Paul Friesen || Die Inflation des Bösen
Semantizid: der Mord an der Bedeutung. Wenn Worte wie Völkermord zu Waffen werden, stirbt die Wahrheit. Ein Essay über die gezielte Zerstörung von Sprache und die Folgen für uns alle.
„Worte können wie winzige Arsendosen sein: sie werden unbemerkt verschluckt; sie scheinen keine Wirkung zu tun – und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da.“
(Victor Klemperer, LTI)
Einführung
Unmittelbar nach dem Ende des Nationalsozialismus schrieb Victor Klemperer LTI – Notizbuch eines Philologen. LTI steht für Lingua Tertii Imperii, „Sprache des Dritten Reiches“. Klemperer zeigte, dass die Barbarei des Regimes, unter der er als Romanist und Literaturprofessor jüdischer Abstammung persönlich litt, untrennbar mit dem Missbrauch und der Zerstörung der Sprache verbunden war.
Jetzt drohen wir in ein neues Zeitalter der Sprachzerstörung zu gehen. Für mich ebenso auffällig wie merkwürdig ist, dass dieses erneut mit der Diffamierung von Juden – und heute auch Israel – verbunden ist.
„Worte wie Völkermord, Apartheid, Besatzung verlieren durch ständigen Missbrauch jede Proportion, bis sie alles und damit nichts beschreiben.“
(Paul Friesen)
Paul Friesen nennt es das „Zeitalter der leeren Worthülsen“ und hat dafür den Begriff Semantizid gefunden, die gezielte Zerstörung der ursprünglichen Bedeutung von Wörtern. Klemperer hatte nachgewiesen, wie die Nationalsozialisten die Bedeutung von Wörtern systematisch aushöhlten, umdeuteten oder ins Gegenteil verkehrten, um die öffentliche Meinung und das Denken der Menschen zu manipulieren. Friesen mahnt uns heute wachsam zu sein, der Manipulation zu widerstehen, die Dinge bei ihrem richtigen Namen zu nennen und die Sprache zurückzuerobern.
Ich bin dem Autor dankbar, dass er einwilligte, seinen in englischer Sprache verfassten Essay in deutscher Übersetzung bei ahavta - Begegnungen erscheinen zu lassen. Denn, wann immer es bei ahavta um Begegnung geht, steht die Sprache und das Wort im Mittelpunkt: „Im Anfang war das Wort“ (Johannes 1,1). Wenn die Worte zerstört sind, ist alles zerstört…
Paul Friesen schreibt ebenfalls auf Substack. Seine Publikation Minority of One empfehle ich zu abonnieren.
Ricklef Münnich
Die Inflation des Bösen
Semantizid im Zeitalter der leeren Worthülsen
PROLOG: MITTEN IM SATZ UNTERBROCHEN
Ich arbeitete gerade an einer kleinen Studie über den sprachlichen Verfall – einem Artikel darüber, wie der Faschismusbegriff bis zur Bedeutungslosigkeit ausgepeitscht worden war –, als ein Video aus Genf mich zwang, alles umzuschreiben.
Natasha Hausdorff war beim UN-Menschenrechtsrat und tat, was Anwälte dort selten versuchen: Sie sprach Klartext. Sie war kaum an dem Punkt angelangt, an dem sie den Rat beschuldigte, als Waschsalon für Diktaturen zu dienen, als ihr Mikrofon abgeschaltet wurde. Die Vorsitzende ermahnte sie in einem Ton, der normalerweise Zollbeamten und niederen Klerikern vorbehalten ist, ihre Sprache müsse der „Würde der Sitzung angemessen“ sein.
Die fragliche Würde, so muss man annehmen, gehörte Saudi-Arabien, dem Iran, Venezuela und den anderen Stammgästen, die in diesen Saal kommen, um Israel des Hungers, der ethnischen Säuberung oder des Völkermords zu beschuldigen, während sie die meisten dieser Verbrechen zu Hause selbst begehen.
