ahavta+ spürt das Geheimnis der 36 Gerechten auf
Als es noch ein unzerstörtes deutsches Judentum gab, war dies im Jüdisch-Deutschen ein Sprichwort. Es war die Antwort auf die Frage, ob jemand fromm sei. Sie meint, er gehört zu den sechsunddreissig (lamed-waw) Frommen, zu den ל״ו צַדִּיקִים.
Der hebräische Buchstabe lamed hat den Zahlenwert 30; der Buchstabe waw den Wert 6. Die Zahl lamed-waw, 36, steht einer alter Überlieferung für die minimale Anzahl von anonymen Gerechten, die in jeder Generation auf der Welt leben. Auf ihnen ruht das Schicksal der Welt, das heißt, die Welt hat allein aufgrund ihrer Verdienste Bestand. Der Ursprung dieser Tradition ist im babylonischen Talmud zu finden (Sanhedrin 97b): „Es gibt nicht weniger als 36 Gerechte auf der Welt, die die göttliche Gegenwart empfangen“.
Diese Gerechten, auf Jiddisch Lamedwowniks genannt, sind allerdings unbekannt oder verborgen. Niemand kennt sie und sie wissen auch selbst nichts von ihrer Berufung. Falls einer der Gerechten seine wahre Bestimmung ahnt oder erkennt, muss er sterben, und seine Rolle wird sofort von einem anderen Gerechten übernommen.
In Zeiten großer Gefahr tritt der Lamedwawnik jedoch auf dramatische Weise in Erscheinung und setzt seine verborgenen Kräfte ein, um die Feinde Israels zu besiegen, woraufhin er ebenso geheimnisvoll wie er gekommen ist, in seine gewohnte Dunkelheit zurückkehrt.
Sollte aber jemand beanspruchen, einer der 36 Gerechten zu sein, wäre das der Beweis dafür, dass er es mit Sicherheit nicht ist. Denn diese Zaddikim sind der Inbegriff der Bescheidenheit.
Was ist Sinn dieser alten Überlieferung? Gidon Horowitz macht ihn in einer von ihm neu erzählten Geschichte deutlich, für die er jedoch keine Quelle anzugeben weiß.
In einer kleinen Stadt stand ein altes Kloster. In früheren Zeiten war es ein bedeutendes Zentrum geistigen Lebens gewesen, und viele Menschen aus der Stadt waren zu den Gottesdiensten in die Klosterkirche gekommen. Immer wieder hatten damals junge Männer um Aufnahme in das Kloster gebeten, und die viele Arbeit, die es im Haus und in dem großen Klostergarten zu tun gab, war Ihnen leicht von der Hand gegangen. Aber das war lange her. Nun lebten nur noch wenige alte und sehr alte Mönche in den alten Mauern. Sie konnten die viele Arbeit nicht mehr bewältigen und hatten Hilfskräfte eingestellt. In einem kleinen Haus am Rande des Klostergeländes lebte ein Gärtner mit seiner Frau und den drei Kindern. Er kümmerte sich um den Garten, so gut er das alleine konnte. Und in einem anderen kleinen Haus wohnten zwei ältere Frauen, die den Mönchen beim Putzen und Kochen halfen. Trotzdem überstieg die verbleibende Arbeit die Möglichkeiten der alten Mönche. Einige von ihnen waren auch pflegebedürftig, was für alle anderen noch mehr Arbeit bedeutete.
Die Stimmung in dem Kloster war schlecht. Die alten Mönche, insbesondere der Abt, machten sich Sorgen um die Zukunft des Klosters. Sie waren alle meist mürrisch und missmutig. Zu den Gottesdiensten in der Klosterkirche kamen kaum mehr Menschen aus der Stadt. Und schon seit vielen Jahren war kein jüngerer Bruder mehr zur Gemeinschaft gestoßen.
