ahavta+ || Jesus, ein Revolutionär?
Diese Frage führt letztlich weg von dem, was Jesus fraglos war – ein Jude.
„War Jesus ein Revolutionär?” Diese Frage wurde am Rande unseres Gesprächs mit Rabbinern in Kloster Donndorf gestellt. Dort ergab es sich nicht, näher darauf einzugehen. Heute möchte ich einige Gedanken dazu aufschreiben. Freilich erweitert auf die Frage: „Wer war Jesus?“
Ich wünsche dir Schalom für einen schönen Sonntag und eine gute Woche
dein Ricklef Münnich
Die revolutionären Lehren Jesu
In einem Text der Jesus-Freaks heißt es:
Jesus lebte im Widerspruch zu gesellschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen und religiösen Mächten. Er nannte die Dinge beim Namen, die schief liefen.
Als Revolutionär stellte Jesus die gesellschaftlichen Werte auf den Kopf. Damals wie heute sind Geld, Besitz, Familie und Sicherheit erstrebenswerte und allgemein anerkannte Ziele. Nicht so bei Jesus: Was immer dich bindet, an einem bestimmten Ort festhält, in Traditionen und Ansichten gefangen hält oder dein Handeln einschränkt, soll kritisch durchdacht werden.
Ein evangelikaler Beitrag des amerikanischen Autors William MacDonald beginnt:
Der Herr Jesus war ein Revolutionär. Wenn wir das sagen, meinen wir jedoch nicht, dass er ein bewaffneter Terrorist war, der die Regierung stürzen wollte. Seine Revolution war eine Revolution der Liebe, nicht des Hasses; des Dienstes, nicht der Tyrannei; der Rettung, nicht der Zerstörung. Wenn wir sagen, dass Jesus ein Revolutionär war, wollen wir damit ausdrücken, dass seine Lehren die radikalsten Lehren waren, die jemals über die Erde verbreitet wurden.
Bei diesen und ähnlichen Feststellungen geht es letztlich nicht um die Frage, wer Jesus war, sondern darum, was seine Lehre in der Gegenwart bedeutet oder doch bitte bedeuten möge und wie du dich zu ihr verhältst. Am deutlichsten hat das Erich Kästner 1930 in einem Gedicht gemacht:
Dem Revolutionär Jesus zum Geburtstag
Zweitausend Jahre sind es fast,
seit du die Welt verlassen hast,
du Opferlamm des Lebens!
Du gabst den Armen ihren Gott.
Du littest durch der Reichen Spott.
Du tatest es vergebens!
Du sahst Gewalt und Polizei.
Du wolltest alle Menschen frei
und Frieden auf der Erde.
Du wusstest, wie das Elend tut
und wolltest allen Menschen gut,
damit es schöner werde!
Du warst ein Revolutionär
und machtest dir das Leben schwer
mit Schiebern und Gelehrten.
Du hast die Freiheit stets beschützt
und doch den Menschen nichts genützt.
Du kamst an die Verkehrten!
Du kämpftest tapfer gegen sie
und gegen Staat und Industrie
und die gesamte Meute.
Bis man an dir, weil nichts verfing,
Justizmord, kurzerhand, beging.
Es war genau wie heute.
Die Menschen wurden nicht gescheit.
Am wenigsten die Christenheit,
trotz allem Händefalten.
Du hattest sie vergeblich lieb.
Du starbst umsonst.
Und alles blieb
beim alten.
So kann Jesus bis heute für die unterschiedlichsten Anliegen eingesetzt werden. 1989 veröffentlichte Franz Alt den Bestseller Jesus - der erste neue Mann. Für das Magazin evangelisch.de war Jesus der erste Feminist: Ein Revolutionär in Gottes Auftrag – Jesus und die Gleichberechtigung. Die Beispiele ließen sich beinahe beliebig vermehren. So ist Jesus natürlich auch der erste Umweltschützer:
Jesus zeigt immer wieder die Würde der geschaffenen Natur auf und weiß um ihre Gefährdung durch die Anmaßung des Menschen. (…) Der Geist einer des Evangeliums gemäßen Einfachheit und Kontemplation steht einem Verständnis der Natur als Objekt und Gegenstand der Bereicherung unvereinbar gegenüber.
Das Problematische an fast allen dieser Deutungen ist, dass Jesus in seiner vermeintlichen Neuheit abgesetzt wird von seiner Umwelt und Umgebung. Und diese ist unbestreitbar eine jüdische. Damit wohnt den Interpretationen implizit ein Antijudaismus inne – oder, wie bei Franz Alt, auch ganz ausdrücklich:
(D)en Ursprung aller Übel, bis hin zu „Auschwitz, Hiroshima und Nagsaki“, macht er dingfest im geschichtsmächtigen Einfluß „des Gottes Moses“ bzw. „des Gottes des Alten Testaments“: „ein furchtbares Gottesbild mit schrecklichen Auswirkungen auf die Menschheitsgeschichte“.
Versuchen wir stattdessen Abstand von vorschnellen Deutungen der Person und Lehre Jesu zu nehmen!
Kreuz und Auferweckung Jesu
Unbezweifelbar ist das Zeugnis von Menschen, die den durch die Römer gekreuzigten Jesus als Lebendigen erfahren haben. Der erste Zeuge, der dies in Briefen, die auf uns gekommen sind, zum Ausdruck gebracht hat, ist Paulus. Ihn interessiert der Mensch und Lehrer Jesus so gut wie nicht. An die Christus-Gemeinde in Korinth schreibt er (1Korinther 2,2): Ich hatte nämlich beschlossen, unter euch nichts zu wissen außer Jesus Christus, und ihn als Gekreuzigten.
