ahavta+ || Israel ist der Jude unter den Staaten
Wie Juden immer schon als Sündenböcke missbraucht wurden, wenn die Welt unübersichtlich wurde, so ist es heute Israel als jüdischer Staat, der in einer klaren Rollenverteilung dämonisiert wird.
Israel, hat der Historiker Leon Poliakov gesagt, sei „der Jude unter den Staaten“. Und so wie Juden in Zeiten zunehmender Unübersichtlichkeit als Sündenböcke gebraucht wurden, so wird Israel heute umso mehr dämonisiert, je schwieriger es wird, die Welt zu verstehen. Mag es für die Wirtschaftskrise, den Klimawandel, den Islamismus und andere Übel des 21. Jahrhunderts viele Erklärungen geben, im Nahen Osten sind die Rollen klar verteilt: Die Israelis sind die Täter, die Palästinenser die Opfer. Die Exzesse der „Israel-Kritik“ der letzten Wochen sind allein mit der Politik Israels nicht zu erklären.
Klingt sehr aktuell, nicht wahr? Aber geschrieben hat das Henryk Broder in der WELT vom 18. Juni 2010, also vor fast 14 Jahren. Man könnte schlussfolgern, es sei irgendwie auch beruhigend, wenn es – wie schon der Prediger Salomo vor Jahrtausenden feststellte – nichts Neues unter der Sonne gibt. Andererseits: Das jüdische Volk hat bereits einmal am eigenen Leib erfahren, dass man ihm eliminatorisch an den Kragen ging. Und jetzt ist offenbar geworden, dass die Hamas genau das mit den Juden vorhatte und noch hat, die in einem eigenen Staat namens Israel leben. Eben der jüdischen Staatlichkeit ist es zu verdanken, dass es diesmal eine Gegenwehr gibt. Nicht eine diplomatische, sondern eine kriegerisch-grundsätzliche, die verhindert, dass sich die Massaker und Gräueltaten der Hamas wiederholen können. Freilich, wie Thomas Schmid in seinem Blog bei der WELT notiert:
Je länger der Gaza-Krieg dauert, desto schwächer wird die Position Israels. Nicht militärisch. Doch von Tag zu Tag formiert sich die „Weltöffentlichkeit“ gegen den israelischen Staat. Die Nachrichten werden von den Zerstörungen im Gazastreifen beherrscht, tagtäglich dringt die Not der dort noch lebenden palästinensischen Bevölkerung auf die Fernsehschirme und die Nachrichtenportale. Das folgt eisern dem Gesetz der Aktualität. Und weil das Massaker vom 7. Oktober nicht mehr als aktuell gilt, ist es aus der Medienöffentlichkeit verschwunden. Es droht in Vergessenheit, zumindest aber ins Halbdunkel des Erinnerns zu geraten. Mehr noch, immer entschiedener wird Israel vom Opfer zum Täter umgedeutet. Bisher letzter Höhepunkt: Zum Abschluss der Berlinale 2024 beschuldigten Filmemacher auf der Bühne Israel des Genozids, die Morde der Hamas erwähnten sie mit keiner Silbe. Das Publikum spendete kräftig Beifall. Und weltweit solidarisieren sich Staatsmänner mit den Palästinensern, nicht aber mit Israel.
Meine Überzeugung ist, dass der 7. Oktober 2023 tatsächlich grundsätzlich etwas verändert hat – und verändern muss.
Für viele Israeli hat er den Blick auf „das palästinensische Problem“ verändert. Als Beispiel dafür habe ich einen Beitrag von Rafi DeMogge (Pseudonym eines in Israel lebenden Autors) in die neue Rubrik Deep Dive eingefügt, die du auf der Website von ahavta - Begegnungen oben im Menü findest. Vor dem 7. Oktober 2023 hatte der Verfasser eine Zwei-Staaten-Lösung für den israelisch-palästinensischen Konflikt befürwortet, jetzt legt er dar, wie sich eine palästinensische Eigenstaatlichkeit für ihn in eine Unmöglichkeit verwandelt hat.
Zur Erinnerung: Die Beiträge in Deep Dive kannst du dir mit einem Abo unter dem Menüpunkt „Newsletter“ zusenden lassen, wenn du Mitglied von ahavta+ bist.
Es muss sich etwas verändern. Besonders auch in den christlichen Kirchen. Eine eindringliche Stimme, die dies als Erwartung – leider schon nicht mehr als Hoffnung – zum Ausdruck bringt, ist die von Rabbiner Dr. Walter Rothschild. Wir möchten klare Zeichen der Empathie und Unterstützung sehen, heißt es in einem sehr persönlich gehaltenen Beitrag für ahavta+. Von der Leber geschrieben hat er sich diesen in der vergangenen Woche nach dem diesjährigen Treffen zwischen Rabbinern und Bischöfen im Zusammenhang der „Woche der Brüderlichkeit“, die nach vielen Jahrzehnten dem Zeitgeist entsprechend nicht mehr so heißt (Ich frage mich, ob man das Kind wirklicher Brüderlichkeit von Juden und Christen nicht dabei mit dem Bade ausgeschüttet hat).
Ich wünsche dir einen friedlichen Sonntag und eine gute Woche
dein Ricklef Münnich
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