Das Buch der Menschheit: Eine Spurensuche von Adam bis zum Messias
Der Wochenabschnitt Bereschit offenbart durch das Wort „toldot“ eine überraschende Verbindung zwischen Adam und Jesus und definiert die Einheit der Menschheit neu.
Das Neue Testament versteht man am besten als „neu“, wenn man es als Echo, als Widerschall und Resonanz der Tora hört. Es klingt nicht aus sich selbst heraus.
Da in den Synagogen gerade ein neuer Zyklus der Toralesung begonnen hat, nutze ich die Gelegenheit, die Resonanzen aus dem jeweiligen Wochenabschnitt im Neuen Testament anklingen zu lassen.
Der Anfang mit der Parascha Bereschit (1. Mose 1,1–6,8) macht es einfach. Man könnte etwa zum Johannesevangelium gehen und beobachten, dass es mit demselben Wort wie die Tora beginnt: „Im Anfang“ – griechisch „En arché“ – und damit bewusst ein Echo des ersten Verses der Bibel auslöst. Ebenso ließe sich bei Paulus (Römer 5) verfolgen, wie er auf Adam zurückblickt und ihn – „Mensch“ – als Repräsentanten der gesamten Menschheit darstellt.
Ich möchte jedoch einen weniger offensichtlichen Weg gehen. Rabbiner Dr. Walter Rothschild hat in seinem „Wort zum Schabbat“ darauf hingewiesen, dass zu Beginn des Wochenabschnitts zwei alternative Schöpfungserzählungen vorgestellt werden: eine, die vom Kosmos ausgeht und den Menschen als Krone der Ordnung darstellt, und eine zweite, die umgekehrt vom Menschen aus entfaltet.
Toldot: Kein Abschluss, sondern eine Überschrift
In der christlichen Theologie wird meist gelehrt, die erste Schöpfungserzählung ende mit 2,4a – gewissermaßen mit dem Schluss: „So sind Himmel und Erde geworden, als sie geschaffen wurden.“ In der Lutherbibel 1984 kommt diese Sicht besonders deutlich zum Ausdruck. Mit Vers 4b beginne dann die zweite Erzählung: „Es war zu der Zeit, da Gott der HERR Erde und Himmel machte.“
Im Text der Tora lesen wir jedoch: Eleh toldot haschamajim weha’arez. Rabbiner Samson Raphael Hirsch weist in seinem Kommentar darauf hin: Das Wort toldot (תולדות) bezeichnet nie Herkunft oder Vorfahren, sondern stets Nachkommen, „Erzeugnisse“ oder „Entwicklungen“ einer Person oder Sache. Der Satz ist also keine Schlussformel, sondern eine Einleitung. Hirsch: Hier ist er die Überschrift für die gesamte Entwicklung der natürlichen Welt, die wir beobachten können.
Diese Beobachtung bestätigt sich, wenn wir die weiteren neun Vorkommen des Grundwortes toldot im 1. Buch Mose aufsuchen. Sie leiten jeweils Entwicklungen ein:
Dies sind die Erzeugnisse von Himmel und Erde (2,4)
Dies ist das Buch der Erzeugnisse Adams (5,1)
Dies sind die Erzeugnisse Noachs (6,9)
Dies sind die Erzeugnisse der Söhne Noachs (10,1)
Dies sind die Erzeugnisse Schems (11,10)
Dies sind die Erzeugnisse Tarachs (11,27)
Dies sind die Erzeugnisse Jischmaels (25,12)
Dies sind die Erzeugnisse Jizchaks (25,19)
Dies sind die Erzeugnisse Esaus, das ist Edom (36,1)
Dies sind die Erzeugnisse Jaakows (37,2)
Das Prinzip der einen Menschheitsfamilie
In dieser Reihe sticht 5,1 hervor: Hier öffnet die Tora das sefer toldot adam – das „Buch der Erzeugnisse/Entwicklungen Adams“. Da „Adam“ „Mensch“ bedeutet, lässt sich der Anfang auch so wiedergeben: „Dies ist das Buch der Entwicklungen des Menschen.“ Hirsch betont die klare Parallele zu Genesis 2,4, wo die „Entwicklungen“ von Himmel und Erde eingeleitet wurden.
Zugleich unterstreicht Hirsch, dass sefer mehr als nur „Buch“ meint. Das Wort leitet sich vom Zählen bzw. Zusammenfassen ab und bezeichnet eine einheitliche Zusammenstellung, die Verschiedenes unter einem Hauptbegriff vereint. Der Vers fungiert daher als Überschrift über die folgende Menschheitsgeschichte. Die Vielfalt menschlicher Schicksale – von den höchsten Höhen bis zu den tiefsten Abgründen – bildet ein einziges großes Ganzes. Selbst widersprüchliche Entwicklungen sind im Potenzial des ursprünglichen „Adam“ angelegt.