Für den früheren Pharisäer Saulus gehörte anders als bei anderen jüdischen Gruppen des 1. Jahrhunderts die Hoffnung, dass Gott Tote erweckt, zum Kanon seiner Überzeugungen – gewonnen aus der Tora. Schriftbelege dafür finden sich später reichlich im Talmud. Aber schon in der Mischna heißt es: Derjenige, der sagt, dass der Glaube an die Auferstehung der Toten nicht aus der Tora stammt, hat keinen Anteil an der kommenden Welt. (Sanhedrin 10,1) Dem Matthäusevangelium zufolge hat Jesus selbst im Gespräch mit Sadduzäern die Auferstehung von den Toten aus der Tora abgeleitet (Matthäus 12,26):
Hinsichtlich der Toten, dass sie auferweckt werden … habt ihr nicht im Buch des Mose (2.Mose 3,6) über den Dornbusch gelesen, wie Gott zu ihm sprach und sagte: ‚Ich [bin] der Gott Abrahams und der Gott Isaaks und der Gott Jakobs‘?
Ähnlich wie später bei Rabbi Akiva ist hier wichtig ein einziger Buchstabe waw, das und. Wenn Gott zugleich Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs ist, dann lernen wir daraus, dass sie leben.
Da Saulus Jesus als Auferwecktem begegnet ist, hat für ihn die Zeit des Lebens aus den Toten begonnen. Die eigentliche Bedeutung erschloss sich für ihn freilich aus dem Faktum, dass Gott in Jesus einen Gekreuzigten auferweckt hat. Denn wiederum die Tora lehrte ihn (5.Mose 21,23): Verflucht [ist] jeder, der am Holz hängt! (Galater 3,13). Wie kann Gott denn einen durch seine Tora Verfluchten auferwecken? Widerspricht er ihr dann nicht? Das ist toragemäß nur möglich, wenn Jesus nicht seinen Fluch, sondern den aller anderen Menschen gestorben ist.
Diese Botschaft, dass alle, die ihr vertrauen, nun mit Jesus mitgekreuzigt sind, dann aber auch jetzt mit ihm leben, und die jetzt nicht nur Israel selbst betrifft, sondern auch die nichtjüdischen Völker, versuchte Paulus von dieser seiner Erkenntnis an zu den Völkern zu bringen.
Von Paulus lernen wir also über die Person Jesus so gut wie nichts. Das änderte sich erst mit und durch die vier Evangelien.
Das Zeugnis der Evangelien
Auch das, was die Evangelien über Ankündigung, Geburt, Leben und Lehre von Jesus erzählen, ist nicht ablösbar von dem Zeugnis seines Todes am Kreuz und der Erfahrung, dass der Gekreuzigte lebt. Von diesem Ende her, der eigentlich ein Anfang ist, sind die Berichte der Evangelien zu lesen. Dieses bestimmt das Interesse der Evangelien.
Dieses bedeutet freilich auch, dass über keinen Juden des ersten Jahrhunderts soviel geschrieben bzw. uns überliefert worden ist wie über Jesus von Nazaret. Damit werden die Evangelien zum wichtigsten Zeugnis über das Judentum dieser Zeit.
Diese Zeit, das ist zum einen die Lebenszeit Jesu in den ersten Jahrzehnten unserer Zeitrechnung – Historiker gehen davon aus, dass Jesus um das Jahr 30 getötet wurde. Zum anderen ist es die Zeit der Zerstörung des Jerusalemer Tempels im Jahre 70 mit den folgenden ein oder zwei Jahrzehnten. Denn da wurden die Evangelien geschrieben bzw. schriftlich abgeschlossen.
Die Evangelien sind damit indirekt auch ein Kommentar dieses das Judentum umstürzenden Ereignisses. Das jüdische Volk hat seine Katastrophe des Verlustes seines zentralen Heiligtums überwunden, indem es bevollmächtigte und später ordinierte rabbinische Lehrer der Tora an die Stelle der Priester setzte, Gebet an die Stelle der Opfer sowie heilige Zeiten an die Stelle des heiligen Ortes. Parallel zum Werden des rabbinischen Judentums entstand ein christliches Judentum, das den Lehrer Jesus in den Mittelpunkt stellte, den die Apostel und später bevollmächtigte und ordinierte Menschen in Ämtern interpretierten. An die Stelle der Opfer im Tempel trat der als einmaliges und endgültiges Opfer gedeutete Kreuzestod Jesu. Ein heiliger Ort wurde gleichfalls nicht mehr benötigt. Seine Stelle nahm ebenfalls neu gedeutete Zeit ein, nämlich die messianische Endzeit, die den gesamten Erdkreis füllt.
Die Person Jesus
Über Jesus wurde erzählt und geschrieben, weil er als Gekreuzigter auferweckt geglaubt wurde. Zieht man diesen Glauben von den Berichten der Evangelien ab, wird man eingestehen müssen, dass ohne ihn vermutlich nichts über Jesus überliefert worden wäre. Denn Jesus war weder Rebell noch Revolutionär, weder neuer Mann noch Feminist noch ein Mensch mit Gespür für Natur und Ökologie.
Jesus war Jude, in der Tora gelehrter Jude wie viele vor und nach ihm, von denen wir ebenfalls nichts oder nur wenig abgesehen von ihren Tora-Auslegungen wissen. Amy-Jill Levine drückte es in einem Vortrag zusammenfassend so aus:
Jesus kleidet sich wie ein Jude, isst wie ein Jude, betet wie ein Jude, lehrt wie ein Jude, unterweist andere Juden in der Halacha, der jüdischen Praxis.
Diesen wichtigen Vortrag der amerikanischen Professorin für neutestamentliche und jüdische Studien erhältst du heute als „Bonus-Material“, wenn du Mitglied von ahavta+ bist oder wirst.
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