ahavta+ || zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust (Teil 2)
Ganz einfach gesagt (und entsprechend vereinfacht) liegt der Grund der Verbundenheit von deutschen (evangelischen) Kirchen mit Juden allgemein darin, dass beide mit der Tora dieselbe heilige Schrift haben, beide die Verheißungen der biblischen Propheten teilen und Jesus von Nazaret sowie alle ersten Künder eines neuen Glaubens aufgrund seiner Auferweckung von den Toten Juden waren.
Anlass der Solidarität mit dem Staat Israel ist die Mitfreude darüber, dass Juden seit 1948 ein „Stück der Erdoberfläche“ (Stefan Zweig) ihr eigen nennen, auf dem ihr Volk seine Hoffnung auf ein friedliches Leben in Sicherheit und Selbstbestimmung leben kann.
Einen Grund genereller Solidarität mit Palästinensern gibt es hingegen für Christen nicht. Freilich freilich sind die christlich-protestantischen Kirchen in Jerusalem sowie den palästinensischen Gebieten geschichtlich gewachsen mit den evangelischen Kirchen bei uns eng verbunden. Hinzu tritt natürlich die weltweite Solidarität aller Christen untereinander. Sie wird in der Hilfe und Unterstützung armer oder bedrohter Kirchen durch wohlhabendere Kirchen gelebt, so etwa in der Evangelischen Mission in Solidarität (EMS). Freilich stellen die Christen in den palästinensischen Gebieten heute nur noch 1,37 Prozent der Bevölkerung (stetig abnehmend; Zahl von 2012); im früher überwiegend christlichen Betlehem gehören nur noch 28 Prozent der Bewohner dieser Religion an (bezieht man im Betlehem-Distrikt die bestehenden Flüchtlingslager mit ein, sind es sogar keine 13 Prozent mehr). Gerade sie verdienen natürlich als schwindende Minderheit in islamisch geprägter Kultur und Gesellschaft nicht vergessen zu werden.
Christliche Nächstenliebe ist überall dort angefragt, wo Menschen in Not sind. Daher gilt eine miese und missliche Lage der palästinensischen Bevölkerung als Anlass einer gelebten Solidarität ungeachtet jeder Religion.
Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) erklärte daher 2020: Die EKD
tritt für eine doppelte Solidarität mit dem Staat Israel und dem palästinensischen Volk ein. Die EKD hält Kritik an politischen Leitlinien, wie auch an einzelnen konkreten Maßnahmen und gesellschaftlichen Missständen nicht nur für möglich, sondern sie gehört zur Verantwortung zwischen Partnern und Freunden.
Die Kirchenleitungen der evangelischen Landeskirchen Baden, Hessen und Nassau, Pfalz, Rheinland sowie Westfalen verabschiedeten Anfang November 2021 Leitgedanken und Thesen zu „Israel-Palästina“. Diese „Standortbestimmung“ ist ein treffliches Beispiel für das „sowohl – als auch“, das sich aus der genannten „doppelten Solidarität“ zwangsläufig ergibt.
Zwei Beispiele. Zum umstrittenen Land heißt es:
Wir erkennen die untrennbare Beziehung des jüdischen Volkes zum Land der Verheißung mit Jerusalem in seiner Mitte an.
Wir achten die tiefe Verbundenheit auch der palästinensischen Kirchen mit dem Land der Bibel.
Wir wissen uns als Christinnen und Christen eng verbunden mit dem Staat Israel, der den meisten Jüdinnen und Juden überall auf der Welt Rückzugsort und Heimat bedeutet.
Gleichzeitig unterstützen und stärken wir das Streben der Palästinenserinnen und Palästinenser nach staatlicher Souveränität: geistlich, moralisch, materiell und politisch.
Zum erhofften Frieden:
Das Wohlergehen Israels liegt uns am Herzen. Wir bekräftigen erneut unsere Verbundenheit mit Israel und bejahen uneingeschränkt das Existenzrecht des Staates Israel. Wir geben unserer Hoffnung Ausdruck und beten für ein versöhntes Miteinander von jüdischen und palästinensischen Menschen im Heiligen Land in einem gerechten und fairen Frieden für alle.
Das Wohlergehen der Palästinenserinnen und Palästinenser liegt uns gleichermaßen am Herzen. (…) Wir würdigen die Impulse aus der palästinensischen Theologie und suchen den geschwisterlichen Austausch mit den palästinensischen Kirchen über die Kontextualität von Theologie.
Daraus ergeben sich „Forderungen nach Gerechtigkeit und Frieden für Israel und Palästina“:
Wir fordern die Beendigung des fortgesetzten Siedlungsbaus und konkrete Bemühungen um ein Ende der Besatzung.
