ahavta+ || Gesellschaft im Niedergang?
„Der Fluch des jüdischen Volkes besteht darin, der Kanarienvogel in der Kohlemine zu sein. Aber die Welt zeigt den Wunsch, den Kanarienvogel zu erschießen.“ Damit hofft sie, Ruhe zu haben.
Der Kanarienvogel wurde in Kohlegruben als Frühwarnsystem eingesetzt. Während des Bergbaus wurden Kanarienvögel in Käfigen in die Gruben gebracht. Wenn giftige Gase wie Kohlenmonoxid vorhanden waren, reagierten die Vögel empfindlicher darauf als Menschen. Wenn der Vogel krank wurde oder starb, war das ein Hinweis für die Bergleute, dass die Luftqualität gefährlich war und sie die Grube verlassen sollten.
Die Massaker des 7. Oktober 2023 in Israel waren ein solches Ereignis. Aber die Welt reagierte nicht mit Entsetzen auf die größte Zahl ermordeter Juden seit der der Schoa. Vielmehr wurde der Kanarienvogel, wurde Israel als Schuldiger identifiziert.
Inzwischen scheint die Welt nicht nur mit ihren politischen Organisationen wie UN und EU, sondern auch an den Universitäten und im Kulturbetrieb und bis hin zu den Demonstrationen auf den Straßen ihren moralischen Kompass verloren zu haben.
Tora und Evangelium sind ein solcher Kompass, die das Judentum über Jesus von Nazaret der Welt geschenkt hat. Immer weniger Menschen wissen, mit diesem Instrument umzugehen. Kirchen und ihre Umfeldorganisationen geben dazu kaum noch Anleitung. Eine solche Organisation ist der Deutsche Koordinierungsrat der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit. Zur nächstjährigen Verleihung seiner Buber-Rosenzweig-Medaille mache ich heute eine Anmerkung.
Grund zur Verzweiflung besteht solange nicht, wie es beeindruckende Stimmen der Klarsicht und deutlicher Worte gibt. Zwei von ihnen stelle ich dir vor. Und mindestens eine hätte ich mir als Preisträger der Buber-Rosenzweig-Medaille gewünscht…
Eine gute Woche beginnend mit einem friedlichen Sonntag wünscht dir
dein Ricklef Münnich
Die Israelisierung des Antisemitismus
Monika Schwarz-Friesel forscht seit vielen Jahren als Professorin an der Technischen Universität Berlin zur Sprache der Judenfeindschaft im 21. Jahrhundert, so der Titel ihres zusammen mit Jehuda Reinharz verfassten und 2012 erschienen Hauptwerkes. Dort untersuchte die beiden Wissenschaftler nach mehr als siebenjähriger Forschungsarbeit über 14.000 E-Mails, Briefe, Postkarten und Faxe, die zwischen 2002 und 2012 an den Zentralrat der Juden und die Israelische Botschaft in Berlin aus allen Regionen Deutschlands geschickt wurden. Der Band widerlegt die lange gepflegte Legende, Antisemitismus gebe es in Deutschland nur noch an den Rändern der Gesellschaft – bei einigen „Ewiggestrigen“ oder „geistig Gestörten“. Das Gegenteil ist der Fall. Es ist gerade die Normalität des Alltagsantisemitismus, die so schockierend ist. Alltagsantisemitismus ist ein Phänomen der gesamten Gesellschaft, so die Autoren.
Am 3. Mai 2024 hielt Monika Schwarz-Friesel die Hauptrede bei der Gedenkveranstaltung gegen Gewalt und Rassismus im Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus im österreichischen Parlament. Seit über zwanzig Jahren forsche sie zum Thema Judenfeindschaft, doch noch nie sei es ihr so schwer gefallen, ihre Gedanken in Worte zu fassen wie heute, sagte sie eingangs.
Nicht nur das Massaker der Hamas am 7. Oktober sei monströs gewesen, sondern vor allem auch die Reaktionen darauf. Die Opfer-Täter-Umkehr, das „ohrenbetäubende“ Schweigen der Feministinnen zu den Vergewaltigungen, das Schweigen der Künstler, der Friedensaktivisten. Die Opfer seien dadurch verhöhnt worden. Auch durch diese „Ja, aber“-Rhetorik. Von Hasseruptionen und Empathieverweigerung sprach die deutsche Professorin.
Man habe es am 7. Oktober nicht mit einer Banalität des Bösen zu tun gehabt, sondern mit einem „eliminatorischen Antisemitismus“ wie zu Zeiten der Nationalsozialisten. Es sei darum gegangen, die jüdische Existenz auszulöschen. Palästinensische Terroristen hätten mit ihren grauenvollen Taten auch noch geprahlt.
Ein mittig daherkommender, intellektuell verbrämter „Feuilleton-Antisemitismus“ habe anschließend diese Taten als „Aufstand“ bezeichnet und die Hamas als linke Widerstandsbewegung umgedeutet. Ein „woker Manichäismus“, intolerant gegenüber Israel, sei mitverantwortlich für eine „Israelisierung des Antisemitismus“. Judenhass und Israelhass würden jetzt eine untrennbare Symbiose bilden.
„'Warum die schwarze Antwort des Hasses auf dein Dasein, Israel?' (Nelly Sachs, 1961). Eruptionen der alten Judenfeindschaft und die Israelisierung des Antisemitismus." Den Keynote-Vortrag von Monika Schwarz-Friesel empfehle ich dir. Den Redetext findest du als PDF-Datei hier. Zuhören kannst du bei YouTube:
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