Walter Rothschild || Keine Nachrichten sind gute Nachrichten
Keine Nachrichten, kein Gift: Der Rabbiner zieht den Stecker – über Hass, Medienlügen und die Selbstbefreiung vom Dauerrauschen. Ein Plädoyer für Schweigen als Widerstand.
Der Moment des Zusammenbruchs
Es spitzte sich zu. Wie es eben passiert. Man glaubt, sich genügend gestählt zu haben, sich eine dicke Haut zugelegt zu haben, über ausreichend Abwehrkräfte und seelische Antikörper zu verfügen – und dann bricht der nächste Schlag durch all das hindurch, und diesmal ist es zu viel. Er durchdringt jede Schutzschicht und treibt einen in den Wahnsinn. „Wahnsinn“ ist dabei keine Übertreibung: Man gerät aus dem Gleichgewicht, taumelt auf der Oberfläche einer schrecklichen Realität. Da sind Verzweiflung, Zorn, Frustration, Ekel, der Drang, irgendeine Gewalttat zu verüben, zugleich der Rückzug aus normalem menschlichem Umgang, Hoffnungslosigkeit – ein ganzes Spektrum von Emotionen auf einmal. Wie eine geistige Menopause, ein Nervenzusammenbruch, ein neurologisches Versagen – alles gleichzeitig.
Gehasst um der bloßen Existenz willen
Man fühlt sich gehasst. Einfach nur gehasst. Es geht nicht darum, dass Menschen anderer Meinung wären oder einen anderen Blickwinkel hätten. Nein – sie hassen. Nicht das, wofür man steht, nicht das, was man sagt oder tut, sondern nur die Tatsache, dass man ist. Existiert. Lebt. Dieser Hass steht zwischen den Zeilen, zwischen den Sätzen, er steckt in den Stimmen dahinter…
Das Bild, das das Maß voll machte
Jeder Mensch hat seinen eigenen „letzten Tropfen“, der das Fass zum Überlaufen bringt. Bei mir war es das Bild eines abgemagerten kleinen Kindes, das allergrößte mediale Aufmerksamkeit erhielt – als angeblich unanfechtbarer Beweis dafür, dass „die Juden“ arme Araber absichtlich verhungern ließen, als Akt brutaler und ungerechter Kriegsführung. Bald jedoch stellte sich heraus, dass das Kind in Wahrheit an einer genetischen Krankheit litt, höchstwahrscheinlich verursacht durch die in bestimmten arabischen Kulturen verbreitete Praxis, Cousinen und Cousins ersten Grades zu heiraten. Mehr noch: Israel hatte in diesem Fall versucht, der Familie zu helfen und eine Behandlung im Ausland zu vermitteln. Doch das alles interessierte nicht mehr. Die Lüge war längst um die Welt gelaufen, ehe die Wahrheit überhaupt die Stiefel anziehen konnte – und sie hatte ihre Wirkung getan, indem sie Emotionen aufpeitschte, Hass gegen Israelis im Speziellen und gegen Juden im Allgemeinen.
