Die Macht der Namenlosen
Warum bleiben Abrahams Knecht und der geliebte Jünger anonym? Ein Blick auf die Kunst des biblischen Erzählens – und das Geheimnis exemplarischer Treue.
In 1. Mose 24 im Wochenabschnitt Chaje Sara beauftragt der „alte und betagte” Abraham „seinen Knecht, den ältesten seines Hauses, der schaltete über alles, was sein war”, in seinem Land und Geburtsort eine Frau für seinen Sohn Jizchak zu finden. Bis Vers 66 wird in dem langen Kapitel berichtet, wie der Knecht seinen Auftrag erfolgreich ausführt, bis er schließlich Jizchak „alle Dinge, die er ausgerichtet hatte,” erzählen kann. Trotz dieser bedeutsamen Aufgabe bleibt der Knecht bis zum Ende namenlos.
Die rabbinische Identifikation
Die rabbinische Tradition hat sich nie mit der Anonymität des Knechtes abgefunden. Ihre Lösung: Es handelt sich um den in 1. Mose 15,2 genannten Damessek Elieser, den „Damaskus Elieser”. Das ist in der Tora eine schwierige grammatische Form.
Raschi erläutert:
„Nach dem Targum war er von Damessek, nach dem aggadischen Midrasch verfolgte er die Könige bis Damessek (Bereschit Rabbah 44:9); in unserer Gemara deuten sie es als ein zusammengesetztes Wort: er schöpfte und tränkte die anderen mit der Lehre seines Herrn (Joma 28b).”
Raw Samson Raphael Hirsch meint, in 15,2 handele es sich bei dem berechnenden Erbe „nicht um Elieser, der wartet nicht auf Abrahams Tod, der ist selbst schon ein bejahrter Mann; die auf meine Erbschaft lauernden Erben, das sind die Verwandten Eliesers, Eliesers Damaskus! Diese Verwandtschaft hatte ja Abraham kürzlich kennen gelernt, hatte die Könige bis Damaskus verfolgt.” Darum sagt Gott in 15,4 zu Abraham: Diese wird dich nicht beerben.
Wie dem auch sei, es bleibt ein Stück Willkür oder zurückhaltender ausgedrückt, auslegerischer Wille, den Knecht von Kapitel 24 der Namenlosigkeit zu entreißen.
Ein Abbild seines Herrn
Der Midrasch Bereschit Rabba liefert detaillierte Charakterisierungen von Abrahams Knecht. Demnach sah er Abraham äußerlich ähnlich und war wie dieser „ein Herr seiner Triebe” – also jemand mit ausgeprägter Selbstbeherrschung. Als Kanaaniter stand er unter biblischem Fluch, doch die Rabbinen betonten: „Elieser war ein Kanaaniter, weil er aber einem Frommen redlich (mit Treue) gedient hatte, kam er aus dem Fluche in den Segen” (Rabbi Jose bar Dosa).
Der äußerlichen Ähnlichkeit des Knechtes mit Abraham sei es geschuldet, dass Laban ihn ansprach (24,31): „Komm herein, du Gesegneter des Herrn!” Er dachte nämlich, es handele sich um Abraham selbst. Diese physische Ähnlichkeit wird als Zeichen seiner tiefen Identifikation mit seinem Herrn gedeutet – er ist nicht nur Diener, sondern in gewisser Weise Abbild Abrahams.
Der geliebte Jünger im Johannesevangelium
Im Johannesevangelium finden wir gleichfalls eine bedeutsame Person, die durchgehend namenlos bleibt. Es ist der Schüler (Jünger), den Jesus liebte. Er wird sechsmal ausdrücklich erwähnt:
Es ist dieser Jünger, der während des letzten Abendmahls, als er neben Jesus liegt, von Petrus darum gebeten wird, Jesus zu fragen, wer ihn verraten wird (Johannes 13,23–25).
Später, bei der Kreuzigung, sagt Jesus zu seiner Mutter: „Frau, hier ist dein Sohn”, und zu seinem geliebten Jünger: „Hier ist deine Mutter” (19,26–27).
Als Maria Magdalena das leere Grab entdeckt, rennt sie los, um es dem geliebten Jünger und Petrus zu erzählen. Die beiden Männer eilen zum leeren Grab und der geliebte Jünger erreicht es als Erster. Petrus betritt es jedoch als Erster (20,1–10).
In Johannes 21,12, dem letzten Kapitel des Johannesevangeliums, ist der geliebte Jünger einer von sieben Fischern, die an dem wundersamen Fang von 153 Fischen beteiligt sind.
Im selben Kapitel des Evangeliums, nachdem Jesus angedeutet hat, wie Petrus sterben wird, sieht Petrus den geliebten Jünger, der ihnen folgt, und fragt: „Was ist mit ihm?” Jesus antwortet: „Wenn ich will, dass er bleibt, bis ich komme, was geht das dich an? Du folge mir nach” (21,20–23).
