ahavta+ || öffnet mir die Tore der Gerechtigkeit
Die Jüdische Landesgemeinde Thüringen ist erwachsen geworden. Die Feier des 70. Geburtstags ihrer Erfurter Synagoge richtete sie selbst aus und lud viele Gäste ein, dabei zu sein. Am 29. August 2002 hatte noch eine jüdisch-christliche Gemeinschaftsfeier im Erfurter Dom an die Einweihung vor damals 50 Jahren erinnert. Eine solche Feier zu solchem Anlass in einer christlichen Kirche war damals freilich ein Novum. Auf jüdischer Seite wurde sie vom damaligen Dortmunder Landesrabbiner und jüdischen Vorsitzenden des Deutschen Koordinierungsrates Henry G. Brandt ז״ל geleitet. Leitwort der Gemeinschaftsfeier war eben jener Vers aus dem 118. Psalm „Öffnet mir die Tore zur Gerechtigkeit“.
Der MDR fasste das Ereignis vom 31. August 2022 in einem kurzen Film zusammen:
In den Synagogen wurde gestern der Wochenabschnitt „Schoftim“ gelesen. Bei ahavta - Begegnungen sprach dazu Rabbiner Dr. Walter Rothschild. Teil der Parascha ist in 5.Mose 17,16 auch das Verbot „Ihr sollt hinfort nicht wieder auf diesen Weg (nach Ägypten) kehren!“. Dreimal verbietet die Tora ausdrücklich die Rückkehr nach Ägypten, wo die Israeliten einst in Gefangenschaft und Sklaverei waren (2.Mose 14,13 und 5.Mose 25,65: „Du sollst Ägypten nicht wiedersehen.“).
Der Talmud berichtet in Sukka 51b von den schrecklichen Folgen einer solchen gemeinschaftlichen Übertretung, der Vernichtung der jüdischen Gemeinde in Alexandria durch den römischen Kaiser Trajan im Jahr 116 n. Chr. Dessen ungeachtet gab es später wieder eine jüdische Gemeinde in Alt-Kairo, damals Al-Fustat. Ja, sogar der „Tora-Gigant“ Moses Maimonides (Mosche ben Maimon, 1138-1204) verbrachte die letzten 40 Jahre seines Lebens in Fustat. Angeblich unterschrieb er mit „Mosche ben Maimon, der das Verbot 'Du sollst nicht mehr auf diesem Weg zurückkehren' übertritt.“
Zu seinen Lebzeiten bestand in Fustat bereits – insbesondere während der Fatimidenzeit (909-1171) – eine blühende Gemeinde mit internationalen (Handels-)Beziehungen. Das wissen wir aus der berühmten Kairoer Genisa. Doch über diese ein anderes Mal mehr… Die Gemeinde, die aus dem 7. Jahrhundert n. Chr. stammt (dem Beginn der islamischen Präsenz in Ägypten), verbindet sich stolz mit den Exilanten der jüdischen Diaspora, wie ein detaillierter Stammbaum aus eben der Kairoer Genisa beweist, der ihre Abstammung bis zu König David und Adam, dem ersten Menschen, zurückverfolgt.
Ungemein beeindruckend finde ich, dass der Rambam (die Abkürzung für Rabbi Mosche ben Maimon) wohl bereits mit Blick auf die oben abgebildete Tür des Tora-Schreines gebetet hat. Denn u.a. die Art der Schreibung des Gottesnamens in der unteren Zeile ganz links (obere Zeile wie in Erfurt: Tut mir auf die Tore der Gerechtigkeit, untere Zeile die Fortsetzung des Verses Psalm 118,19: Das ist das Tor des HERRN) zeigt, dass diese Schriftzeilen aus dem 11. Jahrhundert stammen; die islamisch beeinflusste Ornamentik in der Mitte ist etwas jünger. Allerdings gab es damals mehrere Synagogen in Al-Fustat. Die rabbinische Gemeinde setzte sich aus Juden zusammen, die den Bräuchen Babyloniens folgten, und solchen, die den Bräuchen Palästinas folgten (wie z. B. die Ben-Esra-Gemeinde), die jeweils ihre eigenen Synagogen hatten. Daneben gab es auch noch eine karaitische Gemeinde, die die Autorität der talmudischen Rabbiner ablehnte.
Damals blühte das Judentum in islamischer Mehrheitsgesellschaft, heute behauptet sich die kleine Jüdische Landesgemeinde Thüringen in kaum mehr christlicher, sondern eher säkularer Mehrheitsgesellschaft in Deutschland.
Übrigens soll nach Zeugenberichten die Tür des Toraschreins noch im 19. Jahrhundert in Gebrauch gewesen sein. Heute befindet sie sich im gemeinsamen Besitz des Walters Art Museum, Baltimore, und des Yeshiva University Museums, New York.
Insgesamt 72 Mal wird der Schofar in der hebräischen Bibel erwähnt, erstmals im Buch Genesis, als Abraham einen Widder an Isaaks statt opfert. Seither gilt der Klang des Widderhorns als Symbol für das Bündnis mit Gott. In der Bibel wird „die Posaune“, wie die Luther-Bibel das Widderhorn übersetzt, allerdings zumeist in militärischen Kontexten erwähnt. Der Schofar begleitete die Israeliten im Kampf und half, den Feind zu besiegen. So heißt es im Buch Josua über die „Posaunen von Jericho“: „Als die Menschen den Ton des Schofars hörten, riefen sie mit einem großen Geschrei, und die Mauern stürzten ein“ (6,20).