Antisemiten unterscheiden nicht
Antisemiten interessiert es nicht, welcher Art Jude man ist. Es genügt, ein Jude zu sein – oder gewesen zu sein oder jüdische Vorfahren gehabt zu haben. Ob Zionist oder Antizionist, Nationalist oder Friedensaktivist, links oder rechts, orthodox oder säkular, Israeli oder Deutscher, Humanist, Universalist, Fundamentalist – das alles spielt keine Rolle. Deshalb ist es so wichtig, die Lügen ihrer Behauptungen zu durchschauen, wenn sie etwa sagen, sie seien gegen Zionismus, aber nicht gegen das Judentum, oder gegen Israel, aber nicht gegen die Juden in der Diaspora. Sie können es rauf und runter beteuern, bis sie blau, weiß und rot im Gesicht anlaufen – es bleibt eine Lüge. Meistens haben sie ohnehin keine Ahnung, wovon sie sprechen. Man frage sie doch einfach: Wie definieren Sie Zionismus? Kaum jemand wird ihn beschreiben als die Bewegung eines vertriebenen, exilierten Volkes zur Wiedererlangung seiner Heimat. Stattdessen: „rassistisch, kolonialistisch, exklusivistisch…“ Fragen Sie einen Amerikaner – Staatsbürger eines Föderalstaates, errichtet auf der Eroberung indigener Ländereien seit dem 18. Jahrhundert –, was er unter Kolonialismus versteht. Fragen Sie einen Australier – Bürger eines Landes, gegründet auf der Deportation von Verurteilten und „Unerwünschten“ des Empire, angesiedelt auf Kosten der Aborigines. Fragen Sie einen Deutschen, Holländer oder Franzosen nach „friedlichem Zusammenleben“: er wird Ihnen erklären, das habe Europa seit zehn Jahrhunderten geprägt. Sie haben keine Ahnung. Fragen Sie sie, wenn sie „Freiheit für ein Volk vom Fluss bis zum Meer“ fordern, welchen Fluss und welches Meer sie meinen. Sie wissen es nicht.
Die Ohnmacht des jüdischen Beitrags
Über Jahrhunderte hinweg glaubten Juden, durch ihr Verhalten, ihre Haltung, ihren Beitrag zur Gesellschaft etwas verändern zu können. Heute wissen sie wieder: Es ändert nichts. Nicht bei denen, die Juden hassen, alle Juden, jede Art Juden. Juden hier, Juden dort.
Gefangenschaft durch das eigene Hinschauen
Mir wurde klar: Schon allein dadurch, dass ich dieses Foto angesehen hatte, war ich Teil des Prozesses geworden. Gewiss, mein passives Zusehen steigerte keine Zahl der Einschaltquote nennenswert, und doch – indem das Bild in meine Augen, in mein Gehirn gelangt war, hatte ich bereits teilgenommen an einem üblen Experiment, die Lüge so breit wie möglich zu streuen. Und ich wurde wütend – auf diejenigen, die sie verbreiteten, und auf mich selbst, weil ich sie in mein Bewusstsein hineingelassen hatte.
Ein Selbstversuch: Lautlosigkeit
Also machte ich den Versuch, das Radio einfach abzuschalten. Keine Nachrichten mehr auf dem lokalen Sender, der sonst im Hintergrund lief. Vor allem: keine endlosen Diskussionen ahnungsloser Kommentatoren. Und sofort ging es mir besser. Der Atem leichter. Der Schlaf ruhiger. Es war, als hätte ich die Infusion herausgezogen, die all die Jahre heimlich Gift in mein Inneres tropfen ließ. Mit einem Mal entspannte ich mich ein wenig, wartete nicht mehr ungeduldig auf jede volle Stunde mit neuen Schlagzeilen. Der Nachrichtensprecher wusste nicht, dass ich nicht mehr zuhören wollte – aber ich selbst wusste es. Und ich fühlte mich besser. Frei von ihren Jingles, frei von ihrem Cocktail aus Tod, Zerstörung, Showbusiness und Sport, serviert als geschmacklose Mischnahrung.
Das Gefühl von Freiheit
Ich fühlte mich befreit. Es war, wie im Urlaub die Uhr abzulegen. Plötzlich kann das Mittagessen länger dauern. Aufstehen, wann man will, schlafen, wann man will. Keine Schicht, zu der man pünktlich antreten muss, keine Stechuhr.
Es war wie Fasten: Kein Einkaufen, Kochen, Abwaschen – ein Tag Ausstieg aus dem ganzen Verdauungsapparat, nicht nur dem physischen, sondern auch dem medialen.
Es war wie das Beenden einer unbefriedigenden Beziehung oder der Abschied von einem lästigen, sinnlosen Job.
