Oppenheimers Überblick || Der Preis der Heimkehr
Die Geiseln kehren heim, der Kampf ruht. Doch das Abkommen ist brüchig, und die Frage bleibt: Was geschieht, wenn die Hamas wieder erstarkt?
Schalom allerseits!
Was vor zwei Wochen noch als Utopie galt, scheint sich nun zur Realität zu formen: Nach zwei Jahren, die eine ganze Nation an die Grenzen ihrer Belastbarkeit führten, zeichnet sich eine entscheidende Wende ab. Im Zentrum steht ein Abkommen, das die Rückkehr der Geiseln und das Ende der Kampfhandlungen im Gazastreifen besiegeln soll.
Diplomatischer Balanceakt
Es ist das Ergebnis zäher Verhandlungen, orchestriert von einem amerikanischen Team unter der Leitung von Jared Kushner und Steve Witkoff. Ihr diplomatisches Geschick bestand darin, beiden Konfliktparteien einen narrativen Sieg zu ermöglichen, obwohl keine Seite ihre Maximalziele erreichte.
Die israelische Regierung unter Benjamin Netanjahu kann die Freilassung sämtlicher lebender Geiseln sowie die Übergabe der Leichname als Erfolg verbuchen – ohne einem vollständigen Rückzug aus dem Gazastreifen zugestimmt zu haben. Die israelische Armee (IDF) behält die Kontrolle über rund 53 Prozent des Territoriums, inklusive eines breiten Sicherheitskorridors, der das Eindringen von Terroristen an die Grenze unterbinden soll.
Die Hamas hingegen sichert sich eine Einstellung der Kampfhandlungen und, so scheint es, internationale Garantien, die künftige israelische Militäroperationen erschweren – zumindest für die Dauer der Verhandlungen über die weiteren Phasen des „Trump-Plans“. Mit dem Zufluss internationaler Hilfsgelder kann die Hamas ihre zivile und administrative Kontrolle über den Gazastreifen wiederherstellen. Sie hat eine erhebliche internationale Aufwertung erfahren, während Israel zunehmend isoliert scheint – eine Folge der globalen Welle des Antisemitismus und anti-israelischer Ressentiments, aber auch einer problematischen Politik.
Die ungelöste Zukunftsfrage
Doch der diplomatische Erfolg ist brüchig. Die entscheidende Frage bleibt unbeantwortet: Wie wird Israel reagieren, wenn die Hamas, wie zu erwarten, ihre militärischen Kapazitäten wieder aufbaut?
Die Antwort darauf kann nicht allein von Israel kommen; der fragile Erfolg verlangt nach konkreten Folgeschritten. Eine entscheidende Rolle kommt dabei den arabischen Nachbarstaaten sowie der Palästinensischen Autonomiebehörde zu. Sie müssen dem Prozess durch massive wirtschaftliche Hilfe und die Entsendung von Aufsichtskräften Stabilität verleihen. Ihre vorrangige Aufgabe ist klar definiert: die Reorganisation terroristischer Strukturen und den Wiederaufbau militärischer Fähigkeiten der Hamas zu unterbinden. Ein Unterfangen, das den ureigenen Interessen der Hamas diametral entgegensteht, deren Kalkül auf eine baldige Wiedererstarkung zielt.
Ein nationaler Pakt
Um die tiefere Bedeutung dieses Abkommens für Israel zu verstehen, muss man einen Blick auf das kollektive Ethos der Nation werfen. Der Grundsatz, keinen Soldaten auf dem Schlachtfeld zurückzulassen – „Ein Soldat kehrt heim, lebend oder tot“ – ist mehr als ein militärisches Gebot; er ist ein fundamentaler Gesellschaftsvertrag.
Dieser ungeschriebene Pakt, dass der Staat alles in seiner Macht Stehende tut, um jeden Einzelnen heimzuholen, ist die psychologische Grundlage, auf der die Wehrbereitschaft des Landes ruht. Die Gewissheit, im Ernstfall nicht vergessen zu werden, ist es, die es Familien ermöglicht, ihre Kinder in den Kampf zu entsenden. Die vergangenen zwei Jahre, in denen dieses Versprechen uneingelöst blieb, haben daher eine tiefe Wunde in das nationale Selbstverständnis gerissen. Das Gefühl der Nichterfüllung dieser heiligsten Pflicht war kaum zu ertragen.
Die nun bevorstehende Heimkehr der Geiseln ist somit mehr als ein politischer Sieg; sie ist die Wiederherstellung eines nationalen Versprechens. Der unermessliche Schmerz weicht einer vorläufigen Erleichterung. Dennoch schreibt sich die Erleichterung nur zögerlich ins Herz. Für die Familien der Betroffenen markiert dieser Moment nicht das Ende ihres Leidensweges, sondern lediglich dessen Wandel: von der existenziellen Angst um das Leben zur Sorge um die seelische und physische Rehabilitation der Zurückgekehrten.
Israel hat einen hohen Preis gezahlt, um sein Wort zu halten. Der Frieden, der nun anbricht, ist ein brüchiger. Und die Heilung hat gerade erst begonnen. Sie wird nicht einfach sein.
Ich wünsche allen, die Sukkot feiern, Chag Sameach. Und allen Lesern, wo auch immer sie sind, Tage des Friedens.
Joram