ahavta+ liest über Yad Vashem
Wie oft ich in den vergangenen 45 Jahren in Israel gewesen bin, habe ich aufgehört zu zählen, seit es bei der Einreise keinen der schönen Stempel mehr in den Reisepass gab. Fast immer war ich auch in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem. Denn sie war in stetiger Veränderung begriffen und Ungesehenes lud ein zum Besuch.
Ob es der Güterzugwagen der Reichsbahn war, dessen Geschwister einst nicht Vieh, sondern Menschen zur Schlachtung gebracht hatten und dessen Gleise nun in der Landschaft über Ein Karem abrissen…
oder das Tal der Gemeinden mit den Namen der Orte einstmals blühenden jüdischen Lebens – und in denen heute oftmals keine einzige Jüdin, keinen Juden mehr lebt…
oder das unterirdische Denkmal für die Kinder, in dem fünf Kerzen in der Dunkelheit einen ganzen Sternenhimmel entstehen lassen und die Namen, das Alter und der Geburtsort ermordeter Kinder erklingen, wobei erst nach etwa drei Monaten alle Namen genannt sind – und das mir fast jedes Mal neu die Tränen in die Augen treibt…
oder natürlich das 2005 eröffnete Museum zur Geschichte des Holocaust des genialen Architekten Mosche Safdie, dessen Ausgang sich in die Landschaft der Jerusalemer Berge hinein aufreißt.
Yad VaShem verändert sich, so wie sich die israelische Gesellschaft und ihre Erinnerung der Schoa ändert.
Die Shoah-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem ist wahrscheinlich der zentrale Schlüssel für ein Verständnis des jüdischen Staates Israel – von seiner Gründung bis in die Gegenwart und möglicherweise auch in die weitere Zukunft hinein. Start-Up-Nation, Frauenfragen, Minderheiten, Asylrechte, Nahostkonflikt, Besatzungspolitik und Friedensvisionen – praktisch alle tagespolitischen, ethischen und moralischen Themen scheinen sich auf die eine oder andere Weise immer neu mit den Fragen zu verbinden, mit denen uns diese Gedenkstätte konfrontiert.
Mit diesen Sätzen beginnt das Buch von
Georg Rößler, Nicht für Deutsche...? Yad Vashem als Ort und Wirklichkeit, Photos von Orli Hefetz-Haim, AphorismA Verlag Berlin 2021, 272 Seiten, 30 EUR
Insofern geben die 42 kurzen Kapitel des Bandes nicht nur Einblicke in die israelische Holocaust-Gedenkstätte, sondern verweben diese mit Darstellungen israelischer Identitäten seit der Staatsgründung. Das Buch ist natürlich für deutsche Leserinnen und Leser geschrieben und hat daher stets auch deren Befangenheiten, Befindlichkeiten – oder auch Abwehrhaltungen im Blick und reflektiert diese.
Mir unvergessen ist der Jurist und Stadtrat aus München, später Mitglied des Bundestages, der in dem historischen Museum Yad Vashems und vor einem Photo ausgemergelter Lagerinsassen unserer Gruppe lautstark erklärte „die deutschen Landser hätten in Stalingrad auch schrecklich gelitten!“
Diese verschiedenen Ebenen nicht nur zu verbinden, sondern immer wieder erhellende Schlüsse daraus zu ziehen ist Georg Rößler prädestiniert wie kein zweiter. Seit Mitte der 1980er Jahre begleitet er Studienreisen nach Israel und ist heute Mit-Eigner einer Jerusalemer Reise-Agentur, mit der auch ich zusammenarbeite, wenn ich mit Gruppen nach Israel komme.
Durch meine Ehe mit einer jüdischen Israelin habe ich wenige Jahre nach meiner Übersiedlung nach Israel 1988 einen zweiten, einen israelischen Pass erworben. Ich bin seit 30 Jahren Doppelstaatler und lebe damit einen nicht immer nur einfachen emotionalen Spagat: ich fühle mich meinem Herkunftsland Deutschland mit allen biographischen Fasern verbunden, während ich jetzt über die Hälfte meines Lebens die Geschichte, die Erfahrungen und das „Narrativ“ des jüdischen Staates Israel teile. Unsere drei Kinder haben wir als Menschen, als Israelis, als Juden und mit einem deutschen Vater aufwachsen lassen – in dieser Reihenfolge. Sie mussten sich früh ein dickes Fell wachsen lassen, wenn sie von ihren Schulkameraden mit der Herkunft dieses Vaters aufgezogen wurden. Deutscher und Nazi wurden nicht groß unterschieden. Für die Oberstufen-Schulfahrten nach Polen ergab sich für sie eine delikate Situation – in Auschwitz, Treblinka und anderen Schreckensorten begegneten sie auf paradoxe Weise ihrer Herkunft als Nachkommen sowohl der Opfer als auch der Täter…!