Es war das perfekte Beispiel für eine Gewohnheit, über die ich geschrieben hatte – den Semantizid: die Tötung von Bedeutung durch Überbeanspruchung, Umkehrung oder Absicht. Ich hatte ihn am Wort Faschismus nachgezeichnet; Natasha war live vor der Kamera darüber gestolpert.
Was in diesem Saal geschah, war keine einfache Heuchelei. Heuchelei zollt der Wahrheit wenigstens noch Respekt. Dies war Projektion, die zum Ritual erhoben wurde. Mörder, die sich als Opfer bezeichnen; Despoten, die sich zu Humanisten erklären. Die Worte Völkermord, Apartheid, Kolonialismus wurden wie Konfetti umhergeworfen, nicht um die Realität zu beschreiben, sondern um sie zu begraben.
Als Natasha diesen Prozess beschrieb, zogen die Hüter der „Würde“ den Stecker. Eine kleine, aber passende Geste: Semantizid überlebt nicht an der frischen Luft.
Also wandert der alte Aufsatz über den Faschismus in die Schublade. Das Thema ist jetzt größer und düsterer – der Gebrauch von Sprache als Waffe und die Art und Weise, wie Institutionen, die zum Schutz der Wahrheit geschaffen wurden, gelernt haben, sie mit ihrem eigenen Vokabular zu erwürgen.
Diese Stille am Ende des Clips war nicht leer. Es war das Geräusch, wie Bedeutung ausgeschaltet wird.
KAPITEL I: DIE ANATOMIE DES SEMANTIZIDS
Semantizid ist kein Lügen. Lügen setzt immer noch voraus, dass Worte etwas bedeuten, selbst wenn man sie verdreht. Semantizid beginnt einen Schritt früher: Er ermordet zuerst die Bedeutung. Sobald das Wort tot ist, kann man die Leiche anziehen, wie man will.
Normalerweise beginnt es mit Ermüdung. Ein Begriff wird überstrapaziert, in jedes Argument gepresst, bis seine Konturen verschwimmen. Der Faschismus war das erste Opfer. Jeder, von Umweltschützern bis zu Steuerreformern, hatte seinen persönlichen Faschisten, den er anprangern konnte. Bald bezog sich das Wort nicht mehr auf Mussolini oder den Totalitarismus, sondern auf alles, was auch nur leicht herrisch oder unangenehm war. Sobald es an Präzision verlor, verlor es an Kraft.
Die zweite Stufe ist die Umkehrung. Nach der Ermüdung kommt die Aneignung. Ein Wort, das einst das Böse beschrieb, wird als moralische Währung wiederverwertet. „Widerstand“, „Befreiung“, „Gerechtigkeit“ – allesamt edle Begriffe, bis sie dazu benutzt werden, das Gegenteil zu entschuldigen. Eine Bewegung, die die Ausrottung der Juden fordert, kann sich nun als „pro-Gerechtigkeit“ bezeichnen, und niemand im Raum lacht.
Dann kommt die Institutionalisierung. Bürokratien, NGOs und Gerichte übernehmen das korrumpierte Vokabular, weil es bequem ist. Ihre Berichte wiederholen den neuen Sprachgebrauch, Journalisten zitieren die Berichte, und die Rückkopplungsschleife schließt sich. Eine falsche Bedeutung wird, einmal durch ein paar Logos und Briefköpfe ratifiziert, unantastbar.
Was den Semantizid so wirksam macht, ist, dass er respektabel aussieht. Es werden keine Bücher verbrannt, keine Gesetze verbieten die Rede. Das Wörterbuch erodiert einfach leise unter den Füßen. Argumente klingen immer noch moralisch, aber ihre Sprache wurde ausgehöhlt.
