äste von zwei Bäumen derselben Art zusammen, aber auch bei verwandten Arten kann die Inoskulation beobachtet werden. Die Zweige wachsen zunächst getrennt nebeneinander her, bis sie sich berühren. An diesem Punkt wird die Rinde an den sich berührenden Flächen allmählich abgeschliffen, wenn sich die Bäume im Wind bewegen. Sobald sich das Kambium von zwei Bäumen berührt, veredeln sie sich manchmal selbst und wachsen zusammen.
Wenn ich dieses Bild auf das des Apostels Paulus lege, ergibt sich die Deutung: Der jüngere Baum, die Nichtjuden, die Menschen aus den Völkern haben ihre heidnische Wurzel verloren. Genährt werden sie jetzt von dem älteren Baum Israel aus der Kraft seiner Wurzel. Der jüngere ist ein Teil des älteren Baumes geworden; beide sind ein Paar. Gott hat aus Liebe zu allen Menschen den jüngeren in den älteren hineingeküsst. Es bleiben jedoch zwei Bäume, ihre Identität ist verschieden. Trotzdem gehen sie nicht getrennt durch die Zeiten, durch Sommer wie Winter.
Über das christliche Sandsteinrelief der sogenannten „Judensau“ an der Stadtkirche zu Lutherstadt Wittenberg hatte ich in zwei vergangenen Ausgaben von ahavta+ geschrieben (#122 und #124). Es wurde um 1290 geschaffen.
Welche Zeugnisse jüdischer Ikonographie des Mittelalters gibt es eigentlich? Aus dem Volk des Buches kommen natürlich so gut wie ausschließlich Buchillustrationen in Betracht.
In Spanien wurde 1340 die „Barcelona-Haggada“ geschrieben. Eine Haggada ist die Erzählung und Handlungsanweisung für den Seder an Erew Pessach, dem Abend des Fests der Befreiung der Israeliten aus der ägyptischen Sklaverei. Von alter Zeit bis heute sind Haggadot illustriert.
„Sklaven waren wir dem Pharao in Ägypten“. Diesen Satz der Haggada hat die Barcelona-Haggadah in eine bildliche Darstellung gefasst.
Die Sonne sticht am unteren Bildrand über den Israeliten, die als Sklaven Ziegel für Pharao backen müssen. In der Bildmitte werden sie von Aufsehern angetrieben.
Zwei Sonnen jedoch leuchten oben am Bildrand. Vielleicht ist die eine jedoch auch der endzeitliche Mond. In Jesaja 60,20 heißt es:
Deine Sonne wird nicht mehr untergehen und dein Mond nicht den Schein verlieren; denn der HERR wird dein ewiges Licht sein, und die Tage deines Leidens sollen ein Ende haben.
Die Himmelskörper strahlen über einem Hasen und einem Hund. Nicht selten sind Darstellungen in jüdischen Manuskripten, in denen Israel wie ein Hase – oder im Bild: als Hase – von den Nichtjuden, als Hund(e) dargestellt, gehetzt und gejagt wird. Hier aber – erlöst aus der Hand unserer Feinde – sind die Rollen vertauscht. Der Hase sitzt auf dem Thron und der Hund kommt, diesen zu bedienen und reicht ihm den Kelch.
Ein Bild der Hoffnung auf andere Zeiten mit vertauschten Rollen im Mittelalter, als die Christenheit sich in jüdischen Augen als Pharao aufspielte. Ein Bild des Trostes in Zeiten, in denen das „Sklaven waren wir“, עבדים היינו, nicht nur eine Vergangenheit war.
Hase und Hund erscheinen wie ein jüdischer Kommentar zur Sau, an deren Zitzen die Juden nuckeln…
(Meine Gedanken wurden angeregt durch die Forschungen von Marc Michael Epstein)