Es geht in erster Linie nicht um uns!
Ein Besuch in Yad Vashem sei, schreibt Georg Rößler, nicht zu vergleichen „mit einem Besuch von anderen Gedenkstätten wie Dachau, Sachsenhausen oder gar Auschwitz – auf den Spuren der Verbrechen, die von Deutschen oder in deutschem Namen verübt wurden.“ Dafür müsste man auch gar nicht bis nach Israel reisen, gäbe es „doch in hinreichender Zahl entsprechende Orte in großer räumlicher Nähe Deutschlands.“ Vielmehr sei Yad Vashem
eine Gedenkstätte, die sich der jüdische Staat Israel stellvertretend für das jüdische Volk gestiftet hat, um seine eigene Geschichte mit dem Dritten Reich zu B und verarbeiten. Dieser Gedenkort kann in seiner Betrachtung immer auch im Verhältnis zu den Entwicklungen gesehen werden die es in seinem Selbstverständnis über die Jahre erfahren hat. Bei einem Besuch etwa James erfahren wir, wie sich der jüdische Staat Israel seine Geschichte erzählt. Als Deutsche sind wir Teil dieser Geschichte. Aber es geht in erster Linie nicht um uns!
Und:
Treten wir deswegen aus unserer eigenen Befindlichkeit heraus und machen uns als neugierig-interessierte Besucher und Besucherinnen auf den Weg, dieses Land über diesen besonderen Ort tiefer begreifen zu wollen.
So ist das Werk des Autors Georg Rößler also auch ein gutes Buch der Vorbereitung einer Israelreise. Dazu dient auch das beiliegende Leporello, das einen Lageplan der Gedenkstätte beinhaltet.
Wie verläuft die Grenze zwischen Werktag und Schabbat? Wann beginnt der Schabbat konkret? Weshalb werden zu dessen Anfang zwei Kerzen entzündet? Und warum bedeckt man sich dabei die Augen? Was ist der Unterschied zwischen dem Schabbatbeginn in der Synagoge und zuhause in der Familie?
All diese Fragen und mehr beantwortet Landesrabbiner Alexander Nachama in der neuen Folge der Reihe „Frag den Rabbi!“ im Gespräch mit mir.
Rabbiner Nachama zitiert im Film auch diesen Midrasch aus dem babylonischen Talmud Schabbat 119b:
Es ist gelehrt worden: Rabbi Josse bar Jehuda sagte: Zwei Dienstengel geleiten einen am Abend nach Sabbateingang von der Synagoge nach Hause, ein guter und ein böser. Kommt man nun heim und findet das Licht angezündet, den Tisch gedeckt, das Bett zurecht gemacht, dann spricht der gute Engel: Gebe Gott, dass es auch am nächsten Sabbat so sei, und der böse Engel fällt wider seinen Willen mit Amen ein. Verhält es sich aber umgekehrt, dann spricht der böse Engel: Gebe Gott, dass es auch am nächsten Sabbat so sei, und der gute Engel fällt wider seinen Willen mit Amen ein.
Auf den ersten Blick klingt der Midrasch wie ein moralischer Appell. Es geht jedoch um mehr. Denn im Abendgebet bei Sabbateingang werden die Verse 1. Mose 2,1–3 gelesen: „Vollendet waren der Himmel und die Erde, und all ihre Schar. Vollendet hatte Gott am siebenten Tag seine Arbeit, die er machte, und feierte am siebenten Tag von all seiner Arbeit, die er machte…“
Wajechullu, „vollendet waren“, kann man, da im Hebräischen keine Vokale geschrieben sind, auch als wajechallu lesen: „sie vollendeten“ – nämlich Gott und der Beter gemeinsam vollendeten das Schöpfungswerk mit dem Sprechen des Gebets am Sabbateingang.
Raw Hamnuna lehrte: Wer das Abendgebet bei Anbruch des Sabbats verrichtet und hierbei wajechullu (nämlich die Schriftverse 1. Mose 2,1–3) spricht, den sieht die Schrift so an, als wäre er Teilhaber Gottes am Schöpfungswerk. … Raw Chisda lehrte im Namen von Mar Ukwa: Wer bei Beginn des Sabbats im Abendgebet wajechullu spricht, dem legen die beiden Engel, die den Betenden nach Hause geleiten, die Hände segnend aufs Haupt und rufen ihm die Worte aus Jesaja 6,7 zu: „Und so weicht deine Sünde und deine Schuld ist gesühnt.“