An diesem Punkt wird eine Diskussion unmöglich. Worte, die einst moralisches Gewicht trugen – Völkermord, Besatzung, Rechte – werden zu Lärm. Wenn jede Handlung „völkermörderisch“ und jede Meinungsverschiedenheit „Hass“ ist, bedeutet nichts mehr etwas, und die schlimmsten Verbrechen werden zur rhetorischen Dekoration.
Das ist seine Anatomie: ein Wort abnutzen, es von innen nach außen kehren und Institutionen der Leiche ein Echtheitszertifikat ausstellen lassen. Von da an kann man jeden für alles anklagen, und die Anklage selbst wird zu ihrem eigenen Beweis.
KAPITEL II: PROJEKTION ALS STRATEGIE – DIE ANKLÄGER AUF DER ANKLAGEBANK
Die Sitzung in Genf glich weniger einem Rat der Nationen als einem Spiegelkabinett. Jeder Redner verurteilte Israel für Verbrechen, die er zu Hause praktiziert. Die Anklageschrift las sich wie eine als Anklage vorgetragene Autobiografie.
Saudi-Arabien sprach von Hunger und Zwangsumsiedlung, während sein Krieg im Jemen immer noch Zehntausende von Kindern verhungern ließ. Der Delegierte trug die Zeile vor, ohne mit der Wimper zu zucken, als ob der Hunger, den seine Luftwaffe verursacht hatte, ihn irgendwie dazu qualifizierte, andere über humanitäre Pflichten zu belehren. Venezuela, das mehr als sieben Millionen Menschen ins Exil getrieben hat, warnte vor kolonialer Aggression. Die Ironie, dass eine Regierung, die von kubanischen Sicherheitsberatern am Leben erhalten wird, irgendjemanden des Kolonialismus beschuldigt, war zu dicht, als dass die Ironie selbst sie hätte durchdringen können.
Bangladesch, ein Staat, der Redakteure inhaftiert und die Rohingya brutal behandelt hat, tadelte Israel für „flagrante Menschenrechtsverletzungen“. Der Iran, Sponsor von Hamas und Hisbollah – die sich beide in ihren Chartas der Ausrottung der Juden verschrieben haben – erklärte Israel für völkermörderisch. In jedem vernünftigen Forum würde das die Diskussion beenden. Bei der UNO beginnt sie damit.
Und dann kam der Chor der „unabhängigen Kommissionen“ und selbsternannten Hüter der Menschenrechte, die dieselben Anschuldigungen mit akademischer Feierlichkeit wiederholten. Sie zitieren Berichte, die andere Berichte zitieren, die alle auf dieselbe Quelle zurückgehen: die Propaganda-Büros der Hamas. Wenn diese zirkulären Zitate die Mikrofone in Genf erreichen, haben sie den Duft der Legitimität angenommen.
Das ist Projektion als Diplomatie. Die Schuldigen kehren den Spiegel um, und die Institution kommt ihnen entgegen. Anklage ersetzt das Geständnis; Wiederholung ersetzt den Beweis. Worte wie Völkermord, Apartheid, Besatzung verlieren durch ständigen Missbrauch jede Proportion, bis sie alles und damit nichts beschreiben. Die Methode funktioniert, weil das Publikum moralisches Vokabular mit moralischen Fakten verwechselt.
Was als Rhetorik beginnt, wird zum Protokoll. Das Sitzungsprotokoll des Rates gelangt in die Archive, Journalisten zitieren es, Studenten versehen es mit Fußnoten, und die Lüge verhärtet sich zum „Konsens“. So verdient der Semantizid seinen Lebensunterhalt: nicht durch das Verbrennen von Büchern, sondern durch das Drucken von ihnen.
In diesem Raum wurde nicht nur Israel verleumdet; die Sprache selbst wurde zerstückelt. Und wie immer nannten die Schlächter es Gerechtigkeit.
KAPITEL III: VÖLKERMORD – DAS ULTIMATIVE SEMANTISCHE OPFER
Wenn der Faschismus an Überbeanspruchung starb, stirbt der Völkermord durch Diebstahl. Das Verbrechen, das er einst benannte, war so gewaltig, dass die Sprache bei dem Versuch, ihn zu fassen, beinahe zerbrach. Anwälte und Überlebende verbrachten Jahre damit, seine Bedeutung ins Gesetz zu meißeln: die absichtliche Zerstörung eines Volkes. Er sollte der Inflation widerstehen, in der Realität verankert bleiben.
Jetzt treibt das Wort durch die diplomatische Luft wie ein losgelassener Ballon. In Genf bezieht es sich nicht mehr auf Gaskammern oder mit Macheten gefüllte Kirchen; es bezieht sich auf Unannehmlichkeiten, auf Krieg, auf jede beliebige Anschuldigung, die einem politischen Zweck dient. Der Begriff, der einst das Schlimmste der Menschheit benannte, ist zu einer Requisite im kleinen Theater der Empörung geworden.
Die Ironie ist unverblümt. Der einzige jüdische Staat der Welt, entstanden aus der Asche des Völkermords, wird beschuldigt, ihn selbst zu begehen. Die Anschuldigung ist nicht nur falsch; sie nährt sich von der Erinnerung an die wahren Opfer, um sich selbst Gewicht zu verleihen. Wenn die Nachkommen der Ermordeten als Mörder gebrandmarkt werden, biegt sich die Sprache nicht – sie bricht.
Dieser Zusammenbruch ist mehr als nur rhetorisch. Völkermord ist eines der schwersten Verbrechen, das im modernen Völkerrecht anerkannt ist, und das aus gutem Grund eng definiert wurde. Verwässert man diese Definition, gerät die Hierarchie, die Gräueltaten nach Ausmaß und Absicht unterscheidet, ins Wanken. Ein Konzept, das dazu gedacht war, das absolut Böse zu isolieren, wird gedehnt, um jeden Konflikt abzudecken. Wenn alles Völkermord ist, ist nichts mehr Völkermord. Und wenn nichts mehr Völkermord ist, wird der nächste echte unbemerkt bleiben, weil uns die Worte für das Entsetzen ausgegangen sein werden.
Falsche Anschuldigungen zersetzen auch die Erinnerung. Sie machen das Gedenken zur Parodie, das Mitgefühl zur Pose. Ein Begriff, der einst die Stille von Massengräbern in sich trug, hallt nun von Slogans wider. Das Ergebnis ist nicht Gerechtigkeit, sondern Lärm – moralische Inflation in ihrer zerstörerischsten Form.
Diejenigen, die das Wort auf diese Weise führen, sind nicht naiv. Sie verlassen sich auf den Schuldreflex von Demokratien und auf Institutionen, die das Drama der Anprangerung der mühsamen Überprüfung vorziehen. Ruft man laut genug Völkermord, kann man die Beweise, die einem widersprechen, übertönen.
In Genf wurde die Routine perfekt eingeübt. Regime, die Milizen mit ausrottungsideologischen Glaubensbekenntnissen finanzieren, beschuldigten Israel ihrer eigenen Ambitionen. Die Behauptung wurde in Presse-Briefings kopiert, von Ausschüssen wiederholt und wird mit der Zeit ihren Weg in die Lehrbücher finden. So verhärtet sich die Lüge zum Protokoll – nicht durch Gewalt, sondern durch Papierkram.
Das Töten von Menschen beginnt mit dem Töten von Bedeutung. Der Begriff Völkermord sollte beides aufhalten. In den falschen Händen bereitet er nun den Boden für beides.
KAPITEL IV: DIE SEMANTISCHE WASCHMASCHINE
Jedes Propagandasystem braucht eine Waschmaschine und einen Trockner. Lügen allein sind plump; sie hinterlassen Flecken. Um Bestand zu haben, müssen sie gewaschen werden – durch Institutionen geschleust werden, die die Fingerabdrücke bleichen und sie als respektable Meinung zurückgeben können.
Bei der UNO ist dieses Waschen zur Routine geworden. Der Prozess beginnt normalerweise mit einer Behauptung, die von einer Gruppe aufgestellt wird, die unter dem schmeichelhaften Etikett einer „Menschenrechtsorganisation“ agiert. Die Behauptung wird schnell in die Sprache der Forschung gekleidet – Feldberichte, Datensätze, Zeugenaussagen, Karten –, obwohl das meiste davon von einseitigen Quellen oder lokalen Stellvertretern stammt. Einmal veröffentlicht, wird der Bericht zum Rohmaterial für eine UN-Kommission oder einen Berichterstatter, die ihn als „Beweis“ zitieren. Wenn die Ergebnisse der Kommission erscheinen, zitieren dieselben NGOs sie wiederum als Bestätigung. Am Ende dieses sauberen Kreislaufs hat die Propaganda einen akademischen Akzent und ein UN-Wasserzeichen erhalten.
Journalisten greifen den Bericht auf, Schlagzeilen folgen, und die Fiktion ist nun ein von der „UNO unterstützter“ Befund. Niemand erinnert sich, wo es anfing, nur dass es den Duft von Autorität trägt. Die Wäsche ist abgeschlossen.
Diese Technik hängt nicht von einer Verschwörung ab, nur von Wiederholung und Bequemlichkeit. Bürokratien bevorzugen vorgeschriebene Schlussfolgerungen; Medien bevorzugen vorgefertigte Empörung. Das Ergebnis ist ein sich selbst erhaltendes Ökosystem der moralischen Zitation, in dem jeder Akteur den nächsten bestätigt, ohne jemals die Realität zu berühren. Es ist die bürokratische Version eines Perpetuum mobile – angetrieben nicht von der Wahrheit, sondern von Papierkram.
Der UN-Menschenrechtsrat sitzt im Zentrum dieses Netzwerks und wiederverwertet Anschuldigungen von Gruppen wie Human Rights Watch und Amnesty International, deren Bilanz zu Israel eine kleine Bibliothek der selektiven Empörung füllen könnte. Diese Organisationen haben die Disziplin der Faktenprüfung längst gegen den Glanz der Anklage eingetauscht. Ihre Erklärungen sind keine Beweise, sondern Beschwörungsformeln – moralische Zaubersprüche, die wiederholt werden, bis sie wie ein Gesetz klingen.
Die Gefahr besteht nicht nur darin, dass sich Unwahrheiten verbreiten, sondern dass sie Referenzen erlangen. Ein gefälschter Bericht, versehen mit einem blauen Logo, wird in der Praxis von der Gerechtigkeit nicht mehr zu unterscheiden sein. Sobald das geschieht, sind selbst ehrliche Ermittler in einem kontaminierten Archiv gefangen. Das Protokoll in Frage zu stellen, bedeutet, Gefahr zu laufen, beschuldigt zu werden, es zu leugnen.
Der Semantizid gedeiht in diesem Umfeld, weil er Anzug trägt und einen Ausweis hat. Seine Agenten sprechen in Akronymen und Klauseln, nicht in Slogans. Das Vokabular der Rechte und des humanitären Rechts wird zu seiner Tarnung und verbirgt einen Prozess, der beides langsam seines Inhalts entleert.
Als Natasha Hausdorff in Genf sprach, hatte diese Maschine ihre Arbeit bereits getan. Jede Anschuldigung, die sie widerlegte, war bereits als Tatsache gedruckt, zitiert und archiviert worden. Ihre kurze Unterbrechung des Zyklus reichte aus, um den Trick zu entlarven – genau deshalb musste das Mikrofon abgeschaltet werden.
KAPITEL V: DER SCHWEIGEREFLEX
Zensur tritt heute selten in Uniform auf. Sie kommt im Gewand des Verfahrens und spricht die Sprache der Höflichkeit.
Im Menschenrechtsrat verbot die Präsidentin Natasha Hausdorff nicht das Wort. Sie entschied einfach, dass es ihren Worten an „Würde“ fehle. Das Vokabular der Höflichkeit tat, was einst Verbote taten. Wenn ein Argument nicht widerlegt werden kann, wird es für unangebracht erklärt.
Diese Methode verbreitet sich leise in internationalen Institutionen. Widerspruch wird toleriert, bis er eine zu direkte Linie zwischen Fakten und Heuchelei zieht. Dann wird er wegen des „Tons“ abgeschwächt, umgelenkt oder abgebrochen. Die Anstandsregeln werden zu einem Filter, durch den sich die Wahrheit zwängen muss und dabei oft ihre Form verliert.
Es ist eine wirksame Strategie, weil sie allen Beteiligten schmeichelt. Niemand fühlt sich als Zensor; jeder fühlt sich als Profi. Höflichkeit wird zum moralischen Alibi. Das Ergebnis ist kein absolutes Schweigen – es ist eine Verengung dessen, was ohne Konsequenzen gesagt werden kann.
Das Muster ist nicht nur in Genf zu finden. In ähnlichen Foren gilt derselbe Instinkt: Konflikte sprachlich zu managen, institutionelle Blamagen zu vermeiden und den Anschein von Konsens zu wahren. In dieser Atmosphäre werden Äußerungen, die das Drehbuch in Frage stellen, als Störung der Ordnung und nicht als Beitrag zur Debatte behandelt.
Der Semantizid ist auf genau diese Art von Mäßigung angewiesen. Sobald die Bedeutung von Worten ausgehöhlt ist, besteht der nächste Schritt darin, ihre Verwendung zu überwachen. Die Hüter der „Zivilität“ werden, ob absichtlich oder nicht, zu den Vollstreckern der Zweideutigkeit.
Die Techniken sind subtil. Ein Mikrofon wird ausgeblendet. Ein Redner ersetzt. Ein Absatz vor der Veröffentlichung geschwärzt. Keine Strafen, nur stille Bearbeitungen. Mit der Zeit verinnerlichen die Menschen die Grenzen. Sie lernen, was man nicht sagen sollte, wenn man weiterhin eingeladen werden möchte.
So funktioniert Unterdrückung heute in demokratischen Umgebungen: nicht durch Angst, sondern durch Ermüdung. Sie lehrt die Menschen, Geschmeidigkeit über Substanz zu stellen. Im Menschenrechtsrat erzeugte dieser Instinkt eine Stille, die mehr aussagte als jede Rede – eine Stille, in der die Anschuldigung nachhallen durfte, die Antwort aber nicht.
KAPITEL VI: DIE ZERSETZUNG DER GESCHICHTE
Geschichte stirbt normalerweise nicht durch Auslöschung. Sie zerfällt durch falsches Zitieren.
Sobald eine falsche Version von Ereignissen in Umlauf gerät, beginnt sie sich durch Zitation zu verhärten. Jede Wiederholung verleiht ihr eine Schicht Legitimität, bis die Fiktion die Textur eines Protokolls annimmt. Eine einzige Rede in Genf, wiederholt in Berichten, Schlagzeilen und akademischen Fußnoten, kann innerhalb eines Jahrzehnts zu einer akzeptierten „Tatsache“ werden. Der langsame Marsch von der Pressemitteilung zum Archiv erfordert keine Verschwörung – nur Gleichgültigkeit.
Dies ist die dauerhafteste Wirkung des Anklagetheaters der UNO. Das Vokabular der Gräueltaten – Völkermord, Apartheid, ethnische Säuberung – wird ohne Beweise in den Blutkreislauf der Geschichte injiziert, und die Zeit erledigt den Rest. Eine oft genug geäußerte Behauptung wird Teil des Hintergrundrauschens des öffentlichen Gedächtnisses, und Hintergrundrauschen klingt schließlich wie Geschichte.
Der Preis ist die Präzision. Echte Völkermorde – Ruanda, Bosnien, die Jesiden, die Uiguren – verlieren ihre Konturen, wenn dasselbe Wort beiläufig an jeden Konflikt geheftet wird. Die Unterscheidung verblasst; der moralische Maßstab flacht ab. Genau die Begriffe, die einst die Erinnerung bewahrten, beginnen sie zu zersetzen.
Israel liefert die Fallstudie, nicht die Ausnahme. Jahrelange Wiederholungen haben ein Archiv geschaffen, in dem die Behauptung mehr wiegt als die Dokumentation. Dieselben Statistiken, Fotografien und Adjektive kursieren, bis sie unumstößlich scheinen. Der Kontext, der ihnen Bedeutung geben würde – Terroranschläge, Raketen, Geiseln – gerät aus dem Blickfeld. Was bleibt, ist eine Collage von Anschuldigungen, die zukünftige Leser für Beweise halten werden.
Diese Zersetzung breitet sich leise aus. Wissenschaftler werden frühere Arbeiten zitieren, Journalisten werden Experten zitieren, die sich gegenseitig zitieren, und jede Schicht wird die vorherige zu bestätigen scheinen. Am Ende wird das Protokoll zu gefestigt erscheinen, um es wieder aufzurollen. Die Falschheit gewinnt die Stabilität von Sediment: verdichtet, hart und schwer zu entfernen.
So wird aus semantischem Verfall historische Amnesie – nicht durch Zensur oder Böswilligkeit, sondern durch Wiederholung ohne Überprüfung. Worte überleben; Bedeutung nicht. Das Archiv füllt sich, doch das Verständnis leert sich.
KAPITEL VII: DER PREIS FÜR DIE DEMOKRATIE
Die Demokratie ist ein Geschöpf der Sprache. Sie atmet durch Worte wie Debatte, Gesetz, Wahrheit und Beweis. Sobald diese Worte an Definition verlieren, gerät die Demokratie in Atemnot, ohne es zu merken.
Semantische Korruption kommt nicht mit Marschstiefeln; sie sickert durch Slogans ein. Wenn jeder Gegner ein „Faschist“, jeder Krieg ein „Völkermord“ und jede Politik „Unterdrückung“ ist, wird die Politik zu einer Maskerade der Superlative. Bürger streiten nicht mehr über Fakten, sondern tauschen moralische Zertifikate aus. Die Diskussion bricht in rituelle Anprangerung zusammen, und die Seite mit den lauteren Adjektiven gewinnt.
So verlieren freie Gesellschaften ihre Orientierung: nicht durch Gewalt, sondern durch Metaphern. Die Währung der Rede inflationiert, bis die Bedeutung wertlos ist, und jeder ist reich an Rhetorik, aber bankrott im Denken.
Das Beispiel der UNO ist nur die globale Version eines lokalen Problems. Dieselbe Infektion durchzieht den westlichen Diskurs, wo Tugend zu einem Ersatz für Überprüfung geworden ist. Sobald eine Behauptung als „moralisch“ bezeichnet wird, wird sie als selbstverständlich behandelt. Zweifel ist Ketzerei; Überprüfung ist Grausamkeit. Das Ergebnis ist eine Politik der Emotion, die als Ethik getarnt ist.
Die Demokratie kann Feindseligkeit überleben, aber keine Verwirrung. Sie hängt von Bürgern ab, die noch zwischen Anschuldigung und Beweis, Gefühl und Argument unterscheiden können. Wenn diese Linie verschwimmt, erben Populisten und Demagogen die Bühne. Sie gedeihen im sprachlichen Nebel, denn Klarheit ist ihr einziges natürliches Raubtier.