Seit dem Mittelalter hat sich die Deutung des oben bereits erwähnten Rambam durchgesetzt. In seinem Werk Mischne Tora schreibt Maimonides in den Lehren zur Teschuwa, zur Umkehr:
Das Blasen des Schofars ist symbolisch, und soll ausdrücken: „Ihr, die ihr schlaft, erhebt euch aus eurem Schlaf, und ihr, die ihr schlummert, erhebt euch aus eurem Dämmerzustand, prüft euer Verhalten, kehrt um in Reue!
Auf judentum.online wird dies so interpretiert:
Von welchem Schlaf ist hier die Rede, denn normalerweise sind die Menschen, welche das Schofar hören(,) hellwach? Die Antwort ist, dass der Rambam nicht den Schlaf meint, welchen wir alle kennen, sondern den Dämmerschlaf des alltäglichen Lebens und der Hetze. Unser Alltag wird immer schneller und wir hasten von einem Termin zum anderen. Am Abend sind wir todmüde und am nächsten Morgen fängt alles wieder von vorne an. Wir haben überhaupt keine Zeit mehr nachzudenken. Wohin rennen wir überhaupt? Was sind unsere Ziele im Leben und was machen wir, um sie zu verwirklichen? Inwiefern erfüllen wir den Willen G´ttes? Sind wir ein/e gute/r Vater/Mutter, Sohn/Tochter und Ehemann/Ehefrau? Das ist die Botschaft des Schofars, uns aufzuwecken (und wenn nötig aufzurütteln) und uns daran zu erinnern, was wirklich unsere Werte sind und ob wir uns in die richtige Richtung bewegen. Der erste Schritt, welcher von uns erwartet wird, ist die Erkenntnis, dass wir uns im Laufe der Zeit und in der alltäglichen Hast von G´tt entfernt haben und zurückkehren müssen. Sobald dieser Schritt gemacht ist, kann alles weitere folgen.
Damit während der Hohen Feiertage zwischen Rosch HaSchana und Jom Kippur diese Teschuwa, Umkehr oder Reue, erfolgen kann, ist seit Rabbiner Josef Karo (1488–1575) in seinem Schulchan Aruch festgelegt, dass während des gesamten Monats, der dem Neujahrsanfang vorangeht, der Schofar geblasen wird (außer Schabbat).
Für dich macht das Ephraim Blunk aus Husum, der mit seinem Schofar zu Sonnenaufgang vor das Wattenmeer getreten ist:
Die Tonfolgen des Schofarbläsers
Die Frankfurter Allgemeine Zeitung schrieb am 01.09.2022 (Nr. 203, S. 12) zum Tod der jüdischen Theologin Ruth Lapide:
Ein Beispiel nur, wie Ruth Lapide mit Kritik an in ihren Augen fehlerhaften Übersetzungen der biblischen Schriften nicht sparte: die Vaterunserbitte "Und führe uns nicht in Versuchung". Korrekt müsse es heißen: "Lass uns der Versuchung nicht erliegen" oder "Führe uns in der Versuchung". Mit solchen Eingriffen suchte die jüdische Theologin und Historikerin eine Verständigung zwischen Judentum und Christentum zu fördern, als ein Projekt der Textarbeit statt abstrakter Appelle. Im genannten Fall hatte Lapide den Papst auf ihrer Seite, dem ebenfalls eine Neuübersetzung des Verses lieber gewesen wäre, allein die Deutsche Bischofskonferenz gab mit wiederum philologisch-theologischen, nicht zuletzt ökumenischen Argumenten zurück, dass eine Neuübersetzung nicht notwendig sei.
Lapide wusste, dass sich die ihr wichtigen Nuancen beim Übersetzen nicht verabsolutieren lassen, dass diese Arbeit stets im Vorläufigen operiert. Gebe es doch nie die eine richtige Übersetzung, sondern nur mehr oder weniger triftige Varianten. Doch schon eine lebendig geführte gelehrte Kontroverse zwischen den Religionen war für Lapide ein Mittel, einander näher zu kommen. So nahm sie bereitwillig solche Kontroversen auf, dabei im Aramäischen und Hebräischen so sprachkundig wie im Griechischen und Lateinischen. In Büchern, Interviews und Essays meldete sie sich bis ins hohe Alter zu Wort, begleitet von großem interreligiösen Respekt.
Aufgewachsen in der Nähe von Würzburg, floh Ruth Lapide mit ihren Eltern 1940 nach Israel, studierte in Jerusalem Judaistik, Politologie und Geschichte, lernte dort ihren Mann, den Religionswissenschaftler Pinchas Lapide, kennen, mit dem sie 1974 nach Frankfurt übersiedelte. Dort ist sie am Dienstag im Alter von 93 Jahren gestorben.
Heute setzt der Sohn Yuval Lapide die Arbeit seiner Eltern fort. Er ermöglicht es, dass demnächst im YouTube-Kanal von ahavta - Begegnungen fünf Vorträge seines Vaters Pinchas Lapide wiederveröffentlicht werden können.
Den Kompaktkurs Begegnung mit dem lebendigen Judentum von Yuval Lapide kannst du dir bis dahin hier ansehen: