Sukkot || Freude in ungesicherter Existenz
„Werden feucht die Augen? Freunde, klaget nicht! Freut euch dieser Stunden! Seht, hier ist's so licht!“
Die Widersacher Israels schänden die Feiertage Israels. Vor zwei Jahren wählte Hamas das Fest der Torafreude Simchat Tora, um die israelischen Ortschaften und Kibbuzim vor dem Gaza-Streifen zu überfallen. Die Flotille mit 40 Booten, aber ohne Hilfsgüter an Bord, wählte den Versöhnungstag Jom Kippur, um in israelische Hoheitsgewässer einzudringen. Am selben Tag ereignete sich der tödliche Überfall auf die Betergemeinde in der Synagoge von Manchester.
Heute Abend beginnt das Fest der Laubhütten Sukkot. Sein Kennzeichen ist die Freude. Denn
in der Schrift findet sich für das Sukkotfest dreimal das Gebot der Freude:
„Und freuen sollst du dich an deinem Feste“,
„du sollst freudig sein“,
„freuen sollt ihr euch vor dem Ewigen, eurem Gott, sieben Tage“1
Am Pessachfest ist von Freude gar keine Rede. (…) Ebenso findest du, dass am Schawuotfest die Tora nur einmal von Freude spricht. (…) Aber am Sukkotfest, da die Früchte des Feldes, die Obst- und die Weinlese glücklich gesichert sind, spricht die Tora von dreifacher Freude.2
In der jüdischen Diaspora jedoch ist die Freude mindestens seit 2023 getrübt. Anders als im Land Israel: Wenn Juden in Deutschland schon nicht einmal mehr mit einer Kippa in die Öffentlichkeit gehen wollen und sollen, um sich nicht einer persönlichen Gefährdung auszusetzen, um wieviel mehr gilt das für eine weithin sichtbare Laubhütte? Welche jüdische Familie unter uns traut sich – außerhalb ihrer jüdischen Gemeinde – in ihrer eigenen Sukka zu sitzen? Dabei ist das doch eine Mizwa, ein Gebot:3
In Hütten sollt ihr wohnen sieben Tage; alle Eingeborene in Jisrael sollen wohnen in Hütten. Damit es eure Nachkommen erfahren, dass ich in Hütten habe wohnen lassen die Kinder Jisrael, da ich sie herausgeführt aus dem Land Mizrajim: Ich bin HaSchem, euer Gott.
Soweit also sind wir gekommen… Oder vielmehr: Dahin sind wir wieder zurückgekommen. Der „Dichter des Ghettos“ Morris Rosenfeld (geb. 1862 in Boksze im damals russischen Teil Polens, gest. 1923 in New York) schrieb das Gedicht4
Laubhütte
Auf dem fremden Boden ist sie aufgebaut,
Durch das fremde Reisig fremder Himmel blaut,
Und sie steht so ängstlich scheu in Wind und Zeit,
Bis an ihre Türe drängt sich Not und Leid.
Aber drinnen zittert heimelnd Kerzenschein
Und man freut sich, freut sich, gottgeliebt zu sein.
Draußen geht ein Frösteln und die Welt ist müd’,
Längst, längst ist des Sommers Feuer abgeglüht.
Nach den reichen Tagen – dieser schmale Rest,
Nach den stolzen Tagen – dieses stille Fest,
Nach den Siegesträumen – dieses enge Zelt,
Nach der Weltenweite – diese Bretterwelt.
Werden feucht die Augen? Freunde, klaget nicht!
Freut euch dieser Stunden! Seht, hier ist’s so licht!
Bringt die Festesbrote, bringt den Festeswein!
Fühlt der Tage Weihe! Woll’t zufrieden sein!
Sie vergehen, daß ihr’s wie im Traume denkt,
Wenn uns wieder erst das alte Heim umfängt.
Doch Not und Leid drängen sich nur bis zur Tür der Laubhütte. Drinnen in der Bretterwelt ist heimelnd Kerzenschein. Und gegen das Frösteln in der Welt wird es drinnen warm von der Freude, von Gott geliebt zu sein.
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Morris Rosenfeld will sagen:
Die Sukka ist das vorübergehende Zuhause eines obdachlosen Volkes.
Rabbiner Jonathan Sacks sel.A. führte diesen Gedanken aus:5
Sukkot wird zu einer Metapher für die Lage der Juden – nicht nur während der vierzig Jahre in der Wüste, sondern auch während der fast 2000 Jahre, die sie im Exil und in der Zerstreuung verbrachten. Jahrhundertelang lebten die Juden ohne zu wissen, ob der Ort, an dem sie lebten, nur eine vorübergehende Bleibe sein würde. Um nur eine Periode als Beispiel zu nehmen: Die Juden wurden 1290 aus England vertrieben und in den folgenden zwei Jahrhunderten aus fast allen Ländern Europas, was 1492 in der Vertreibung aus Spanien und 1497 in der Vertreibung aus Portugal gipfelte. Sie lebten in einem Zustand permanenter Unsicherheit. Sukkot ist das Fest der Unsicherheit.
Sukkot ist das Fest der Unsicherheit. Es ist das Fest eines Volkes, das weiß, dass es niemals ganz sicher sein wird, da es von größeren und stärkeren Nationen umgeben ist und immer wieder angegriffen wurde, nur weil es den Mut hatte, anders zu sein. In der Sukka zu sitzen, „im Schatten des Glaubens“, ist die einzige Sicherheit, die wir brauchen.
(Rabbiner Jonathan Sacks sel.A.)
Für Sacks ist es bemerkenswert, dass dessen ungeachtet Sukkot traditionell Sman Simchatenu, „die Zeit unserer Freude”, genannt wird.
Für mich ist das das Wunder im Herzen der jüdischen Erfahrung: dass Juden im Laufe der Jahrhunderte in jeder Phase ihres Daseins Risiken und Unsicherheiten erleben mussten und sich dennoch – während sie bezila de-mehemnuta, „im Schatten des Glaubens” (so beschreibt der Sohar die Sukka, Emor 103a), saßen – freuen konnten. Das ist spiritueller Mut auf höchstem Niveau. Ich habe oft argumentiert, dass Glaube keine Gewissheit ist, sondern der Mut, mit Unsicherheit zu leben. Genau das repräsentiert Sukkot (…): nicht die Wolken der Herrlichkeit, sondern die Verletzlichkeit tatsächlicher Hütten, die für Wind, Regen und Kälte offen sind.
Und was Rabbiner Sacks hier vor 12 Jahren schrieb, gilt heute in der Zeit der Gegenwehr gegen den Vernichtungswillen aus Gaza umso mehr:
Ich finde diesen Glauben heute in den Menschen und im Staat Israel. Es erstaunt mich, wie die Israelis seit der Staatsgründung mit einer fast ständigen Bedrohung durch Krieg und Terror leben können, ohne der Angst nachzugeben. (…) Das heutige Israel ist die lebendige Verkörperung dessen, was es bedeutet, in einem Zustand der Unsicherheit zu leben und sich dennoch zu freuen.
Darin kann, so Sacks, Israel heute geradezu zu einem Vorbild für die Völker der Welt werden. Denn, so ist er überzeugt:
Das 21. Jahrhundert wird von Historikern eines Tages als das Zeitalter der Unsicherheit angesehen werden. Als Juden sind wir die weltweit größten Experten in Sachen Unsicherheit, da wir seit Jahrtausenden damit leben. Die beste Antwort auf Unsicherheit ist Sukkot, wenn wir die Sicherheit unserer Häuser hinter uns lassen und (…) in Hütten sitzen, die den Elementen ausgesetzt sind. Dies zu können und dennoch zu sagen, dies sei „Sman Simchatenu”, das Fest unserer Freude, ist die höchste Errungenschaft des Glaubens und das ultimative Gegenmittel gegen Angst.
Israels Sukkot-Freude ist seine Botschaft an die Völker
Sich im Zustand der Unsicherheit gleichwohl zu freuen, sei Israels Botschaft von Sukkot an die Welt. Dies umso mehr als Sukkot das einzige Fest sei, über das im Tanach steht, dass es eines Tages von der ganzen Welt gefeiert werde (Sacharja 14,16):
Alle Überlebenden der Völker, die gegen Jerusalem gezogen sind, sollen Jahr für Jahr eine Pilgerreise unternehmen, um sich vor dem höchsten Gott der Heerscharen zu verneigen und das Laubhüttenfest zu feiern.
In diesem Zusammenhang ist bedeutsam, dass das Laubhüttenfest gerade dasjenige der drei Wallfahrtsfeste ist, das von der Kirche nicht aufgenommen wurde. Ostern steht in engster Verbindung zu Pessach und ebenso Pfingsten zu Schawuot. An Sukkot hingegen gibt es einen liturgischen Leerraum im kirchlichen Festkalender, sofern man nicht das Erntedankfest als christliches Äquivalent verstehen möchte.
Die fehlende Feier eines christlichen Sukkot verwundert schon deswegen, da doch das Johannesevangelium in Kapitel 7 den Zusammenhang von Laubhüttenfest und der Verheißung von Sacharja 14 aufnimmt (Vers 8f):
Und HaSchem wird König sein über alle Lande. An jenem Tag wird HaSchem einzig sein und sein Name einzig.
Ausführlicher habe ich über diese Bedeutung 2022 hier geschrieben:
Wie kann Israels Botschaft von Sukkot in den Kirchen aus den Völkern heute aufgenommen werden?
In den Tagen der Wiederkehr des Gedenkens der Massaker der Hamas muss die Antwort lauten:
Indem Christinnen und Christen sich nicht am Geschrei der Völker beteiligen, das die Verleumdungen der Islamisten, Israel begehe einen „Genozid“ an den Palästinensern, auf die Straßen Europas bringt – so gestern in Amsterdam mit 250.000 Menschen und am 7. Oktober auch in Deutschland in mehreren judäophoben Aufzügen –, vielmehr sich mitfreuen, wenn das Volk Israel an Sukkot die Gabe feiert, sich inmitten der „Wildnis der Zeit“ (Jonathan Sacks) und inmitten aller Instabilität zu freuen.
Für Christen ist die Mitfreude eine endzeitliche Gabe. Sich nicht mit Israel freuen zu können, leugnet die Berufung des Herrn der Kirche.
Davon abgesehen, ich möchte es nicht als eine Warnung verstanden wissen, wenn ich abschließend schreibe: Wir werden diese Freude noch sehr benötigen…
In 5. Mose 16,14f.; 3. Mose 23,40.
Jalkut zu 3. Mose § 65,4.
In 3. Mose 23,42f.
Morris Rosenfeld, Gedichte, Jüdische Universalbibliothek, Prag 1909. Dort die deutsche Übersetzung durch Friedrich Thieberger. Jiddischer Text in: Schrift’n, Bd. 2, New York 1910, S. 91.