Walter Rothschild || Projekt Schöpfung: Ein bürokratischer Albtraum
Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Doch dann kamen die Tücken des Projekts: Unkraut, Raubtiere und vor allem die Bürokratie. Eine alternative Schöpfungsgeschichte.
An Simchat Tora beginnt mit dem Wochenabschnitt Bereschit, „Im Anfang“, ein neuer Zyklus der Tora-Lesung. Heute, Freitag, um 14 Uhr spricht Rabbiner Dr. Walter Rothschild das „Wort zum Schabbat“ zu dieser ersten Parascha. Auf plus.ahavta.com kannst du Live dabei sein.
Zusätzlich gibt es die deutsche Übersetzung des Wochenabschnitts durch Samson Raphael Hirsch zu hören und zu lesen:
Schöpfungsbericht der Tora und Schöpfungswirklichkeit heute bestimmen den folgenden Beitrag des Rabbiners – exklusiv bei ahavta - Begegnungen…
Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Und die Erde war ein absolutes und völliges Tohuwabohu. Und Gott sprach: „Ich glaube, ich bleibe lieber hier oben im Himmel. Wenn die Erde schon so chaotisch werden kann, bevor sie überhaupt richtig in Gang gekommen ist, welche Hoffnung kann es da für eine bessere Zukunft geben? Hier oben bleiben die Sterne wenigstens in den Positionen, in die ich sie setze, verharren in ihren zugewiesenen Konstellationen und befolgen meine Anweisungen, Sonne und Mond ziehen ihre Bahnen ohne viel Aufhebens.“
Aber Gott überdachte die Sache. Die Himmel waren zwar riesig und wunderschön, mit vielen unbeweglichen und beweglichen Lichtern vor einem satindunklen Hintergrund, aber dennoch war da eine gewisse Eintönigkeit, die nur durch die Notwendigkeit unterbrochen wurde, Schwarzen Löchern, implodierenden Sternenmassen und Supernovae auszuweichen.
Ein durchwachsener Start
Und so sprach Gott: „Es werde Licht!“ Und es ward Licht, obwohl es noch an Erleuchtung mangelte. Und Gott schied das Licht von der Finsternis, aber die Finsternis versuchte ständig, sich vorzudrängen und dem Licht mehr Platz wegzunehmen, sodass es nicht nur Tag und Nacht gab, sondern auch graue Morgen, dunkle Abende und Tage, die von einer grauen Wolkendecke überzogen waren, an denen weder Sonne noch Mond Licht oder Wärme spendeten. Und Gott sprach: „Das ist doch alles Mist, aber ich nehme an, für den Moment muss es reichen.“ Und Gott nannte dies: „Klima“.
Und Gott sprach: „Es werde trockenes Land“, und Gott schied das trockene Land vom Wasser, und die Wasser nannte Gott Meere und Seen und Teiche und Pfützen und Sümpfe und Flüsse und Bäche und Grundwasserleiter und aufsteigende Feuchtigkeit und Überschwemmungen und Tsunamis und feuchte Flecken an den Wänden. Und auf die Erde fielen Regen und Nieselregen und Hagel und Schnee (und Tau).
Und das trockene Land wurde supertrocken, sodass die Samen darin verschrumpelten und die meisten Kreaturen, die versuchten, darauf zu leben, verdursteten, ihre Füße von der heißen Oberfläche des Sandes verbrannt, und nur ihre Knochen zurückließen, um auf die Feinheiten, Komplexitäten und Ungereimtheiten von Gottes Mikromanagement-Plan hinzuweisen. Und Gott sprach: „Das ist nicht ganz das, was ich mir vorgestellt hatte, aber ich schätze, es muss erst einmal genügen. Vielleicht können wir das später noch mal in Ordnung bringen.“
Unerwünschte Flora und Fauna
Und Gott sprach: „Es sollen Pflanzen wachsen“, und die Erde füllte sich mit Unkraut, Venusfliegenfallen, Brennnesseln, Disteln und Schimmel, und der Geruch von verrottender Vegetation erfüllte die Luft. Und Gott sprach: „Wo sind die hübschen Pflanzen, die ich aus dem Katalog bestellt habe, und die bunten, süß duftenden Blumen, sowohl einjährige als auch mehrjährige, und die Blumenbeete, die meiner Schöpfung einen schönen Hintergrund verleihen sollen? Wo sind die bunten Blätter und die leckeren Früchte, die ich erwartet hatte?“ Und Gott sprach: „Das ist nicht gut, ich werde einen Gärtner einstellen müssen und wahrscheinlich, ehe man sich’s versieht, sogar einen Gärtnergehilfen, um hier wieder etwas Kontrolle zu erlangen. Und Unkrautvernichter und Dünger und Mulch und Blumenerde und eine ganze Reihe teurer Werkzeuge zum Graben, Schneiden, Harken, Mähen, Kantenschneiden, Topfen sowie eine Schubkarre und sogar einen Schuppen.“
Und Gott sprach: „Es sollen Lebewesen entstehen“, und plötzlich waren die Wasser gefüllt mit Quallen, Haien, Mantarochen, Wasserflöhen, Orcas, Piranhas, Hechten und giftigen Seesternen, und auf dem trockenen Land wimmelte es von Skorpionen, Schlangen, fleischfressenden Spinnen, Kakerlaken und Raubtieren wie Hunden und Katzen, und winzige Bakterien füllten jeden kleinen Winkel der Erde und der Kreaturen und verursachten ihnen Schwäche und Krankheit.