Es war die Rückgewinnung von Kontrolle über das eigene Leben – wenigstens in diesem kleinen Bereich.
Nachrichten als Giftstoff
Die Macher der Nachrichten tun es nicht, um zu informieren. Sie tun es, wie ein Freund mir sagte, um uns wütend zu machen und um uns Angst einzujagen. Sie berichten von Ereignissen, die bereits geschehen sind und die sich ohnehin nicht ändern lassen. Oder von Dingen, die noch geschehen werden, auf die wir jedoch keinerlei Einfluss haben. Naturkatastrophen, Kriege, Gewalttaten: Sie sollen uns fürchten lassen, Ähnliches könne uns treffen. Politische Dummheiten: Sie sollen uns erzürnen, weil wir mit gesundem Menschenverstand mehr erkennen, als so mancher „Vertreter des Volkes“. Und so stelle ich mir die Frage: Muss ich wissen, dass in Asien ein Erdbeben war oder in Afrika ein Bürgerkrieg tobt? Muss ich mich damit beschäftigen, dass Herr A. von der Roten Partei mit Frau B. von der Gelben uneins ist?
Informationsrecht oder Irrelevanz?
Wir sind konditioniert, zu glauben, wir hätten ein Recht, informiert zu sein – über Zypernkrisen, Zugunglücke in Peru, Waldbrände in Kalifornien – bis hin zu den Eheproblemen eines Fußballers oder den Wehwehchen einer Schauspielerin. Aber man kann dieses Dogma infrage stellen. Man kann gegen den Strom der Irrelevanzen stehen und prüfen: Welche Lichter in diesem nächtlichen Wald weisen mir wirklich den Weg? Welche täuschen mich in die Irre?
Zeitungen: nationale Blickverzerrung
Schon früher hatte ich meine Zeitungskäufe eingeschränkt – nur noch im Hotel oder wenn sie am Flughafen gratis verteilt wurden. Letztlich ist jede Zeitung, so international sie sich gibt, im Kern doch nur mit nationaler Kleinkrämerei beschäftigt: Karrieren ambitionierter Politiker, die glauben, es bedeute Weltgeschichte, eine führende Figur in Österreich, Frankreich oder Belgien zu werden. Und was hilft es mir, diese Details zu lesen? Kaum etwas.
Weniger Nachrichten, weniger Desinformation
Kurz gesagt: Ich kann viel von dem Nachrichtenstrom ausschalten – und werde dadurch nicht weniger informiert, wie ich früher irrigerweise fürchtete, sondern vor allem weniger desinformiert. Weniger provoziert. Wenn Journalisten behaupten, sie arbeiteten „in die Tiefe“, so frage ich heute nur: Wie tief kann man eigentlich noch graben, ohne jemals einen Grund zu erreichen?
Keine Globalisierung, nur redaktionelle Willkür
Stehe ich wirklich in einer „globalisierten Welt“? Oder doch nur in einer Medienwelt, in der lokale Redakteure nach ihren eigenen Vorlieben auswählen, was an mich herangetragen wird – mit fixiertem Blick auf eine Handvoll Politiker, deren jedes Wort zitiert, skandalisiert, zersägt wird –, während die meisten Konflikte, die zeitgleich toben, schlicht ignoriert werden?
Die Jugend der „Effluencer“
Die nächste Generation scheint sich von Nachrichten und Diskussionen bereits abgewandt zu haben: Sie folgt Influencern – oder treffender: „Effluencern“ (von englisch effluent = Abwasser, Fäkalien), die geistigen Abfall verbreiten. Sie glaubt irgendwelchen Sechzehnjährigen, plappert ihre Parolen nach. Ein Blick in die Kommentarbereiche jeder x-beliebigen Webseite genügt, um zu sehen, wie armselig das Niveau inzwischen geworden ist. Ich sorgte mich früher, die nächste Generation werde unwissend, oberflächlich und voreingenommen. Heute muss ich sagen: Genau so ist es, und die Medien haben diesen Prozess nicht verhindert, sondern beschleunigt.
