Walter Rothschild || Lech Lecha: Aufbruch ins Ungewisse
Ein uralter Text über das Verlassen der Heimat und die Suche nach einem neuen Leben hallt in der Gegenwart wider und wirft Fragen über die Zukunft der Juden in Europa auf.
Im Schabbat-Gespräch mit Rabbiner Daniel Katz meinte dieser heute, wenn wir in der Geschwindigkeit der Auslegung der ersten drei Verse fortsetzen, wären wir im Jahre 2028 mit dem Wochenabschnitt fertig. Freilich: „fertig“ ist man mit der Tora nie.
Deshalb seien heute weitere Überlegungen zur Parascha Lech Lecha angefügt. Und jeder Rabbiner liest auf seine Weise. Das ist das Schöne daran…
Rabbiner Dr. Walter Rothschild schrieb seine Gedanken für die Website „Liberal Judaism“ in Großbritannien. In englischer Sprache hat er sie auch hier auf Substack veröffentlicht:
Ricklef Münnich
Ich vermute, dass ein irakischer Emigrant, der aus Syrien flieht und behauptet, Gott habe ihm befohlen zu gehen, heutzutage kein sehr sympathisches Gehör finden würde.
Zuerst: Welche Familiensituation verlässt Awram, als er von Haran nach Kanaan aufbricht? Denn wenn man reist, verlässt man ja nicht nur einen Ort, sondern ist auch auf dem Weg zu einem anderen…
Familiäre Verstrickungen
Wir erfahren viel, aber (wie üblich) nicht genug. Es ist interessant, die Beziehungen zu entwirren und nachzurechnen. Wir erfahren nie, wen Terach oder sein Sohn Haran heiratet, aber am Ende von Paraschat Noach, in Genesis 11,22-32, erhalten wir viele Hintergrundinformationen, auch wenn es Lücken gibt. Serug war dreißig, als er Nahor bekam. Nahor Senior, der Sohn des Serug, hat seinen erstgeborenen Sohn (von vielen) Terach bekommen, als er 29 ist (d. h. Serug ist jetzt 59); Terach scheint drei Söhne fast zur gleichen Zeit zu haben, das heißt, keiner von ihnen wird formell als „Bechor“, als Erstgeborener, bezeichnet – und da ist er 70 Jahre alt. Das sind Abram, Nahor Junior (benannt nach seinem Großvater) und Haran (Serug der Urgroßvater ist da 129).
Haran wird ebenfalls Vater und stirbt dann – stirbt auch die Mutter? Uns wird nicht einmal gesagt, dass er verheiratet war! – und so adoptiert Awram Lot, seinen Neffen. Er ist mit Sarai verheiratet, hat aber keine eigenen Kinder, während Nahor mit Milka, der Tochter Harans, verheiratet ist (keine Schokoladenwitze, bitte! – Sarai könnte mit „Prinzessin“ und „Milka“ mit „Königin“ in Verbindung gebracht werden). Zu diesem Zeitpunkt scheint es als ausgemacht zu gelten, dass Sarai keine Kinder bekommen kann.
Dann beschließt Terach plötzlich (und ohne Angabe von Gründen), Ur zu verlassen und an einen Ort zu ziehen, der nach seinem toten Sohn benannt ist – kann das sein? Der Sohn kann kaum nach dem Land benannt worden sein… Er nimmt nur einen Sohn, eine Schwiegertochter und einen verwaisten, aber adoptierten Enkel mit, und sie beabsichtigen, in Kanaan einen Neuanfang zu machen, bleiben aber irgendwie in Haran hängen. Das bedeutet, dass Terach einen Sohn und das Grab eines anderen in Ur zurücklässt – doch später (22,20-24) wird berichtet, dass Nahor mit Milka zwölf eigene Söhne hatte, die Enkel, die Terach nie kennenlernte. Welche Gefühle mögen zu dieser Trennung geführt haben oder durch diese Trennung verursacht worden sein? Terach hat auch seinen eigenen Vater und Großvater verlassen und wird noch sechzig Jahre leben, nachdem Awram ihn verlassen hat. (Ich kratze hier nur an der Oberfläche – man braucht Papier und Bleistift, um die Querverbindungen auszuarbeiten…)
Gottes Ruf und das gelobte Land
Gott hatte Adam nach Osten geschickt und Kain nach Osten und Noah in eine Holzkiste, die er selbst bauen musste, aber die Richtung selbst war unwesentlich… Nun, in Genesis 12,1-7, gibt Gott zum ersten Mal ein bestimmtes (wenn auch unbenanntes) Ziel vor – Gott wird mit ihm gehen, vielleicht sogar vor ihm, und es ihm zeigen, wenn er dort ankommt. Gott kann das tun, weil Gott über den Horizont blicken kann, Gott weiß bereits, welches Land wo ist, und Gott kann entscheiden, wie er es zuteilt. Awram ist 75, als er seinen Vater (und seine Mutter?) in Haran verlässt und nach Süden in ein Land zieht, das Gott als Teil des Bundes versprochen hat, das aber bereits bewohnt ist. Awram, dem Nomaden, wird gesagt, er habe Anspruch auf ein Land, auf eine eigene Heimat, auch wenn sich herausstellt, dass dies mit vielen Problemen verbunden ist. Es wird, so scheint es, immer diejenigen geben, die uns als Nachkommen segnen, und diejenigen, die uns verfluchen. Das gehört dazu.
