ahavta+ öffnet neun Tore
Immer wieder begegnet man Christen, die meinen, Juden lebten „defektiv“. Ihnen würde vor allem der Erlöser, der Messias, fehlen. Im Gespräch mit mir betont Rabbiner Andrew Steiman, dass es auf jüdischer Seite nicht „die Juden“ gibt, sondern eine Vielzahl von Vorstellungen von Erlösung – abgesehen davon, dass für die Mehrzahl der Juden, nämlich die nicht religiös und säkular Lebenden, dies gar kein Thema sei.
Eine Gruppe allerdings gäbe es mit einer sehr aktuellen Messias-Erwartung. An dieser könne man geradezu die Entstehung des Christentums studieren.
Meine Frage war die achte in der Videothek des Judentums, die du dir nach und nach und exklusiv bei ahavta+ aufbauen kannst. Die bisherigen lauteten:
Die chassidische Welt ist heute groß und stark in Israel und in den USA. Aber sie stammt aus Osteuropa. Dort wurde sie ausgelöscht durch die Schoa. Was machte die Bewegung dort seit dem 18. Jahrhundert attraktiv? Die oben zitierte „Liebe zu Gott, Liebe zu Israel und Liebe zur Tora“ verbindet alle Juden. Neu waren die Entdeckung eines unmittelbaren Weges zu Gott über einen Lehrer und Meister, den Rebbe, die Entdeckung von Freude und Freiheit auch in Armut, sogar in Entbehrung und Not.
Der Chassidismus ist die Frömmigkeitsbewegung der einfachen Juden. Viele Chassidim waren keine Gelehrten, obwohl sie natürlich Tora lernten, sondern Menschen des Volkes. Von Beginn an war die Bewegung im Volk verwurzelt.
„Man braucht sich nicht zu kasteien“. Der Baal SchemTow erzählt dazu:
Ich reiste mit einer Kutsche, die von drei Pferden gezogen wurde – jedes hatte eine andere Farbe, und keines wieherte. Und ich verstand nicht, warum die Tiere stumm waren. Bis zu dem Tag, an dem ich einem Bauern begegnete, der mir zurief, die Zügel doch locker zu lassen. Auf der Stelle begannen die drei Rosse zu wiehern.
Damit die Seele in Schwingung gerät, muss man sie freilassen. Und man braucht einen Lehrer, der einem zeigt, wie das geht. Rabbi Löw erzählte:
Dass ich zum Maggid, zum Wanderprediger, fuhr, war nicht, um Lehre von ihm zu hören; nur um zu sehen, wie er die Filzschuhe aufschnürt und wie er sie schnürt.
Lehre ist also kein Wissen, sondern muss als Einheit von Wort und Tun verstanden werden; als Einheit von Tora und Leben. Die biblischen Gebote sind daher auch keine Lernworte, sondern Lebeworte. Und gelebt werden sollen sie nicht nur dem Kopf, sondern durch den ganzen Menschen.
Darum sind den Chassiden die Einfachheit und die Demut wichtig. Demütig ist, wer den anderen wie sich selbst fühlt und sich in dem anderen. Denn – er ist wie du.
Wer die Glut haben will, soll nicht auf den Berggipfeln suchen, wo man nur Sturm erntet; er soll sich lieber bücken und sie unter der Asche suchen.
Demütig und einfach vor Gott, dem Herrn, zu leben, ermöglicht einen direkten Zugang zu ihm, verlangt gleichwohl auch Klugheit:
Eines Tages bemerkte der Rabbi, dass Lejser-Gabbe verdüstert dreinschaute. „Was hast du, Lejser?“ fragte er ihn. „Ach, einen Streit mit unserem Herrgott. Ich sprach zu Gott: Unser Rabbi sagt, dass bei Dir, o Gott, tausend Jahre wie ein Augenblick sind. Wenn dem so ist, sage ich Dir, ich Lejser-Gabbe, dass tausend Dukaten bei Dir soviel wie ein Dukaten sind. Was schadet es Dir, Herr im Himmel, wenn Du mir, dem Lejser, einen solchen Dukaten gibst?!“ „Und was sagte Gott dazu?“ „Gott sagte: Lejser-Gabbe, warte einen Augenblick!“
Vor allem erlaubt diese persönliche Beziehung zu Gott die Haltung, dass letztlich alles gut ist, wie es ist. Weil es nicht darauf ankommt, wie es ist.