Am Schluss des Buches des Evangeliums heißt es, dass es auf dem schriftlichen Zeugnis des Jüngers, den Jesus liebte, basiert (21,24).
In den anderen Evangelien wird niemand in einer ähnlichen Situation erwähnt, der direkt mit dem geliebten Jünger in Verbindung gebracht werden könnte. In Lukas 24,12 beispielsweise rennt Petrus zum Grab. In den Evangelien nach Matthäus, Markus und Lukas wird kein Jünger erwähnt, der Zeuge der Kreuzigung gewesen wäre.
Die Identifikation mit Johannes
Wie auch beim Knecht Abrahams, der als Elieser von Damaskus gesehen wurde, wurde bereits im 2. Jahrhundert eine Identifizierung vorgenommen: Es handelt sich um Johannes. Aber welchen?
Heute sind sich Johannesexperten einig, dass der geliebte Jünger eine reale historische Person war, aber nicht darüber, wer er war. Eusebius schrieb im vierten Jahrhundert in seiner „Kirchengeschichte” einen Brief auf, von dem er glaubte, dass er im zweiten Jahrhundert von Polykrates von Ephesus (ca. 130er Jahre–196) verfasst worden war. Polykrates glaubte, dass der Evangelist Johannes derjenige war, „der an der Brust des Herrn lag”, was auf eine Identifikation mit dem geliebten Jünger hindeutet:
„Johannes war sowohl Zeuge als auch Lehrer, er ‚lag an der Brust des Herrn’ und trug als Priester die Priesterplatte. Er entschlief in Ephesus.”
Andere Identifizierungsvorschläge sind der Apostel Johannes Zebedäus, Maria Magdalena, Lazarus und Jakobus, der Bruder von Jesus.
Mein Vorschlag ist, sowohl den Knecht Abrahams wie auch den geliebten Jünger Jesu in der Anonymität zu belassen. Andererseits kann man natürlich fragen, warum beide Gestalten namenlos bleiben sollen.
Loyalität und Selbstlosigkeit
Eine Antwort, die sich auf beide Personen beziehen lässt, ist deren außergewöhnliche Treue: Vom Knecht Abrahams wird gesagt, dass er seinem Herrn ähnlich sah und wie dieser seinen eigenen Vorteil zurückstellte – er hatte selbst eine Tochter, die Isaak hätte heiraten können – und Abrahams Auftrag gewissenhaft ausführte. Der geliebte Jünger erscheint als derjenige, der Jesus bis unter das Kreuz folgt, während andere Jünger fliehen. Beide handeln selbstlos im Dienst ihres Herrn und stellen dessen Mission über ihre eigenen Interessen.
Zeugenschaft in entscheidenden Momenten
Der geliebte Jünger ist bei den zentralen Ereignissen der Passionsgeschichte präsent: beim letzten Abendmahl, unter dem Kreuz und am leeren Grab. Ähnlich ist Abrahams Knecht beim entscheidenden Moment der Brautwerbung für Isaak die Vertrauensperson – ein Ereignis, das die Fortführung der Bundesverheißung Gottes sichert. Beide fungieren als zuverlässige Zeugen göttlichen Handelns.
Theologische Gründe für die Anonymität
In der Forschung gilt die Namenlosigkeit des geliebten Jüngers als bewusste literarische Strategie. Martin L. Smith argumentiert, dass die Anonymität es den Lesern ermöglicht, sich selbst in die Nähebeziehung zu Jesus hineinzuversetzen: „Vielleicht wird der Jünger nie genannt, nie individualisiert, damit wir leichter akzeptieren können, dass er Zeugnis ablegt von einer Intimität, die für jeden von uns bestimmt ist.”
Abrahams Knecht hingegen wird als Vorbild gerechten Handelns gesehen: Der Traktat Derech Erez Zuta rühmt ihm nach, dass er wegen seiner beispiellosen Treue zu Abraham lebendig ins Paradies aufgenommen wurde. Beider Vorbildfunktion erhält eine typologische Bedeutung: Die Geschichte des Knechtes wird zum Modell selbstloser Nachfolge; der geliebte Jünger verkörpert die ideale Jüngerschaft: Er lehnt an der Brust Jesu, empfängt unter dem Kreuz Maria als Mutter und wird zum Zeugen der Auferstehung.
Die narrative Funktion der Anonymität
Im Kontext der fünf Bücher Mose und des Johannesevangeliums ist die narrative Funktion der beiden namenlosen Gestalten vielleicht am bedeutsamsten. In beiden Fällen lenkt die Anonymität den Fokus auf die Hauptperson: bei Genesis 24 auf Abraham und die göttliche Verheißung an Isaak, beim Johannesevangelium auf Jesus selbst.
Ob das angesichts der anhaltenden Identifizierungsbemühungen gelungen ist, mag man durchaus fragen.


