ahavta+ schaut auf die Verzierungen in der Tora
Die kleine Textrolle mit dem Schma Israel, dem „Höre Israel“, die für eine Mesusa an der Tür eines jüdischen Hauses bestimmt ist, zeigt sehr schön, wie der Sofer, der Schreiber, einige der Buchstaben mit kleinen Strichlein versehen hat, die teilweise wie eine Krone auf dem Buchstaben aussehen. Selbst der kleinste Buchstabe, das Jod, trägt ein Häkchen, das über die obere Linie ragt (siehe dazu unten).
In Folge 19 der Videothek des jüdischen Lebens geht es auch um diese Häkchen auf den Buchstaben. Aber nicht nur…
Warum Mose eher ein schlechter Schüler gewesen ist, obgleich er doch die Tora erhalten hat; warum sogar der Umweltschutz schon im der Tora enthalten ist; warum Mose auch Schreiber der Tora gewesen ist…
Diese und weitere Fragen beantwortet der Thüringer Landesrabbiner Alexander Nachama im Gespräch mit mir in der Erfurter Synagoge. Er erklärt, was wann aus einer Tora gelesen wird und weshalb dazu mehr als eine Torarolle benötigt wird. Zum Schluss hüllt er die Tora wieder in ihren Mantel und hebt sie zurück in den Tora-Schrein.
Die bisherigen Folgen der Reihe „Frag den Rabbi!“ kannst du unter dem folgenden Link aufrufen:
In deinem ahavta+ Mitgliederbrief vom 5.09.2021 bin ich schon einmal in anderem Zusammenhang auf die Geschichte von Rabbi Akiva eingegangen, die Rabbiner Nachama im Film erzählt. Ich wiederhole den Abschnitt hier:
Rabbiner Nachama sagt, eine Synagoge ist ein „Haus der Versammlung“. Früher mehr als heute versammelte man sich dort auch zum Lernen der Tora. Lehrhaus und Synagoge waren einst wohl keine getrennten Orte; vorstellen kann man sich das ganz gut in der Synagoge, die auf Massada ausgegraben und restauriert worden ist.
Eine Erzählung im Talmud Traktat Menachot 29b lässt Mose, dessen Vater ihn nie dorthin mitnehmen konnte, in der Synagoge bzw. im Lehrhaus sitzen, und zwar auf den hintersten Plätzen, die Rabbiner Steiman so schön beschrieb. In der Zeit von Rabbi Akiva, im 2. Jahrhundert, war auch dort ein „Kommen und Gehen“, saßen da doch die neugierigen Anfänger im Studium, während den bereits gelehrten Schülern die Plätze in den vorderen Reihen zukamen. Hier der talmudische Text:
In der Stunde, da Mose zur Höhe hinaufstieg (um die Tora zu empfangen), fand er den Heiligen, gelobt sei er, wie er saß und die Buchstaben (der Tora) mit Krönchen umwand (so wie ein Toraschreiber die Buchstaben der Tora mit kleinen Kronen verziert). Da sprach er vor ihm: Herr der Welt, wer hält deine Hand zurück? (Gemeint ist: Wer hält dich davon ab, die Tora auch ohne diesen Zierat zu geben) Er sprach zu ihm: Nach einer Reihe von Geschlechtern wird es jemand geben — Akiva ben Josef sein Name —, der wird aus jedem einzelnen dieser Häkchen haufenweise Halachot erforschen. Er sprach vor ihm: Herr der Welt, zeige ihn mir! Er sprach zu ihm: Wende dich um!
Er ging und setzte sich ans Ende der acht Reihen (im Lehrhaus Akivas), doch er verstand nicht, was sie sagten. Da schwand seine Kraft.
Als er (Akiva) zu einer (bestimmten) Sache kam, sprachen seine Schüler zu ihm: Rabbi, woher hast du das? Er sprach zu ihnen: eine Halacha an Mose vom Sinai. Da beruhigte sich sein (Moses) Sinn.
Dem Text wohnt eine tiefe Ironie inne. Rabbi Akiva war in seiner Auslegung der Tora der Auffassung, dass kein einziges Wort der Tora überflüssig, gleichsam umsonst geschrieben sei und in diesem Sinne auch kein einziger Buchstabe – nicht einmal das Häkchen auf dem kleinsten Buchstaben, dem Jod (Jota im Neuen Testament, Matthäus 5,18). Daher ist es Aufgabe des Lernens und Auslegens der Tora, bei jedem „Jota und Häkchen“ im geschriebenen Text die ihm innewohnenden Bedeutungen herauszuholen und sichtbar, verstehbar zu machen.