Dies ist für viele ein heikles Thema – als liberale Juden wollen wir einen Text nicht wörtlich und fundamentalistisch lesen, aber Tatsache ist, dass das Judentum nicht auf einem abstrakten „Frieden“ basiert, sondern auf „Bund“ und „Gerechtigkeit“, auf einer Beziehung zu Gott und Gottes Anforderungen an uns – wobei die Einhaltung des Bundes und das Wirken für Gerechtigkeit zu Frieden führen sollten. Viele scheinen heute zu vergessen, dass die Umsetzung von Gerechtigkeit auch die Bestrafung derer beinhaltet, die Böses tun, und nicht, ihnen ständig zu vergeben oder sie sogar dafür zu belohnen. Ich würde vielen Politikern nicht zutrauen, einen Hund zu erziehen, geschweige denn ein Kind großzuziehen…
In der berühmten jüdischen Dreifaltigkeit kommt „Al HaTora“ vor „we’al Gemilut Chasadim“ als Grundlage für die Welt. Es geht uns nicht nur darum, „gute Taten zu vollbringen“, es gibt einen rechtlichen Rahmen dafür in unseren Texten. Man kann „jüdische Ethik“ nicht von Religion und Ritual und vom Zionismus trennen, sie sind drei Teile des Ganzen. Es sind nur unsere Feinde, die besonders in den letzten Jahren lautstark versucht haben, die Teile des Judentums, die sie tolerieren können, von den Teilen zu trennen, die sie verurteilen, und sie hatten sogar die Chuzpe zu erwarten, dass wir sie ebenfalls verurteilen! Sie haben religiöse Juden „Extremisten“ genannt und zionistische Juden „Siedler“ oder „Kolonialisten“, und sie maßen sich an zu glauben, dass sie das Recht haben, für uns zu entscheiden, was das Judentum sein sollte. Sie liegen falsch!
Echo in der Gegenwart
„Lech Lecha…“ – Israel umfasst heute viele, viele Juden, die ihre alten Heimatländer und oft auch ihre Familien verlassen haben oder deren Vorfahren dies taten (sofern sie noch überlebende Familienmitglieder hatten). Dieser Text hallt wider, er schwingt in der Gegenwart mit.
Und was ist mit der Zukunft? Die Frage wird jetzt von vielen Juden in ganz Europa gestellt: „Ist es an der Zeit, zumindest darüber nachzudenken, wegzugehen, das Zuhause zu verlassen, vielleicht sogar andere Familienmitglieder zurückzulassen und in einem alten Land ein neues Leben zu beginnen?“ Ich habe kürzlich an einer Gemeindeveranstaltung in Deutschland teilgenommen, bei der alle drei Podiumsteilnehmer erklärten, sie sähen wenig Zukunft für Juden in Deutschland; einer hatte bereits Alija gemacht, und zwei dachten darüber nach. Ein Israeli in Berlin erzählte mir vor einem Jahr, dass er jetzt verstehe, warum seine Großeltern in den 1930er Jahren von Berlin nach Palästina gegangen waren, weil die Leute „Tötet die Juden!“ auf der Straße vor seiner Wohnung schrien. Derzeit verlassen viele Israelis, enttäuscht von der aktuellen politischen und wirtschaftlichen Lage, Israel in Richtung Diaspora – das steht ihnen natürlich frei, aber man fragt sich, wie viele von ihnen, nachdem sie die Diaspora und die Belastungen, die wir hier erleben, erfahren haben, sich später doch für eine Rückkehr entscheiden werden.
„Lech lecha…“ Der jüngste schreckliche Anschlag in Manchester war sehr medienwirksam, folgt aber auf einen längeren Anstieg von weniger auffälligen „Vorfällen“. Man beginnt sich zu fragen: „Wohin würde man gehen? Wen würde man mitnehmen? Wen wäre man bereit zurückzulassen? Was wäre man bereit zurückzulassen? Und würde man sich als hilfloses Opfer fühlen oder irgendwie von Gott geführt?“
Es gibt viele Arten, „Lech Lecha“ zu sagen, und viele Menschen, die es sagen. Mein verstorbener Freund und Lehrer Rabbi Albert Friedlander erzählte mir einmal, dass, als er ein Junge war, die Graffiti am Nollendorfplatz in Berlin „Juden raus nach Palästina!“ schrien, während es bei seinem späteren Besuch hieß: „Juden raus aus Palästina!“, wobei es zweifelhaft war, ob diejenigen, die das sprühten, hinzufügen wollten: „Bitte kommt stattdessen hierher zurück!“
Sollten unsere Feinde jemals (Gott bewahre!) das Stadium erreichen, zu fordern oder darauf zu bestehen, dass wir als Juden, als Volk, „dorthin zurückkehren, woher wir kamen“, könnten wir mit der Ironie konfrontiert werden, als Emigranten von Europa nach Syrien und in den Irak zu gehen, mit der Begründung, dass Gott dort zu unserem Vorfahren Awram sprach. Das würde doch mal ein interessantes Buch ergeben…
In der Zwischenzeit wollen wir hoffen, dass – was auch immer sie sagen und tun, nicht allem müssen wir zustimmen – diejenigen, die uns segnen, wahrhaft gesegnet sein werden und diejenigen, die uns verfluchen, wahrhaft verflucht sein werden.
Rabbiner Dr. Walter Rothschild