Wir rufen auf zu klaren Schritten in Richtung politischer Eigenständigkeit Palästinas ebenso wie zur Abkehr von Terror und jedweder Gewalt. Wir fordern alle Beteiligten in der Region dringend auf, die Menschenrechte und die völkerrechtlichen Bestimmungen der internationalen Staatengemeinschaft zu achten.
Diese Forderungen freilich richten sich in der Summe eher an Israel, allenfalls die „Abkehr von Terror“ meint wohl vordringlich die palästinensische Seite.
„Schritte der Versöhnung“ markieren die Thesen abschließend:
Versöhnung beginnt mit der Bereitschaft, sich einzulassen auf die Empfindungen, auf die Verlust- und Leidensgeschichten, aber auch auf die Hoffnungsgeschichten der jeweils anderen.
Es gibt in Israel und in den palästinensischen Gebieten etliche Gruppen auf beiden Seiten, die versuchen und einüben, die jeweiligen Geschichten der anderen zu hören und auszuhalten, ohne sie gleich bewerten und korrigieren zu wollen. Auf den von mir organisierten Israelreisen haben wir von diesen etwa „Friends of the Roots“ kennengelernt.
Allerdings wüsste ich nicht, wie und wo Kirchen und christliche Gemeinden selbst Kristallisationspunkte von Versöhnung „zwischen Israel und Palästina, zwischen Juden, Christen und Muslimen“ sein oder werden könnten. Den Verfassern der Leitgedanken und Thesen schwebt jedoch vor:
Dafür können und sollen wir als Kirche Foren des Gesprächs und des Austauschs schaffen.
Die Rolle der Christen und Kirchen in Deutschland wird damit erheblich überschätzt. Nicht nur das, sie ist irrig. Denn das, was von den Menschen in Israel und in den palästinensischen Gebieten erwartet wird, „sich einzulassen auf die Empfindungen, auf die Verlust- und Leidensgeschichten, aber auch auf die Hoffnungsgeschichten der jeweils anderen“, wäre allererst einmal als Forderung an die eigene Adresse, als Packen an die eigene Nase zu verstehen. Ich vermag nicht zu sehen, dass solche Geschichten bei uns in nennenswertem Maße von beiden Seiten gleichermaßen und gleichberechtigt gehört worden sind oder gehört werden. Wenn überhaupt einmal Juden oder Israelis neben und mit Palästinensern bei uns zu Gehör kommen, gehören sie in aller Regel einer verschwindend kleinen Gruppe von „Israelkritikern“ an und dienen als jüdisch-israelisches „Feigenblatt“ eines im Grunde einseitigen „Dialoges“.
Ist es überhaupt Aufgabe der christlichen Kirchen, die christliche Nächstenliebe auszudehnen auf „Erwartungen“ und „Forderungen“ im politischen Bereich, etwa auf das Ende der „Besatzung“ sogenannten palästinensischen Landes? Wem ist damit konkret geholfen, in geschichtlich umstrittenen, wenn nicht falschen Kategorien zu wiederholen und zu bekräftigen, was allerorten zu hören und zu lesen ist.
Zuhören, verstehen und aushalten ohne sich einzumischen sind für mich Gebote einer „doppelten Solidarität“, wenn denn einem eine solche ernst ist. So gut es die „Leitgedanken und Thesen“ meinen, sie leiden – wie so vieles, was derzeit aus Deutschland im Blick auf die Welt gesagt und geschrieben wird –, an Selbstüberschätzung und der Überzeugung es besser zu wissen.
Vom kommenden Mittwoch bis zum 9. September 2022 tagt die 11. Vollversammlung des Weltkirchenrates (ÖRK) in Karlsruhe. Das Motto lautet „Die Liebe Christi bewegt, versöhnt und eint die Welt“. Die oben genannten fünf Landeskirchen haben ihren „Gesprächsimpuls“ auch in Richtung auf diese Versammlung hin formuliert – um vorab einen Pflock einzuschlagen gegen befürchtete einseitig antiisraelische Verlautbarungen oder Beschlüsse dort.
Schon in seiner Gründungsversammlung in Amsterdam 1948 äußerte sich der Ökumenische Rat der Kirchen zum Antisemitismus. Nur drei Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und damit der europäischen Judenvernichtung hielt man fest:
Der Antisemitismus ist eine Sünde gegen Gott und Menschen.
Kurz zuvor im Mai 1948 war der Staat Israel gegründet worden. Zu diesem historischen Ereignis und dem folgenden Unabhängigkeitskrieg des jungen Staates freilich fällt der Gründungsversammlung nicht sehr viel mehr ein als:
Wir sehen, dass die Schaffung des Staates „Israel“ dem christlichen Ringen mit dem jüdischen Problem eine neue, politische Dimension verleiht und den Antisemitismus durch politische Befürchtungen und Feindseligkeiten zu komplizieren droht.
