der ahavta adventskalender • 22
Das 22. Tor im Warten auf das Fest der Geburt von Jeschua haMaschiach
In meinen Ohren das biblischste aller Adventslieder im Evangelischen Gesangbuch ist die Nummer 20: Das Volk, das noch im Finstern wandelt. Hier singt Detlef Korsen den von Jürgen Henkys ins Deutsche übersetzten Text von Het volk dat wandelt in het duister von Jan Willem Schulte Nordholt (1959) nach der Melodie von Frits Mehrtens (1959):
Der Liedtext ist eine Umschreibung von Jesaja 9,1–2.4–6:
Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht, und über denen, die da wohnen im finstern Lande, scheint es hell. Du weckst lauten Jubel, du machst groß die Freude. Vor dir freut man sich, wie man sich freut in der Ernte, wie man fröhlich ist, wenn man Beute austeilt. Denn jeder Stiefel, der mit Gedröhn dahergeht, und jeder Mantel, durch Blut geschleift, wird verbrannt und vom Feuer verzehrt. Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben, und die Herrschaft ist auf seiner Schulter; und er heißt Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst; auf dass seine Herrschaft groß werde und des Friedens kein Ende auf dem Thron Davids und in seinem Königreich, dass er’s stärke und stütze durch Recht und Gerechtigkeit von nun an bis in Ewigkeit.
In den Strophen von Jürgen Henkys:
1. Das Volk, das noch im Finstern wandelt – bald sieht es Licht, ein großes Licht. Heb in den Himmel dein Gesicht und steh und lausche, weil Gott handelt. 2. Die ihr noch wohnt im Tal der Tränen, wo Tod den schwarzen Schatten wirft: Schon hört ihr Gottes Schritt, ihr dürft euch jetzt nicht mehr verlassen wähnen. 3. Er kommt mit Frieden. Nie mehr Klagen, nie Krieg, Verrat und bittre Zeit! Kein Kind, das nachts erschrocken schreit, weil Stiefel auf das Pflaster schlagen. 4. Die Liebe geht nicht mehr verloren. Das Unrecht stürzt in vollem Lauf. Der Tod ist tot. Das Volk jauchzt auf und ruft: „Uns ist ein Kind geboren!“ 5. Man singt: „Ein Sohn ist uns gegeben, Sohn Gottes, der das Zepter hält, der gute Hirt, das Licht der Welt, der Weg, die Wahrheit und das Leben.“ 6. Noch andre Namen wird er führen: Er heißt Gottheld und Wunderrat und Vater aller Ewigkeit. Der Friedefürst wird uns regieren! 7. Dann wird die arme Erde allen ein Land voll Milch und Honig sein. Das Kind zieht als ein König ein, und Davids Thron wird niemals fallen. 8. Dann stehen Mensch und Mensch zusammen vor eines Herren Angesicht, und alle, alle schauen ins Licht, und er kennt jedermann mit Namen.
Die dritte Strophe hatte Jürgen Henkys 1981 so wiedergegeben:1
Sein Friede kommt. Nie mehr Sirenen, nie Krieg, Verrat und bittre Zeit! Kein Kind, das nachts erschrocken schreit, weil auf dem Pflaster Stiefel dröhnen.
Die Fassung des Evangelischen Gesangbuchs jedoch „verzichtet auf den spezifischen Lärm des modernen Krieges“2. Freilich gilt für den Staat Israel: In den vergangenen 442 Tagen waren Krieg, Verrat und bittre Zeit in besonderer Weise mit dem Heulen der Sirenen verbunden, die die Bevölkerung aufriefen, so schnell wie möglich, einen Schutzraum aufzusuchen.
Den Bezug auf das Volk Israel vermisse ich freilich in schwerwiegenderer Weise auch in der Aufnahme der Prophetenworte aus der Bibel Israels. Die Synode der Christelijke Gereformeerde Kerken hatte ein ähnliches Gespür, als sie das niederländische Original 1974 als „besonders textgetreue Bibelvertonung“ in ihre Sammlung Schriftberijmingen („Reime aus der Schrift“) aufnahm – allerdings mit Ausnahme der letzten Strophe. Diese schien dem Kirchenparlament zu sehr eine Lehre der Allversöhnung zu vertreten.
Doch die Allversöhnung legt ihre Spur bereits in der 7. Strophe aus: „Dann wird die arme Erde allen ein Land voll Milch und Honig sein.“ Das Lied vergisst: Zuerst gilt dem Land Israel, eines voll Milch und Honig zu sein. Jesaja meint natürlich entsprechend, dass der König auf dem Thron Davids das Reich für Israel wiederherstellt.
Christliche Deutung erkennt diesen König in Jesus Christus, dessen Geburt als Kind im Stall von Betlehem zu Weihnachten gefeiert wird. Und sie bekennt, dass der Christus (Maschiach) Herr und König über die ganze Welt aus Juden und Nichtjuden ist, die Botschaft also allen gilt. Doch die Bedeutung Israels und dessen Vorzug sollte darin nicht untergehen und nicht verloren gehen! Sonst wird das Lied unbiblisch.
Gleichwohl ist Lied Nr. 20 das wohl jüdischste der Adventslieder im Gesangbuch. Denn es bezeugt – über die Worte des Propheten Jesaja – die anhaltende Unerlöstheit und Erlösungsbedürftigkeit der Erde: Noch ist Finsternis, noch wohnen Menschen im Tal der Tränen. Zwar ist schon Gottes Schritt zu hören, aber nur hinter dem Klagen leidender Menschen, hinter dem Schreien von Kindern, die vor Hamas-Terroristen erschrecken. Erst wenn das „dann“, mit dem sowohl die 7. wie die 8. Strophe beginnt, zur Gegenwart werden wird, werden alle schaun ins Licht. In dieser Erwartung sind Juden wie Christen einig.
Sachgemäß müsste die letzte Strophe daher lauten:
Dann stehen Jud und Goi zusammen vor eines Herren Angesicht, und alle, alle schauen ins Licht, und er kennt jedermann mit Namen.
Jürgen Henkys, Steig in das Boot. Neue niederländische Kirchenlieder, Berlin 1981
Wim Kloppenburg: 20 – Das Volk, das noch im Finstern wandelt. In: Gerhard Hahn, Jürgen Henkys (Hrsg.): Liederkunde zum Evangelischen Gesangbuch. Band 1, Göttingen 2000, S. 62–64.