Nur versteht Mose, der doch der erste Empfänger der Tora geworden ist, von all diesen Ergebnissen der Auslegung (welche die mündliche Tora darstellt) gar nichts, als er bei Rabbi Akiva zuhören darf. Er versteht sozusagen „nur Bahnhof“. Sein Sinn beruhigt sich erst, als Rabbi Akiva seinen Schülern auf Nachfrage erklärt, die Lehre, die er ihnen gerade darstellt, sei „Halacha an Mose vom Sinai“ – also identisch mit der Mose am Sinai offenbarten Tora. Denn mündliche und schriftliche Tora sind eins.
Die Erzählung aus dem Talmud ist hier angeführt, weil sie sichtbar werden lässt, wie sich innerhalb des rabbinischen Judentums ein und dieselbe Tora, die „uralte Tora vom Sinai“ immer wieder „verändert“ hat, indem die Lehrer Israels zu allen Zeiten neue und bislang unbekannte Lehren und Ausdeutungen aus ihr gezogen haben. (Vergleiche Matthäus 13,52: „Darum gleicht jeder Schriftgelehrte, der ein Jünger des Himmelreichs geworden ist, einem Hausvater, der aus seinem Schatz Neues und Altes hervorholt.“)
Heute will ich dich zusätzlich darauf hinweisen, dass wir bei Jesus im Matthäus-Evangelium dieselbe Überzeugung finden.
In der Bergpredigt Jesu hören wir Matthäus 5,21–48 die von den Theologen so genannten „Antithesen“. Jesus zitiert mehrfach Gebote der Tora mit der Einleitung: „Ihr habt gehört, dass (zu den Alten) gesagt ist…“, um dann seine Auslegung dieser Gebote zu geben: „Ich aber sage euch…“. In der Theologie wurde immer wieder gelehrt, Jesus hätte sich mit seinen Worten von den Lehren der jüdischen Väter (und Mütter) abgesetzt.
Das ist ein großer Irrtum! Denn der Evangelist Matthäus selbst gibt zuvor in den Versen 5,17–19 eine Leseanweisung, wie die folgenden Lehren Jesu zu verstehen sind.
Glaubt nicht, dass ich gekommen bin, um die Tora oder die Propheten zu zerstören. Ich bin nicht gekommen zu zerstören, sondern zu erfüllen. Denn amen, ich sage euch: Bis Himmel und Erde vergehen, wird weder ein einziges Jod noch ein einziges Häkchen aus der Tora vergehen, bis alles geschieht. Wer also ein einziges von diesen geringsten Geboten auflöst und die Menschen so lehrt, wird im Himmelreich der Geringste heißen; wer es aber tut und lehrt, der wird im Himmelreich groß heißen.
Bis in die Satzstruktur hinein finden sich im übrigen Judentum ganz ähnliche Aussagen. So im Midrasch zu 2.Mose 8,16. Dort tröstet Gott das Jod, das zu ihm hinauf steigt, um sich über Salomo zu beschweren, der es an einer Stelle tilgen möchte: „Salomo und tausend seinesgleichen werden vergehen, aber ein Häkchen von dir wird nicht vergehen“.
Für Jesus wie für alle anderen jüdischen Lehrer nach ihm steht die Tora insgesamt und ohne Abstrich in unantastbarer Geltung. Seine eigenen Auslegungen fügen zwar den früher aus dem Meer der Tora geschöpften Neues hinzu, befinden sich jedoch ebenso in völliger Übereinstimmung mit der Tora.
Die Übersetzung „Ich aber sage euch…“ ist demnach nicht richtig, da sie einen nicht vorhandenen Gegensatz herstellt. Im Hebräischen sagte Jesus we-ani omer lachem. Das heißt schlicht: „Und ich sage euch“ oder „Ich nun sage euch“.
Jesus ist gekommen zu erfüllen, weil die Tora unverbrüchlich bis ins kleinste Detail, bis hin zum Häkchen auf dem Buchstaben Jod, in Geltung steht.