„Dies ist schlicht eine Wiederholung antisemitischer Vorurteile, die den Antisemitismus auf die Juden selbst zurückführt“, stellen Wolfgang Stegemann und Ekkehard W. Stegemann in ihrem lesenswerten Beitrag von 2014 Von Ambivalenz zur Feindschaft. Anmerkungen zum Verhältnis des Ökumenischen Rats der Kirchen zum Staat Israel fest – eine Täter-Opfer-Umkehr also, wie man heute sagen würde. Die Autoren fassen zusammen:
(M)it der Anerkennung des Staates Israel oder gar des Zionismus – als der nationalen jüdischen Befreiungsbewegung – tut man sich äußerst schwer. Daran hat sich bis in die aktuelle Gegenwart nichts geändert – im Gegenteil, die anfängliche Ambivalenz in Bezug auf den jüdischen Staat hat sich zu einer anti-israelischen Politik gewandelt – bis hin zu feindlichen Einstellungen gegen den Staat Israel und den Zionismus. Selbst Christinnen und Christen, die das Existenzrecht Israels bejahen und verteidigen und das Ziel des Zionismus – die Errichtung eines sicheren Heimatlandes für die Juden – befürworten, werden inzwischen in Erklärungen des ÖRK häretisiert.
Ich will den Ergebnissen der 11. Vollversammlung in Karlsruhe nicht vorgreifen. Allerdings hat der Direktor der Kommission der Kirchen für internationale Angelegenheiten beim Ökumenischen Rat der Kirchen, Peter Prove, in einem Interview, das Ende Juli bei Chrismon erschien („Ist der ÖRK antijüdisch?“) bereits konstatiert:
Es ist eine sehr seltene Gelegenheit für die Vertreter all unserer Mitgliedskirchen auf der ganzen Welt, derzeit 352 in 140 Ländern, die 519 Millionen Christen vertreten, tatsächlich zusammenzukommen, um über eine ganze Reihe sehr dringender Themen nachzudenken – für die Kirchen und für alle unsere Gesellschaften und für die Welt als Ganze. (…)
Ich denke, dass es eine sehr klare Diskussion über dieses Thema (des Konfliktes in Israel und Palästina) wie über vieles andere geben muss. (…)
(D)ie palästinensischen Kirchen und Gemeinden im Heiligen Land lauter, direkter und effektiver in Wort und Tat zu unterstützen. Auch das sind starke Wahrnehmungen zu diesem Thema.
Insbesondere scheint es möglich, dass die Delegierten in Karlsruhe Forderungen nach Boykottmaßnahmen gegen den Staat Israel aufgreift. Peter Prove:
Auf politischer Ebene gibt es eine klare und etablierte Position des ÖRK, die seit vielen Jahren wiederholt wird und anerkennt, dass bestimmte Formen wirtschaftlicher Maßnahmen legitime Formen des gewaltlosen Widerstands gegen die militärische Besatzung sind und auch positiven Druck auf den Frieden ausüben können. Insbesondere hat der ÖRK in der Vergangenheit internationale Boykotte von Waren und Dienstleistungen aus israelischen Siedlungen in den besetzten Gebieten unterstützt, die nach internationalem Recht als illegal gelten.
Auf die Frage Würden Sie sagen, es gibt „Apartheid“ in Israel? antwortet Peter Prove:
Wir nehmen den derzeit neuen Diskurs darüber wahr, in dem vorgeschlagen wird, diesen Begriff zu verwenden, nicht nur auf Grundlage historischer Analogien, die meiner Meinung nach dafür sehr schwierig und dünn sind. Aber jetzt, da man auf Elemente der juristischen Definition des Apartheidsverbrechens im einschlägigen Völkerrecht Bezug nimmt, erscheint die Frage nach Apartheid ganz anders – deutlich zwingender(.)
Heute geht es hier nicht um eine Auseinandersetzung mit BDS und Apartheidsvorwurf gegenüber Israel. Solche Themen jedoch als kirchlich relevant für Karlsruhe auch nur anzukündigen, zeigt mir jedoch:
Eine vermeintliche „doppelte Solidarität“ mit Israelis und Palästinensern findet in den Kirchen jedenfalls auf weltweiter Ebene mit einer erheblichen, wenn nicht völligen Schlagseite statt.
Nach den schweren Themen und Inhalten von ahavta+ in den beiden jüngsten Ausgaben, denen ich jedoch nicht auszuweichen vermochte (Wie denkst du darüber?), empfehle ich uns, erst einmal tief durchzuatmen und dann weiterzugehen: