ahavta+ || Einsam gemeinsam
Anfang einer Bestimmung des Verhältnisses von Juden und Christen zueinander und zur Welt
Der einsame Mensch des Glaubens (The Lonely Man of Faith). Unter diesem Titel veröffentlichte Rabbiner Joseph Ber Soloveitchik im Jahre 1965 sein bekanntestes Werk. Es entstand, auch wenn es im Buch nicht erwähnt wird, aus einer Reihe von Vorlesungen, die er vor katholischen Seminaristen und Dozenten am Saint John’s Seminary in Boston – also im Blick auf Christen – hielt.
In diesen Vorlesungen sprach er über die jüdische Einsamkeit in einer heidnischen Welt – eine Einsamkeit, die, wie er andeutete, auch gläubige Christen bald inmitten der heranstürmenden säkularen Revolution erleben würden. Inzwischen hat diese vielleicht ihren Höhepunkt erreicht.
Für Juden und Jüdinnen hat Soloveitchik die Richtung gewiesen, wie es in diesem Zeitalter fortbesteht, in dem man sich darauf geeinigt zu haben scheint, dass Nietzsches Ausruf „Gott ist tot“ eine Tatsache beschreibt, – nämlich als Isch haHalacha, als „Mensch der Halacha“, wie sein 1944 inmitten der Schoa auf Hebräisch niedergeschriebenes Hauptwerk heißt. Dieser Mensch fühlt sich im öffentlichen Leben wie ein Fremder, der eine fremde Sprache spricht, die als unverständlich oder veraltet abgetan wird.
Christen und Christinnen hingegen stehen an einem Scheideweg. Bleiben sie weiterhin mit einer Welt verbunden, die ihre moralischen und ethischen Leitlinien selbst aufstellt, oder erkennen sie die Bibel als offenbartes Wort Gottes an und buchstabieren dieses aus als Grundlage ihres Tuns und ihrer Praxis? Gegenwärtig ist es eher so, dass in den Kirchen versucht wird, die Leitlinien der säkularen Welt – diese ändern sich laufend aufgrund einer moralischen Anarchie; derzeit heißen einige „Wir stehen für Diversität und Vielgeschlechtlichkeit“, „wir bekämpfen den Klimawandel“, „wir vereinigen uns gegen rechts“ – nachträglich mit einigen Versen aus dem Neuen Testament zu begründen.
Die Alternative, die Soloveitchik für gläubige Menschen beschreibt, ist auf den ersten Blick wenig einladend, nämlich die tägliche Herausforderung, in einer Gesellschaft zu leben, die sie nicht versteht und sich auch nicht für sie interessiert.
Keines der Bücher von Joseph B. Soloveitchik ist bislang ins Deutsche übersetzt worden, obgleich er als einer der herausragendsten jüdischen Denker des 20. Jahrhunderts angesehen wird. Ich bin der Meinung, dass es lohnt, als Christ von diesem Rabbiner zu lernen. Nicht allein für eine Bestimmung des Verhältnisses zur nicht-religiösen Welt, sondern auch für das christlich-jüdische Verhältnis. Und das gerade weil Soloveitchik ein entschiedener Gegner eines christlich-jüdisches Dialogs gewesen ist, da er im Christentum keinen Bundespartner auf Augenhöhe erkennen konnte.
Damit habe ich ein Vorhaben benannt, das ich nicht in einer einzigen Ausgabe des Magazins ahavta+ umsetzen kann. So ist die heutige ein Anfang. Ich danke dir schon jetzt für deine Treue auf einem Weg
und wünsche dir einen guten Sonntag
herzlich
dein Ricklef Münnich
„Jesus war Jude“
Es ist kein Abweichen von dem skizzierten Vorhaben, wenn ich zunächst einige Anmerkungen zu der Grafik mache, die in der Adventszeit von der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland verbreitet wurde.
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