Von hier aus verweist Hirsch auf die berühmte Diskussion zwischen Rabbi Akiwa und Ben Asai. Akiwa lehrt, „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ (ve’ahavta lere’acha kamocha, 3. Mose 19,18) sei das große Grundprinzip der Tora – der ultimative Ausdruck der Überwindung von Egoismus. Ben Asai widerspricht: „Dies ist das Buch der Entwicklungen Adams“ (seh sefer toldot adam, 1. Mose 5,1) sei ein noch fundamentaleres, umfassenderes Prinzip. In Hirschs Darstellung postuliert Ben Asai eine tiefere, bedingungslose Einheit der gesamten Menschheit: Jeder Mensch, ohne Ausnahme, ist „Entwicklung Adams“. Selbst der schwerste Verbrecher und die tiefste Entartung stehen innerhalb dieser einen göttlichen Menschheitschronik. Während man das Gebot der Nächstenliebe unterschiedlich auslegen kann, zwingt dieser Satz dazu, jeden Menschen als Teil derselben Familie anzuerkennen.
Das Echo im Matthäusevangelium
Das erste Evangelium – und damit das Neue Testament – beginnt griechisch, aber mit klar identifizierbaren hebräischen Worten: „seh sefer toldot Jeschua haMaschiach, ben David, ben Awraham“. Wörtlich im Griechischen: „Biblos geneseos Iesou Christou“ – „Dies ist das Buch der Erzeugnisse/Entwicklungen Jesu des Gesalbten, Sohn Davids, Sohn Abrahams.“ Üblicherweise versteht man diesen Vers als Überschrift über den „Stammbaum“ in 1,2–17. Legen wir allerdings das von Samson Raphael Hirsch herausgearbeitete Toraverständnis zugrunde, will der Evangelist etwas Größeres markieren:
„Dies ist das Buch der Erzeugnisse von Jesus, dem Gesalbten“ bildet die Überschrift über das gesamte Evangelium – nicht nur über das folgende Geschlechtsregister bis Vers 17.
Überschrift des Stammbaums sind vielmehr die Messias-Zuweisungen: „Sohn Davids“ und „Sohn Abrahams“.
Die toldot Jesu als Messias bleiben innerhalb des Evangeliums offen. Dieses endet mit dem Auftrag des Auferweckten (28,18–20): „Geht und macht alle nichtjüdischen Völker zu Schülern …“. Die „Entwicklungen“ Jesu reichen also in die Zukunft – bis alle Völker seine Lehre annehmen.
Von 1. Mose 5,1 ausgehend lässt sich sagen: Die toldot Jesu führen Juden – was diese bereits wissen – und Nichtjuden gemeinsam zur Erkenntnis und vor allem zur Praxis, Teil der einen Menschheitsfamilie seit Adam zu sein. Für Israel, dem die Tora gegeben ist, bedeutet dies letztlich: Der Kampf der Völker gegen das Gottesvolk endet. Aus deren Mitte heraus gibt es keine Anti-Haltung gegen Israel mehr: keinen Antisemitismus, keinen Antizionismus, keine Judeophobie.
Wenn man so will, kämen damit auch die toldot von Himmel und Erde (1. Mose 2,4) – die Eröffnung einer Schöpfungsgeschichte als Menschheitsgeschichte (so Rabbiner Rothschild) – zu ihrem Ziel. Dann würde gelten: „Ich schaffe einen neuen Himmel und eine neue Erde; an das Frühere wird man nicht mehr denken“ (Jesaja 65,17). Das Echo findet sich in Offenbarung 21,1–5: „Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde waren vergangen.“
Nebenbei – und das unterstreicht das Vorangehende: Matthäus steht in der Debatte zwischen Rabbi Akiwa und Ben Asai faktisch auf der Seite Ben Asais: „Seh sefer toldot adam“ ist gegenüber dem Gebot der Nächstenliebe das umfassendere Grundprinzip. In der Bergpredigt heißt es (5,43–48): „Ihr habt gehört: Du sollst deinen Nächsten lieben … Euer Vater im Himmel lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte. Wenn ihr die liebt, die euch lieben – tun das nicht auch die Zöllner? Und wenn ihr nur eure Brüder grüßt – tun das nicht auch die Nichtjuden? Ihr sollt vielmehr vollkommen sein, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist.“
Solche Vollkommenheit lebt die Verwirklichung der einen Menschheitsfamilie und bestätigt den Schöpfer von Himmel und Erde.