Oppenheimers Überblick || Geiseln in Gaza: Verzweifeltes Hoffen der Familien
Seit dem Hamas-Angriff vom 7. Oktober 2023 ringen Familien um die Rettung der noch 49 Verschleppten, doch Regierungsstrategien drohen die Überlebenden weiter zu gefährden.
Schalom allerseits!
Eines der heikelsten Themen in Israel ist derzeit die Problematik unserer Gefangenen in Gaza.
Dabei handelt es sich streng genommen nicht um „Gefangene“, sondern um etwa 50 Personen, die mit brutaler Gewalt aus ihren Betten und Schlafzimmern verschleppt wurden – eine wahre Horrorgeschichte.
Alles begann am Morgen des 7. Oktober 2023, dem jüdischen Feiertag Simchat Tora 5784. Bei einem Überraschungsangriff drangen Tausende Terroristen aus dem Gazastreifen nach Israel ein und überfielen zahlreiche Ortschaften im westlichen Negev sowie das Musikfestival „Nova“. Hamas, weitere Terrorganisationen und Einzelpersonen verschleppten 251 Bürger und Soldaten – sowohl Lebende wie Tote und sowohl Israelis als auch ausländische Staatsangehörige – in den Gazastreifen.
Die Mehrheit der Entführten waren Zivilisten, darunter Frauen, Kinder und ältere Menschen sowie einige Dutzend ausländische Arbeitskräfte. Nur eine Minderheit waren israelische Soldaten, die von nahegelegenen Militärstützpunkten entführt wurden. Während des Angriffs begingen die Terroristen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, darunter Misshandlungen, Vergewaltigungen und Massaker in einem bislang beispiellosen Ausmaß.
Infolge dieser Ereignisse erklärte Israel der Terrororganisation Hamas den Krieg.
Stand Juli 2025 befinden sich noch 49 Geiseln in Gefangenschaft, von denen 27 offiziell für tot erklärt wurden.
Über den Zustand der verbleibenden 22 Geiseln, – darunter drei Soldaten: Matan Angerst, Nimrod Cohen und Tamir Nimrodi – gibt es keine gesicherten öffentlichen Informationen. Im Gazastreifen befinden sich keine lebenden weiblichen Geiseln mehr. Allerdings wurde die Leiche einer Frau, Inbar Hayman, zurückgelassen.
Vier der verbliebenen Geiseln sind keine israelischen Staatsbürger: zwei Thailänder (beide offiziell für tot erklärt), ein Nepaleser und ein Tansanier (ebenfalls als gefallen gemeldet).
Seit 672 Tagen befinden sich diese etwa 22 Geiseln in den Händen der Hamas.
Soweit wir wissen – und wie wir in veröffentlichten Videos sehen konnten – leben sie unter unmenschlichen Bedingungen. Sie werden in Tunneln ohne Tageslicht festgehalten, sind voneinander isoliert und leiden unter Hunger und Durst. In den letzten Videos, die vor wenigen Tagen veröffentlicht wurden, waren zwei Geiseln im Zustand schwerster Unterernährung zu sehen – sie waren wortwörtlich am Verhungern.
Täglich berichten die Medien über die Gefangenen, sei es durch neue Videos, Meldungen oder Interviews mit Angehörigen oder Verhandlungsexperten.
Bereits kurz nach der Entführung im Oktober 2023 wurde deutlich, dass die Familien der Geiseln ein gemeinsames Ziel verfolgten:
Die Freilassung ihrer Söhne, Töchter, Mütter und Väter aus der Gewalt der Hamas.
Im Gegensatz dazu verfolgte die israelische Regierung politische Interessen, die nicht mit denen der Familien übereinstimmten.
Zur Bearbeitung dieser Angelegenheit wurde das Hauptquartier der Geiselfamilien gegründet – eine unparteiische, unpolitische Organisation mit dem einzigen Ziel, die Freilassung der Geiseln zu erreichen. Diese Organisation tat alles in ihrer Macht Stehende, um die Befreiung voranzutreiben: Sie organisierte Kundgebungen und Demonstrationen und nahm an Knesset-Sitzungen zum Thema teil. Doch die Regierung blieb untätig.
