ahavta+ || Radikales Zuhören
Weniger Reden, mehr Zuhören. Zu ersterem mahnt ein Rabbiner, das zweite ist aus dem Talmud zu lernen.
Mehr und mehr werden die Gesellschaften des Westens als gespaltene, als zerrissene erlebt. Deutschland erfährt dies schon seit „Corona“. Auch in Israel wurde der Ton zwischen einzelnen gesellschaftlichen Gruppen immer schärfer – bis zum 7. Oktober 2023. Freilich ist nicht abzusehen, wie lange die neue Einheit, die der gemeinsame Kampf gegen den Terror der Hamas geschmiedet hat, und die Erfahrung des Zusammenhalts über unterschiedliche Meinungen hinweg bewahrt werden kann.
Micah Goodman sieht in einem wichtigen Beitrag, der in der Herbstausgabe der Online-Zeitschrift Sapir („eine vierteljährliche Zeitschrift mit Ideen für eine blühende jüdische Zukunft“) erschien, die digitale Technologie als wesentliche Ursache für die Spaltungen in unseren Gesellschaften:
Während uns digitale Technologie viel Macht gegeben hat, hat sie uns auch Fähigkeiten genommen. Eine davon ist die Fähigkeit zuzuhören und andere Meinungen empathisch zu verstehen. Paradoxerweise öffnet uns die Technologie die Augen für weit entfernte Menschen, aber verschließt unsere Ohren für andere Meinungen als unsere eigenen.
Vielleicht ist Goodmans Analyse an dieser Stelle nicht völlig neu. Wohl aber gilt das für seinen Vorschlag zur Heilung:
Unsere Hörmuskeln, die durch die digitale Technologie verkümmert sind, können wiederbelebt werden, indem wir uns vom alten Geist des Talmuds inspirieren lassen und ihn vielleicht sogar wiedererwecken.
Den anregenden Aufsatz mit seinem Aufruf zu einem radikalen Zuhören habe ich für Mitglieder von ahavta - Begegnungen ins Deutsche übertragen.
Die Beobachtung, dass Menschen ihre Ohren verschlossen haben, obwohl sie nicht taub sind, ließ bereits Jesus öfters ausrufen: Wer Ohren hat zu hören, der höre. Andere hingegen, die nicht zu hören vermochten, hat er mehrere Male geheilt.
Für das Neue Testament erfüllte sich die Ankündigung des Propheten Jesaja 6,9–10:
Das Herz des Volkes ist verstockt, ihre Ohren sind verstopft, und ihre Augen halten sie geschlossen. Sie wollen mit ihren Augen nichts sehen, mit ihren Ohren nichts hören und mit ihrem Herz nichts verstehen und wollen nicht umkehren, sodass ich sie heilen könnte.
Bei Jesus in Matthäus 13,16 sind es seine Schülerinnen und Schüler, für die gilt: Aber selig sind eure Augen, dass sie sehen, und eure Ohren, dass sie hören. Am Schluss der Apostelgeschichte (28,25–28) folgt aus den verstopften Ohren des Volkes für die Predigt des Apostels Paulus, dass das Heil, das Gott uns schenkt, jetzt auch den nichtjüdischen Völkern verkündet wird, und bei ihnen wird seine Botschaft offene Ohren finden.
Allerdings führte diese Entwicklung wiederum dazu, dass umgekehrt die Situation des jüdischen Volkes von da an in den christlichen Kirchen und Gemeinden so gut wie keinerlei Gehör mehr fand. Das war in allen Jahrhunderten so und ins Unerträgliche zugespitzt während der Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden in der Schoa. Doch die Ereignisse des Schwarzen Schabbat mit ihren Folgen und ihre (Nicht-)Aufnahme in der nichtjüdischen Welt zeigen, dass die Bereitschaft zum Zuhören und die offenen Ohren noch immer kaum zugenommen haben.
Am vergangenen Sonntag habe ich als Beispiel dafür die „Analyse zum Nahostkonflikt“ von Johanna Haberer herangezogen. Auch Rabbiner Walter Rothschild hat nun auf die Veröffentlichung der Professorin reagiert. Sein Text ist eine Mischung aus Zorn und Sarkasmus, Verzweiflung und Ironie. Ich veröffentliche ihn in dieser Ausgabe.
Alle Kirchen in Deutschland loben die Entwicklung des christlich-jüdischen Verhältnisses und äußern sich positiv über den christlich-jüdischen Dialog (wo fand er das letzte Mal statt?). Aber wie weit ist eine Erneuerung tatsächlich vorangekommen, wenn ein Rabbiner hofft, „dass die Zeit kommen wird, in der christliche Theologen jeder Couleur endlich aufhören, den Juden vorzuschreiben, was sie zu tun haben, … [und] dass sie lernen, den Mund zu halten, bis sie etwas Vernünftiges zu sagen haben“?
Wie bitter und verbittert eine jüdische Reaktion auf den Artikel von Johanna Haberer ausfallen muss und wie tief die Kluft ist, nachdem man zum 7. Oktober nicht zugehört hat, zeigen die Gedichtzeilen Walter Rothschilds, die er Responsum an Frau Prof. Haberer nennt und die die Bedeutung der Massaker der Hamas als unverstanden kennzeichnen:
Guten Tag. Ich bin Dein Schicksal. Ich duze Dir, Du kannst mich „Schick“ nennen, weil ich dein intimster Feind bin. Ich hasse Dich. Ich werde Dich zunächst vergewaltigen Und lebendig zerschneiden, Deine Töchter auch Und Deine Enkelinnen Vor Deinen Augen. Ich werde in Deinem aufgeschlitzten Körper Dein christliches Herz suchen Und herausnehmen Und Dich dann verbrennen. Danach können wir Über Frieden reden. Wie üblich.
Heute ist der 100. Tag der Entführung und Geiselnahme von noch immer 136 Kindern, Frauen und Männern aus Israel durch Einwohner von Gaza. Wenn du dich über aktuelle Entwicklungen informieren möchtest, komme in die WhatsApp-Gruppe „Israel at War – Daily Updates“, in der ich täglich Beiträge veröffentliche.
Dein Ricklef Münnich
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