ahavta+ || Die Frage nach der Wahrheit
Ein jüdisches und damit neutestamentliches Verständnis des immer wieder gegen das Judentum gerichteten Verses „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben“
Schalom,
bekümmert es dich auch, dass bei uns immer wieder kritische Stimmen, die nicht einer erwünschten, „angesagten“ Richtung entsprechen, herabgewürdigt und weggedrängt werden? Das passiert, wenn die Frage nach der Wahrheit mit der Macht verbündet ist. Diese will selten etwas von ihrer Macht abgeben, sie so gut wie niemals teilen. Deshalb ist sie so gesprächsunwillig.
Das Johannesevangelium hat die Begegnung zwischen dem römischen Präfekten Pilatus als Richter und Jesus als Angeklagtem eindrücklich komponiert. Beide stehen sich zweimal gegenüber:
Einmal geht es um die Frage der Wahrheit und einmal um die Frage der Macht. Die Position des Pilatus ist klar. Er ist der Vertreter der Macht Roms. Als Jesus ihm an einer Stelle nicht antwortet, sagt er: Mit mir redest du nicht? Weißt du nicht, dass ich Macht habe, dich freizulassen, und Macht habe, dich kreuzigen zu lassen? (19,10) Und als Jesus in der ersten Szene über Wahrheit redet und beansprucht, für sie Zeugnis abzulegen, sagt Pilatus: Was ist Wahrheit? – und geht weg. Die Frage der Wahrheit interessiert ihn nicht; er hat ja die Macht. (…) Pilatus schlägt die Frage nach der Wahrheit aus, weil er sich bei der Macht sicher wähnt. Er vertraut auf die Wahrheit der Macht.1
Die Kirchen haben dieses „Nichtgespräch“ in ihrer Geschichte wenig aufmerksam gelesen. Denn sie haben ein anderes Wort von Jesus im Johannesevangelium selbst zum Erweis ihrer Macht und der Richtigkeit ihrer Wahrheit gemacht: Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich. (Johannes 14,6)
Dieser Vers wurde benutzt, um „Heilswahrheiten“ zu formulieren. Er wurde zum Beweis einer Wahrheit des Christentums gegen das Judentum gemacht. Der jüdische Weg zu Gott hingegen als eine Sackgasse deklariert, die im Nichts endet. Immer noch ist Johannes 14,6 der christlicherseits wohl meistzitierte Bibelvers, mindestens wenn es um das christlich-jüdische Verhältnis geht. Deshalb versuche ich heute, dieses Jesuswort in das Judentum zurückzuholen, aus dem es gekommen ist. Vielleicht können wir dann mit der Frage nach der Wahrheit – auch in den Herausforderungen der Gegenwart – besser umgehen.
Ein wirklicher Dialog erwächst aus meiner Frage, wie ein christliches Gedächtnis des Schabbat aussehen kann, das einerseits die Verbundenheit mit dem jüdischen Volk zum Ausdruck bringt, zum anderen jedoch den Schabbat als Erbteil Israels nicht antastet.2 Ich freue mich, heute eine weitere Stimme dazu weitergeben zu dürfen – und freue mich auf mehr .
Ich wünsche dir a gut woch sowie einen gesegneten Sonntag
dein Ricklef Münnich
Der Schabbat einer Leserin von ahavta+
Der Schabbat ist für mich ein Geschenk G’ttes an sein Volk Israel und an die gesamte Menschheit. Auch ich erlebe ihn immer wieder als Leben bringende Gabe.
Zum einen, wenn ich gemeinsam mit meiner Familie am Freitagabend den Segen über Lichter, Brot und Wein spreche. In all der Unstetigkeit meines Lebens und den Wogen dieser Welt, ist dies ein verlässlicher Moment der Zuversicht und des Sich-im-guten-Leben-Verortens. Und wenn wir gemeinsam die Lieder singen und ich das von innen leuchtende Gesicht meines kleinen Sohnes sehe, dann spüre ich, welch bedeutender Schatz es für ein Kind ist, spirituelle Rituale zu erleben.
Zum anderen erlebe ich ihn als spirituelle Bereicherung und Reinigung. Ich verordne mir, an diesem Tag wirklich ganz im siebtenTag zu leben und keine Gedanken an Morgen und die sechs Tage der Woche zu bewegen. Also kein Planen, Entwerfen, Bedenken. Kein Überlegen, was noch besorgt, bedacht, vorbereitet werden sollte. Wenn es mir dann noch gelingt, einem Text der Bibel in seiner Tiefe und Weite zu begegnen, umso schöner.
Und zum Dritten habe ich mich des Verbots des Feuermachens angenommen. Das heißt keine Genusszigarette, keine Kerzen, kein Kochen. Das kann ich allerorts beachten, auch wenn anderes dann schwieriger umzusetzen ist.
Dann brennt immer ein Schabbatlicht bei uns, dass den ganzen Schabbat hindurch leuchtet und an die Fülle von Licht erinnert, die G’tt in unsere Tage bringen kann, wenn wir ihn nur lassen. Und es erinnert mich an alle Menschen, die nicht mehr mit mir auf dieser Welt sind und deren Licht mir fehlt und so fühle ich mich an diesem Tag auch mit ihrem Licht aus der Olam haba verbunden.
Welch Segen, dass ER uns den Schabbat gab. Dankbarkeit durchzieht mich und ich wünsche vielen Menschen dieser dem Wettbewerb und Wachstum versklavten Welt diese G’ttesgabe.
Wie zur Wahrheit kommen?
Die Menschen sind verschieden
Das Judentum anerkennt, dass es nicht eine Meinung unter den Menschen gibt. Die Menschheit ist so vielfältig, wie es Menschen gibt.
Die Rabbanan (der Zeit der Mischna) lehrten: Wer eine große Zahl von Israeliten sieht, spreche: „Gepriesen sei der Allweise der Geheimnisse“; denn das Wesen des einen gleicht nicht dem des anderen, und das Gesicht des einen gleicht nicht dem des anderen.3
Schon Mose wusste, dass es so viele verschiedene Perspektiven auf die Welt gibt, wie es verschiedene Menschen in ihr gibt.
So wie die Gesichter der Menschen nicht gleich sind, so sind auch ihre Meinungen nicht gleich; jeder hat seine eigene Meinung ... In der Stunde seines Todes bat Moses den Heiligen, gepriesen sei Er: Herrscher des Universums, die Meinung eines jeden Menschen ist dir offen und bekannt, und jeder hat eine andere Meinung. Wenn ich sie verlasse, ernenne ihnen bitte einen Anführer, der die Meinung jedes Einzelnen akzeptiert…4
Menachem Elon, Professor für jüdisches Recht an der Hebräischen Universität Jerusalem und fünf Jahre stellvertretender Präsident am Obersten Gerichtshof Israels (*1923 in Düsseldorf – 2013), schreibt dazu:
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