Der Rückzug ins bewusste Abseits
Früher habe ich heftig gegen jede Form von Selbstisolierung gestritten. Heute nicht mehr. Sie ist zu einer Art Selbstschutz geworden, Selbsttherapie. Ehrlich gesagt habe ich so wenig wie möglich mit den Menschen draußen auf der Straße, in den Ministerien, Universitäten, Medien oder im Kulturbetrieb zu tun haben wollen. Ich fühle mich von den meisten bereits verraten oder für künftigen Verrat vorgesehen. Wenn selbst Kunst, Kultur oder Sport dazu genutzt werden, den Hass auf Juden oder Israel zu transportieren, ist für mich die Grenze überschritten. Sollten sie eines Tages begreifen, welch Fehler sie begingen – kaum wahrscheinlich, aber sei’s drum –, dann hängt mein Verhalten davon ab, ob sie zuvor ihre Schuld eingestehen und um Verzeihung bitten.
Ich werde keinen Muslim mehr verteidigen, wenn es um Fragen von Glaubensfreiheit, Beschneidung oder rituellem Schlachten geht. Warum sollte ich? Was haben wir denn noch gemeinsam? Wir sagten einst: beide Minderheiten. Heute aber treten sie auf, als seien sie die Mehrheit, und in manchen Städten sind sie das bereits.
Ich werde auch keinen Christen mehr verteidigen, wenn er sich vom wachsenden Antichristentum bedroht fühlt. Jahrhunderte zuvor haben Christen Juden massakriert. Heutzutage überlassen sie uns jenen, die uns hassen, und verweigern uns das Recht, ohne Angst auf der Straße zu gehen. Sie haben diese Menschen hereingelassen, sie gestützt, toleriert, ihnen vergeben – während sie Israel nichts vergeben, nichts. Nützliche Idioten für die, die sich eines Tages gegen ihre eigenen Wohltäter wenden werden. Dann wird es zu spät sein.
Die Büchse der Pandora der Medien
Die Medien haben die Büchse der Pandora geöffnet. Mit gefälschten Bildern oder echten Bildern, die durch falsche Bildunterschriften verfälscht wurden, haben sie jegliches Vertrauen verspielt. Radio und Fernsehen helfen ihnen dabei. Das Grundprinzip des Journalismus – „Prüfe deine Fakten vor der Veröffentlichung“ – ist verloren. Jede Integrität, Unabhängigkeit, Reinheit dahin. Stattdessen verbreiten sie, was Terrorgruppen in die Welt setzen. Warum sollte ich diesen Müll in mein Haus, in meinen Kopf, in meine Seele lassen?
Früher fürchtete man den Einfluss der Werbekunden oder der Verleger mit politischen Ambitionen. Heute fließt schmutzigste Propaganda ungebremst durch Pressemitteilungen und manipulative Videos, die sich als Wahrheit tarnen.
Ein Entzug mit heilsamer Wirkung
Ob ich das lange durchhalte, weiß ich nicht. Es ist, als wollte man eine Diät halten, mit dem Rauchen oder dem Trinken aufhören. Aber schon nach wenigen Tagen spüre ich: Es ist besser. Die Welt draußen mag weiter im Wahnsinn kreisen – die Politik ebenso, wie ich die Welten der Mode, des Sports und der Popmusik seit Jahren konsequent ignoriere. Ich habe zwei, drei Informationsquellen, die ich einmal am Tag konsultiere und denen ich zu achtzig Prozent traue. Das genügt fürs Erste.
Und für den Rest gilt: Das stumme Radio ist zum Symbol meiner Selbstbefreiung geworden.
Keine Nachrichten – das ist die beste Nachricht, die ich seit langem gehört habe.
Rabbiner Dr. Walter Rothschild