Die wahre Gefahr des Semantizids besteht also nicht darin, dass er das Protokoll einer einzelnen Nation verzerrt. Sondern dass er Ehrlichkeit überall unmöglich macht. Eine Gesellschaft, die die Dinge nicht genau benennen kann, kann sich nicht intelligent selbst regieren. Sie wird nach Gefühl Gesetze erlassen, nach Schlagzeilen urteilen und denjenigen wählen, der ihrem moralischen Vokabular am fließendsten schmeichelt.
Jedes Zeitalter schreibt seine Sprache um, aber unseres ist das erste, das dies mit einem Gefühl der Tugend tut. Wir gratulieren uns selbst zur Zerstörung der Präzision, als wäre es ein Akt des Mitgefühls. Das Verbrechen des Semantizids wird nicht allein von Tyrannen begangen, sondern von Bürgern, denen es leichter fällt, zu skandieren als zu denken.
Der Nachruf auf die Demokratie, wenn er denn kommt, wird nicht mit einem Putsch beginnen. Er wird mit stehenden Ovationen beginnen – für jemanden, der nichts Wahres, es aber wunderschön gesagt hat.
EPILOG: DAS VERBRECHEN BENENNEN
In dem Moment, als Natasha Hausdorffs Mikrofon verstummte, dankte ihr die Ratspräsidentin für ihren „Beitrag“ und ging zügig zum nächsten Redner über. Das Ritual wurde ungestört fortgesetzt. Die Lüge hatte einen weiteren Tag überlebt, in Protokoll gehüllt und mit dem Stempel der Legitimität versehen.
Aber etwas in diesem kurzen Austausch enthüllte mehr als die stundenlangen Reden davor. Es zeigte, dass Wahrheit, selbst wenn sie nur kurz ausgesprochen wird, immer noch wie ein Spannungsstoß durch die Bürokratie wirkt. Man konnte den Reflex sehen: eindämmen, glätten, zur Tagesordnung übergehen. Das ist, in Miniatur, die Geschichte des Semantizids – die leise Beseitigung von Bedeutung im Namen der Ordnung.
Das Wort verdient Anerkennung als mehr als nur eine Metapher. Es benennt einen Prozess, der alles zersetzt, was auf ehrlicher Sprache aufbaut: Geschichte, Recht, Demokratie und Erinnerung. Es zerstört die Sprache nicht; es besetzt sie. Und sobald die Besetzung abgeschlossen ist, wird jedes Argument zum Theater, jedes Protokoll zum Drehbuch.
Das Gegenmittel ist nicht Empörung, sondern Präzision. Um die Wahrheit zu verteidigen, muss man das Vokabular verteidigen: darauf zu bestehen, dass Völkermord Völkermord bedeutet, dass Recht Recht bedeutet und dass Menschenrechte nicht das sind, was die Mehrheit der Missbrauchstäter in Genf durchzuwinken beschließt.
Das Mikrofon wurde abgeschaltet, aber nicht bevor Hausdorff benannt hatte, was die meisten in diesem Raum bereits wussten und nur wenige zu sagen wagen: dass eine Institution, die gegründet wurde, um zu verhindern, dass Lügen zu Geschichte werden, zum Instrument geworden ist, mit dem genau das geschieht.
Der Rest von uns kann immer noch wählen, ob er sich dem Ritual anschließt oder es unterbricht. Der Unterschied beginnt damit, die Dinge bei ihrem richtigen Namen zu nennen – und sich zu weigern, diese Namen ein zweites Mal ermorden zu lassen.
POSTSKRIPTUM
Worte sterben leise, und sie geben selten den Todeszeitpunkt bekannt. Wenn wir es bemerken, liest sich der Bericht des Gerichtsmediziners wie die Nachrichten von gestern. Die Aufgabe besteht jetzt nicht darin, die Sprache zu betrauern, sondern sie zurückzuerobern – Wort für Wort, Bedeutung für Bedeutung –, bevor die nächste Generation die Fälschung mit dem Original verwechselt.
Wenn die Wahrheit noch eine Zukunft hat, wird sie mit der Grammatik beginnen.