Sie verschloss sich dem Aufschrei der Familien und verfolgte ausschließlich militärische Ziele; Ziele, die der Befreiung der Geiseln nicht dienten.
Es gab zahlreiche Verhandlungsrunden mit Vertretern der Hamas.
Israel entsandte verschiedene Verhandlungsteams – jedoch ohne Erfolg. Im Grunde genommen fordern beide Seiten relativ einfache Dinge:
Israel verlangt die Freilassung der Geiseln und die Entwaffnung der Hamas.
Die Hamas verlangt einen Waffenstillstand und eine Zusicherung, dass Israel die Kampfhandlungen nicht wieder aufnimmt.
In diese Gleichung sind jedoch weitere Faktoren eingeflossen, insbesondere die Entscheidung des israelischen Sicherheitskabinetts zur Eroberung von Gaza. Die Minister billigten Netanjahus Vorschlag trotz scharfer Auseinandersetzungen mit dem Generalstabschef, der weiterhin davor warnte, dass die Operation zur Erschöpfung der Truppen führen und das Leben der Geiseln gefährden könnte. Die Operation soll mit der Eroberung der Stadt Gaza beginnen. Für die Zivilbevölkerung ist eine Evakuierungsfrist bis zum 7. Oktober vorgesehen.
Obwohl alle Spitzen des israelischen Sicherheitsapparats Vorbehalte gegenüber dem Vorschlag des Premierministers äußerten, stimmten die Minister automatisch dafür.
An der Seite des Generalstabschefs Eyal Zamir stand der Leiter des Nationalen Sicherheitsrats, Tzachi Hanegbi. Auch der Mossad-Chef Dadi Barnea, der amtierende Chef des Schin Bet und der Leiter der Geiselabteilung der IDF, Generalmajor a. D. Nitzan Alon, waren nicht grundsätzlich gegen eine Operation. Sie betonten jedoch, dass es ihrer Einschätzung nach geeignetere Maßnahmen gäbe.
Damit stellte sich Netanjahu faktisch gegen alle Spitzen des Sicherheitsapparats und damit gegen ein Vorgehen, das das Leben der Geiseln und auch der Soldaten gefährden könnte.
Sollte die Entscheidung umgesetzt werden, würde sie höchstwahrscheinlich das Leben jener Geiseln, die nach so vielen Tagen in Gefangenschaft noch überlebt haben, erheblich gefährden. In der vergangenen Woche wurde ein Video von zwei Geiseln veröffentlicht – ihr Zustand war furchtbar, sie schienen dem Tod nahe.
Dabei muss eines klar betont werden:
In Israel wachsen wir mit dem Leitsatz auf: „Wir lassen keine Gefangenen zurück.“ Jeder Israeli kennt diesen Satz von klein auf. Wer in den Krieg zieht, weiß, dass er für den Staat fallen könnte, aber nicht in den Händen des Feindes zurückgelassen würde.
Das vielleicht bekannteste Beispiel ist der Fall Ron Arads. Er war Navigator der Luftwaffe, dessen Flugzeug über dem Libanon abstürzte und der vermutlich in den Iran verschleppt wurde. Der Staat Israel unternahm über 25 Jahre hinweg enorme Anstrengungen, um ihn heimzuholen. In diesem Fall scheiterte man, doch das Thema ist bis heute ein nationales Trauma, das sich tief ins kollektive Gedächtnis jedes Israeli eingebrannt hat.
In diesem Zusammenhang stelle ich mir die Frage: Wie wird es in Zukunft möglich sein, junge Leute in den Krieg zu schicken, wenn sie wissen, dass das Volk vielleicht hinter ihnen steht, die Regierung jedoch andere Interessen verfolgt und ohne Rücksicht auf alle Spitzen des israelischen Sicherheitsapparats entscheidet?
Doch heute geht es nicht um einen einzelnen Soldaten, sondern um fast 50 Menschen, von denen mindestens 20 vermutlich noch am Leben sind.
Und dennoch ignoriert die Regierung das Leid der Familien und jagt weiter einem imaginären Sieg über die Hamas nach – einem Sieg, der niemals erreicht werden wird.
Ich wünsche allen Lesern alles Gute und bete für die Befreiung der Gefangenen
Joram