ahavta+ || Elf Monate Kampf um Israel
Inzwischen scheint er mehr um das „wahre Israel“ als gegen den Terror von Hamas und Hisbolla geführt zu werden
Je länger die Pogrome von Simchat Tora 5784 zurückliegen, desto mehr brechen Kampfhandlungen nicht allein der IDF, sondern aller um die richtigen Meinungen, Haltungen und Friedenslösungen auf. Alle wollen Recht haben. Irgendwie. Und auf Kosten der anderen.
Das ist nicht nur ein Kampf Israelis gegen Israelis, sondern besonders auch der Völkerwelt gegen Israel. Irgendwie scheint das zum Schicksal des jüdischen Volkes dazuzugehören – jedenfalls seit Justin im 2. Jahrhundert in seinem Dialog mit dem Juden Tryphon die Kirche aus den Völkern sagen ließ: „Das wahre, das geistliche Israel nämlich, das sind wir.“
In der vergangenen Woche bot die FAZ einem Sprecher des „wahren Israel“ in Deutschland den Raum, einen „SOS-Ruf“ an alle vermeintlichen „Freunde Israels“ loszuwerden. Mordechai Kremnitzer schrieb – und seinen Artikel kannst du hier lesen: „Die Existenz Israels ist bedroht.“ Doch die Quelle der Bedrohung sieht er nicht beim Iran, der die Auslöschung des Judenstaates zur Staatsdoktrin gemacht hat, und auch nicht bei dessen Proxies im Libanon, in Gaza, im Jemen und neuerdings in Judäa und Samaria, vielmehr in Israel selbst, das nicht weniger als den „Weltfrieden“ bedroht:
Die größte Gefahr kommt von innen, von den Feinden von Frieden und Demokratie. Diese Kräfte zu unterstützen ist kein Ausdruck von Freundschaft mit Israel, im Gegenteil. Die Freunde Israels sind aufgerufen, die liberalen Demokraten in Israel und das wahre Israel gegen die friedens- und demokratiefeindliche Politik der israelischen Regierung zu unterstützen.
Es verlockt natürlich, die „Brandmauer“, die der Autor hier zwischen dem wahren Israel und den Demokratiefeinden hochziehen möchte, mit ganz ähnlichen Aufrufen zur Rettung der Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland zu vergleichen. Aber das ist nicht unser Thema, sondern dass Kremnitzer wie so viele in der Welt den „Friedensplan“ schon in der Tasche hat. Unserer Außenministerin als Freundin Israels wird das gefallen: „ein Friedensabkommen zwischen Israel und den Palästinensern auf Basis der Zwei-Staaten-Lösung“.
Rabbiner Dr. Walter Rothschild will da natürlich nicht zurückstehen: „Nach den letzten zwanzig oder mehr Plänen, die von wohlmeinenden, aber unwissenden und parteiischen Kommentatoren der deutschen Medien vorgelegt wurden, … möchte ich einen weiteren vorschlagen“. Wie Kremnitzer legte er gestern – Satire oder Verzweiflung? – einen „Vier-Punkte-Plan“ vor:
1. Alle linken Israelis und ihre Unterstützer, die den Frieden in Israel suchen, sollten in den Iran reisen und dort mit den Mullahs sprechen; einige Delegationen können auch nach Beirut und nach Hodeidah reisen, um Gespräche zu eröffnen und in ihrem eigenen Namen Zugeständnisse anzubieten.
Die Überlebenden (falls es welche gibt) können dann berichten, was sie erreicht haben.2. Die Bundeswehr sollte alle ihre Ressourcen nutzen und einen Angriff auf die Hamas im Gazastreifen starten, Yahya Sinwar (wenn möglich) lebend gefangen nehmen und vor Gericht stellen, alle Bewaffneten der Hamas, des Islamischen Dschihad und anderer Terrorgruppen ausschalten, alle Waffenlager vernichten und die verbleibenden Geiseln finden und befreien.
WENN die Bundeswehr dazu nicht in der Lage ist, dann sollten die deutsche Regierung und die Medien einfach die Klappe halten und die IDF mit der Aufgabe betrauen.3. Sollten die Bedingungen eines Friedensabkommens die Freilassung von mehreren hundert verurteilten mörderischen islamischen Terroristen im Gegenzug für die verbleibenden Geiseln bedeuten, dann sollte Deutschland anbieten sie aufzunehmen, anstatt von Israel zu verlangen, dass diese in den Gazastreifen oder das Westjordanland zurückkehren dürfen.
4. Säkulare, nicht-religiöse deutsche und israelische Journalisten sollten aufhören, Israelis und alle religiösen Juden als „Rechtsextremisten“ zu bezeichnen. Obwohl nicht alle Juden und auch nicht alle Israelis in Hebron oder auf dem Tempelberg in Jerusalem leben oder beten wollen, werden religiöse Israelis die säkularen deutschen Medien nicht ernst nehmen, solange ständig behauptet wird, Juden hätten kein Recht, dort zu leben oder zu beten, wo sie wollen. Das kommt einer religiösen Diskriminierung gleich.
Rothschild gehört zu den regelmäßigen Auslegern der Tora beim Wort zum Schabbat. Besonders schätze ich bei seinen Gedanken zu den Wochenabschnitten der Fünf Bücher Mose, dass er lehrt, Fragen zu stellen und vorschnellen Antworten aus dem Weg zu gehen.
Das trifft auch auf seine „Überlegungen zum Rabbinersein in Europa nach Oktober 2023“ zu, die er am Montag vor der Europäischen Rabbinerkonferenz in Genf vortragen wird. Genau 53 Fragezeichen finden sich in seinem Text. Was jedoch nicht heißt, dass er nicht klare Positionen bezieht.
Walter Rothschild hat zugestimmt, dass seine Überlegungen – die ich aus dem Englischen übersetzt habe und Fehler dabei auf meine Kappe gehen – vorab hier bei ahavta+ veröffentlicht werden. Dafür bin ich sehr dankbar, denn viele seiner an die Rabbinerkollegen gerichteten Fragen treffen auch Nichtjuden. So etwa:
Warum erwartet die Welt, dass Juden immer „die andere Wange hinhalten“? Warum dürfen Muslime über ihre Situation wütend sein, Juden aber nicht? Ist unsere Wut nicht gerechtfertigt oder sogar gesund? Die Weigerung, sich Unterdrückung und Erpressung zu beugen?
Oder:
Wie kann es sein, dass wir Menschen sehen, nicht auf alten Schwarzweißfotos oder in Dokumentationen, sondern Menschen unserer Generation, die vergewaltigt, geschändet, gedemütigt und lebendig verbrannt werden?
Der Kampf um Israel, der derzeit geführt wird, verlangt unser Nachdenken, unsere Klarheit, und unsere Position – nicht auf „der richtigen Seite“, sondern an der Seite der Juden.
Schabbat Schalom und einen guten Sonntag wünscht dir
dein Ricklef Münnich
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