Eines Abends rief der Abt all die Mönche zusammen, die noch nicht bettlägerig waren. „So geht es nicht weiter“, erklärte er bedrückt. „Wir haben schon alles versucht, wir haben gebetet, den Armen milde Gaben zukommen lassen, ich war beim Bischof, aber bisher hat nichts geholfen. Wenn es so weitergeht, wird unsere Gemeinschaft in wenigen Jahren nicht mehr da sein.“ Er seufzte schwer, und auch die anderen seufzten.
„Einen habe ich noch nicht um Rat gefragt“, fuhr der Abt nach einer Weile nachdenklich fort, „den alten Rabbiner, der in unserer Stadt lebt. Ich habe viel von ihm gehört und hin und wieder mit ihm gesprochen. Es heißt, dass er ein weiser Mann ist und auch mit der Kabbala vertraut, der jüdischen mystischen Geheimlehre. Ich möchte ihn aufsuchen und ihm von unserer Not erzählen. Vielleicht kann er uns helfen.“
Die anderen Mönche nickten zustimmend. „Wir sollten nichts unversucht lassen“, meinte einer von ihnen.
Am nächsten Abend begab sich der Abt zum Haus des Rabbiners. Er wurde freundlich begrüßt und in das Studierzimmer des Rabbiners geführt. Der alte Rabbi saß am Tisch, vor ihm lagen einige große, dicke Bücher aufgeschlagen. Der ganze Raum schien voller Bücher zu sein. Der Rabbi schaute auf und bot seinem Besucher einen Stuhl an. Er blickte den Abt aufmerksam an und fragte: „Was führt Euch zu mir?“
Der alte Abt erzählte dem Rabbi ohne Umschweife von der Not seiner Gemeinschaft. „Wir wissen nicht mehr weiter“, schloss er. „Könnt ihr uns helfen?“
Der Rabbi schaute seinen Besucher an und strich seinen langen weißen Bart. Er wiegte seinen Kopf und antwortete schließlich: „Ich weiß nicht, ob ich euch helfen kann. Ich will es versuchen. Kommt in einer Woche wieder, vielleicht habe ich bis dann etwas herausgefunden.“
Eine Woche später begab sich der Abt wieder zum Haus des Rabbiners. Er wurde wieder freundlich empfangen und in das Studierzimmer des Rabbiners begleitet. Der Rabbi bot ihm einen Stuhl an, der Abt setzte sich und wartete gespannt. Der Rabbi schaute ihn ein wenig traurig an und sagte: „Es tut mir Leid, ich konnte nicht viel herausfinden und kann euch keinen Rat mitgeben. Das Einzige, was ich herausgefunden habe, ist, dass bei euch im Kloster ein Lamed-Wawnik lebt. Ich weiß nicht, ob Euch das weiterhelfen kann.“
Der Abt schaute den Rabbi verständnislos an. „Bitte was soll bei uns leben?“ fragte er.
„Oh ja, Entschuldigung, ich muss Ihnen das erklären“, meinte der Rabbi. „Sehen Sie, nach der jüdischen Überlieferung kann die Welt nur fortbestehen, weil es sechsunddreißig verborgene Zaddikim gibt, also vollkommen Gerechte. Sechsunddreißig wird auf Hebräisch mit den Buchstaben Lamed und Waw geschrieben, daher der Name Lamed-Wawnik. Wir wissen nicht, wer diese sechsunddreißig sind – sie leben und wirken im Verborgenen. Wir wissen nur, dass sicher nicht nur Juden dazugehören. Und ich habe nun herausgefunden, dass eine oder einer dieser vollkommen Gerechten bei euch im Kloster lebt. Wer das genau ist, weiß ich nicht. Und wie gesagt, ich weiß auch nicht, ob Euch das helfen kann. Mehr kann ich Euch leider nicht sagen.“
Der alte Abt bedankte sich und machte sich sehr nachdenklich auf den Rückweg. Bei ihnen im Kloster sollte ein vollkommen Gerechter leben, einer, der den Fortbestand der Welt sicherte… Wer konnte das sein? Nun, er selber war es bestimmt nicht, da war er sich sicher. Er kannte sich gut genug… Er überlegte. Im Grunde konnte es jeder der Mönche sein… Vielleicht aber war es eine der alten Frauen, die ihnen bei der täglichen Arbeit halfen? Oder der Gärtner? Auch die Frau des Gärtners konnte es sein… Oder eines ihrer drei Kinder…