Und es ward der Bürokrat
Und Gott sprach: „Lasset uns den Menschen machen nach unserem Bilde!“, und da waren Bürokraten und Planer und Designer und Berater und Rechtsberater, die mit einem Berg von Akten zu Gott kamen und sich beschwerten, dass Gott für alle Projekte, die er bereits durchgeführt hatte, eine detaillierte Baugenehmigung benötige und dass die Anträge schon vor Tagen in dreifacher Ausfertigung hätten eingereicht werden müssen ... und es gab kein Geschäftsszenario und kein Sicherheitskonzept und keine Erhebungen über die Auswirkungen auf die Tierwelt oder den Einfluss auf das Klima und keine Bewertung der CO₂-Produktion, und es waren keine Gesundheits- und Sicherheitsprotokolle zur Genehmigung vorgelegt worden, und überhaupt habe jeder Kontinent und jedes Land seine eigenen Vorschriften dafür, und ohnehin würden Lieferverzögerungen bei den verschiedenen Elementen und Arten, kombiniert mit Schwierigkeiten in der Lieferkette und Personalmangel (denn bis anhin hatte Gott noch keine Arbeiter oder Gewerkschaftsführer geschaffen) sowie kurzfristige Änderungen am Design und an den benötigten Rohstoffen bedeuten, dass das gesamte Projekt sechs Millionen Jahre statt der ursprünglich geplanten sechs Tage dauern würde und die Kosten von den ursprünglichen Schätzungen von zehntausend Schekel auf mindestens einhundertsechzig Milliarden Dollar allein für die oberste Ebene steigen würden, ohne einen Reservefonds für unerwartete Ergänzungen, und überhaupt hätte der Privatsektor einbezogen werden müssen und eine Erklärung darüber abgegeben werden müssen, welcher Prozentsatz des Endprodukts aus heimischen Materialien und Arbeitskräften hergestellt wurde und auch eine Einschätzung, welcher Anteil später recycelt werden könnte. Gott hätte das gesamte Projekt gemäß den Vorschriften öffentlich ausschreiben müssen, anstatt die gesamte Autorität an sich zu reißen, und so weiter und so fort, und dann hätte Gott die üblichen rechtlichen Planungsverfahren durchlaufen müssen, wodurch der Prozess zwar zusätzliche fünfundzwanzig Millionen Jahre gedauert hätte, aber zumindest am Ende die Papiere in Ordnung gewesen wären, bis man bemerkt hätte, dass sich die Umstände in der Zwischenzeit geändert hatten und eine neue Untersuchungskommission eingesetzt werden könnte, um eventuell notwendige Änderungen an den vereinbarten Plänen zu prüfen. Es war keine Risikobewertung durchgeführt worden oder eine Analyse der finanziellen Auswirkungen der Beschäftigung eines Gärtners und seines Gehilfen; wenn diese als unsterblich gelten sollten, könnten die Auswirkungen auf die Rentenansprüche unendlich sein.
Und Gott sprach: „Ich habe die ganze Woche hart gearbeitet, mein Bestes gegeben und zumindest ein kleines bisschen Dankbarkeit erwartet. Ich denke, es ist an der Zeit, einen unbefristeten Streik anzutreten, bis ich in den Ruhestand gehen kann.“
Und Gott tat es…
Rabbiner Dr. Walter Rothschild
Wie immer ein literarischer Leckerbissen, lieber Walter! Vielen Dank!
Das wäre eine Erklärung;)!
Shabbat shalom