Rabbi Mordechai sprach: „Man darf sich nicht sorgen. Eine einzige Sorge ist dem Menschen erlaubt: darüber, dass er sich Sorgen macht.
Rabbi Michal sprach: Mein Leben war damit gesegnet, dass ich nie eines Dings bedurfte, ehe ich es besaß.
Jiří (Georg) Langer (1894–1943) kannte den Chassidismus im Osten wie kaum ein anderer aus Mitteleuropa. Anders als dessen berühmtere Chronisten Martin Buber, Simon Dubnow oder Gershom Scholem, erlebte er ihn „aus erster Hand“.
Was für eine Geschichte: Ein Sohn aus gutem, bürgerlichen Prager jüdischen Hause wird zum Aussteiger. Von einem Tag auf den anderen verschwindet er, um sich in Belz, rund tausend Kilometer östlich, in der hintersten Provinz, jedoch für die Chassidim im „jüdischen Rom“, diesen anzuschließen – in einer für die Westjuden rückständigen Welt mit Wunderrabbis und religiöser Ekstase, die sie „aufgeklärt“ belächelten oder sogar bekämpften. Am Hof von Rabbi Jissachar Dow Rokeach studiert er den Talmud und andere heiligen Schriften und teilt mit den Chassidim das Leben.
Nach langen Aufenthalten unter den Chassidim in Belz findet Jiří Langer nach dem Ersten Weltkrieg mühsam in das bürgerliche Prager Leben zurück. Er wird ein Freund Franz Kafkas und sein Hebräischlehrer. Er gehörte zu den Menschen, mit denen Kafka sich über die Grundfragen jüdischer Existenz austauschte. Die Chassidismus-Spuren in Kafkas Werk gehen wesentlich auf seinen Einfluss zurück.
Als die Deutschen 1939 in Prag einmarschieren, steht der weitgehende Untergang der jüdischen Welt bevor. Unter dramatischen Bedingungen gelingt Jiří Langer auf einem Auswandererschiff über die Donau die Flucht nach Palästina, wo er beginnt, auf Hebräisch Gedichte zu schreiben. 1943 stirbt er als Mordechai Langer an den gesundheitlichen Folgen der Flucht in Tel Aviv.
1937 kehrte Jiří Langer mit „Neun Tore“ noch einmal literarisch zur Welt der Chassidim und zu den verlorenen Wurzeln der Moderne zurück – und hinterliess der Weltliteratur einen Schatz. Langer war ein Grenzgänger, der sich auf beiden Seiten einer gespaltenen, in seinem Werk noch einmal vereinigten Welt auskannte, ohne auf einer von ihnen wirklich zu Hause zu sein. Darum ist er in seinem Buch auch kein naiver Erzähler; mitunter augenzwinkernd lässt er das seine Leser wissen.
Die „Neun Tore“ sind Bezirke der Heiligkeit. Und die Metapher steht vielleicht nicht zufällig in Beziehung zu Franz Kafkas Parabel „Vor dem Gesetz“. Mit seinem Erzählen von der Welt der Chassidim und ihren Geschichten hat Jiří Langer die Tore durchschritten in die jedenfalls in Belz untergegangenen Welt gelebten Gesetzes. Möglicherweise liegt gerade in der Macht des Erzählens und des Erzählten das Geheimnis der Chassidim. Dem Leser hat Langer es eröffnet.
Friedrich Thierberger hat auf Anregung von Gershom Scholem die „Neun Tore. Das Geheimnis der Chassidim“ 1959 aus dem Tschechischen übersetzt. Von mir erhältst du heute das Einführungskapitel. Durch die einzelnen Tore wirst du zu späterer Zeit geführt werden.
Wenn du dich mit Jiří Langer auf die Reise begibst, wirst du spüren, dass Juden nichts fehlt, meint dich herzlich grüßend
Dein Ricklef