Als er das Kloster erreichte, rief er alle Mönche zusammen und erzählte ihnen, was er erfahren hatte. „Ein verborgener Gerechter lebt bei uns im Kloster, ein Mensch, der oder die wesentlich zum Fortbestand der Welt beiträgt. Wir wissen nicht, wer es ist. Es kann einer von uns sein, oder eine der alten Frauen, die uns helfen, oder der Gärtner, oder seine Frau, oder eines ihrer Kinder...“
An diesem Abend gingen alle Mönche sehr nachdenklich ins Bett. Vom nächsten Morgen an änderte sich das Leben im Kloster. Nein, die Arbeit wurde nicht weniger, und nach wie vor wurden die alten Mönche von Tag zu Tag älter. Aber die Stimmung änderte sich. Sie begegneten einander nun mit großem Respekt – jeder konnte ja ein vollkommen Gerechter sein! Und auch allen anderen begegneten sie mit großem
Respekt. Ihre Gesichter hellten sich auf, sie lächelten sich zu, wenn sie einander grüßten. Diese veränderte Stimmung wurde auch bei ihren Gottesdiensten spürbar, und nach und nach kamen wieder mehr Menschen aus der Stadt in die Klosterkirche. Und nach wenigen Monaten klopften eines Morgens zwei junge Männer an die Pforte des Klosters und baten um Aufnahme in die Gemeinschaft…
Da niemand weiß, wer die Lamedwawniks sind, sollte sich jeder so verhalten, als ob er oder sie einer von ihnen sei. Und die Welt wäre keine schlechte mehr…
Jedoch, eben dort sind wir noch nicht.
Hannah Arendt griff schon 1948 die Überlieferung von den 36 Zaddikim auf. Ihre Analyse könnte auch 2021 gelten:
Die alte jüdische Legende von den 36 unbekannten Gerechten, die immer da sind und ohne deren Anwesenheit die Welt in Scherben fiele, sagt letztlich darüber etwas aus, wie notwendig solch ‚edelmütiges‘ Verhalten beim normalen Gang der Dinge ist. In einer Welt wie der unseren, in welcher die Politik in einigen Ländern es längst nicht mehr bei anrüchigen Seitensprüngen beläßt, sondern eine neue Stufe der Kriminalität erklommen hat, hat jedoch die kompromißlose Moralität plötzlich ihre alte Funktion, bloß die Welt zusammenzuhalten, verändert und ist zum einzigen Mittel geworden, mit dem die eigentliche Realität – im Gegensatz zur von Verbrechen entstellten und im Grunde nur kurzlebigen Faktizität – erkannt und planvoll gestaltet werden kann. Nur diejenigen, die noch in der Lage sind, sich nicht von den Nebelschwaden beirren zu lassen, die aus dem Nichts fruchtloser Gewalt hervortreten und sich wieder dorthin verflüchtigen, können mit so gewichtigen Dingen wie den ständigen Interessen und der Frage des politischen Überlebens einer Nation betraut werden.
Die Legende von den 36 Gerechten taucht im 20. Jahrhundert in vielen literarischen Werken auf, etwa bei Max Brod; Rose Ausländer benannte 1967 einen Gedichtzyklus nach den 36 Gerechten. 1959 thematisierte André Schwarz-Bart sie in seinem erfolgreichen Roman Der Letzte der Gerechten. Er wandelt die Tradition ab: Eine große Familie, Dynastie bringt in jeder Generation einen Zaddik hervor. Und stets erleidet dieser das Martyrium.
Im Wort zum Schabbat von Yuval Lapide empfahl ich am 22. Oktober die Lektüre des Romans. Christiane Kraus ist dem Rat gefolgt. Und sie hat aufgeschrieben, wie es ihr dabei erging:
Zunächst erschien mir der Gedanke, dass ein „Gerechter“ geboren wird, zwar als Jude, aber doch ohne sich im Besonderen von anderen Juden zu unterscheiden und ohne eigenes Zutun oder besondere Fähigkeiten, doch etwas seltsam.
Dass dieser Mensch das Leiden der gesamten Menschheit in sich tragen soll und dass das nicht für die Menschen, sondern für Gott wichtig ist, deutete ich als tiefe Sehnsucht nach dem Christus.
Die „Gerechten“ stellen sich keinesfalls als perfekte oder herausragende Menschen dar, im Gegenteil, sie sind meist irgendwie seltsam gestaltet und auch sonst durch und durch menschlich. Das „Gerecht-Sein“ vererbt sich meistens an den unscheinbarsten Nachkommen.
Die etwas befremdliche Distanziertheit löste sich bei mir mit dem Auftritt von Erni dann ganz und gar auf.
Erni versucht, dieser Rolle gerecht zu werden und scheitert gründlich. Es gelingt ihm aber auch nicht, aus dieser Rolle auszusteigen, weder indem er versucht, sein Leben zu beenden, noch indem er die Rolle des "Mensch-Seins" (die ihm ja von der Umwelt gar nicht zugestanden wird) ablegt und zum „Hund“ wird. (Das erinnert mich unwillkürlich an die Geschichte von der kanaanäischen Frau, der Jesus zunächst nicht helfen will und ihr zu verstehen gibt, dass sie nicht zu den Kindern, sondern zu den Hunden = Nichtjuden gehört.)
Als "Hund" kommt er zwar bei den "Menschen" gut an und dieses Leben macht ihm auch keiner streitig, aber innerlich ist er tot.
Die Wende kommt durch den Schmied, der in dem innerlich und äußerlich seiner Bestimmung abgestorbenen Erni den Juden sieht und sich deshalb zu ihm hingezogen fühlt. Da wird etwas in ihm lebendig und er findet zu seiner eigentlichen Bestimmung, einfach das zu sein, was er ist, ein Jude.
Was auf ihn zukommt, schreckt ihn nicht mehr. Er hat schon alles durchlitten, ist schon alle Tode gestorben. So kann er freiwillig die anderen begleiten, kann lieben und leben mitten in unfassbarem Leid und Sterben.
So ist dieses Buch doch eigentlich auch zutiefst christlich. Gerecht ist der, der mit Christus gestorben und begraben ist. In dem lebt Christus und er lebt in Christus. Dieses Leben kann nicht angegriffen oder vernichtet werden.
Einen Dialog aus Schwarz-Barts Roman möchte ich dir zum Schluss nicht vorenthalten. Für jeden Christen ist ebenso bewegend wie verstörend:
„O Erni“, sagte Golda, „du kennst sie doch, sag mir, warum sind die Christen so böse auf uns? Dabei sehen sie so nett aus, wenn man sie ohne Stern anschaut.“
Ernst schlang Erni seinen Arm um Goldas Schultern.
„Das ist sehr geheimnisvoll“, murmelte er auf jiddisch, „sie wissen es selbst nicht so genau. Ich bin in ihren Kirchen gewesen und habe ihre Evangelien gelesen. Weißt du, wer Christus war? Ein gewöhnlicher Jude wie dein Vater, eine Art Chassid.“
Golda lächelte sanft. „Du machst dich lustig“, sagte sie.
„Doch, doch, glaub mir, und ich wette sogar, dass sie sich alle beide gut verstanden hätten, denn er war wirklich ein guter Jude, weißt du, eine Art vom Baal Schem Tow: ein Barmherziger, ein Sanfter. Die Christen sagen, dass sie ihn lieben, aber ich glaube, sie hassen ihn, ohne es zu wissen. Und deshalb nehmen sie das Kreuz am andern Ende und machen ein Schwert daraus und schlagen uns damit! Verstehst du, Golda“, rief er plötzlich seltsam erregt, „sie nehmen das Kreuz und drehen und drehen es um, mein Gott...“
Ich wünsche dir einen friedlichen Sonntag und grüße dich
herzlich, Dein Ricklef