„Schau hin und schweige nicht“ || Das Gedenken an die Novemberpogrome
Zum 87. Jahrestag: Wie sich das Gedenken gewandelt hat und warum das „Nie wieder“ von einer neuen, israelfeindlichen Ideologie überholt wurde. Eine persönliche Reflexion.
Heute jähren sich zum 87. Mal die Novemberpogrome von 1938 im damaligen Deutschen Reich. Während dieser Zeit wurden Synagogen, fast alle in Deutschland, geschändet oder niedergebrannt, unzählige jüdische Geschäfte zerstört und geplündert, und 30.000 Männer in die bereits vorbereiteten Konzentrationslager verbracht. Allein in Buchenwald wurden knapp 10.000 Juden interniert.
Heute werden erneut Gedenkreden gehalten. Früher war es üblich, bei der Erinnerung an die Pogrome vom „Nie wieder“ zu sprechen – nie wieder Ausschreitungen gegen Juden, nie wieder Antisemitismus in Deutschland –, sondern vielmehr ein sicheres Leben für jüdisches Leben in Deutschland zu betonen. Aber es ist deutlich, dass sich seit dem 85. Gedenktag im Jahr 2023 vieles geändert hat und diese Worte nicht mehr verwendet werden können. Denn das „Nie wieder“ ist Gegenwart und seit dem 7. Oktober 2023 bereits neue Vergangenheit in Deutschland. Jüdisches Leben ist gefährdet, Juden werden angegriffen, jüdische Veranstaltungen blockiert – nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa. So wurde aktuell beispielsweise das Chanukka-Konzert im Amsterdamer Concertgebouw abgesagt.
Was hat sich also geändert und was ist gleich geblieben? Was ist auch in diesem Jahr zum Pogromgedenken in Erinnerung zu rufen? Ich glaube, dass ein Generationswechsel stattgefunden hat. Ich möchte dies einleitend anhand meiner eigenen Familiengeschichte illustrieren.
Fragen an die Vätergeneration
Die Zeit zwischen meiner Pubertät und dem Auszug von zu Hause zum Studium in Berlin war geprägt von immerwährenden Auseinandersetzungen mit meinem Vater. Ich bin ihn hart angegangen, und heute tut mir das leid. Ich war sicher nicht immer gerecht, aber mein bohrendes und anhaltendes Fragen war: Was habt ihr nach 1933 und 1938 und später in der Zeit der Verfolgung und Vernichtung des deutschen und europäischen Judentums gewusst und was habt ihr getan?
Mein Vater ist Jahrgang 1920. 1938 war er 18 Jahre alt, zum Arbeitsdienst eingezogen und daher nicht zu Hause in seinem Heimatstädtchen Quakenbrück im Artland. Dort gab es eine kleine jüdische Gemeinde mit einer kleinen Synagoge seit 1897. 1933 gehörten ihr 46 Mitglieder an. Die Novemberpogrome 1938 markierten das Ende der jüdischen Gemeinde. Auf Befehl der SA-Führung wurde die Synagoge in der Kreuzstraße geplündert und in Brand gesetzt. Ritualgegenstände und die Thora-Rolle wurden öffentlich verbrannt. Fünf jüdische Männer wurden verhaftet und in das Konzentrationslager Buchenwald deportiert, wo der Religionslehrer Ernst Beer einen Tag nach seiner Ankunft starb.
Mein Vater bestand immer darauf, nichts gewusst zu haben. Später erlebte ich bei ihm die Macht des Vergessens und der Verdrängung. 1978/1979 studierte ich ein Jahr an der Hebräischen Universität in Jerusalem im Rahmen von „Studium in Israel“. Mein Vater kam zu Besuch und natürlich gingen wir auch nach Yad Vashem. Dort suchten wir nach Namen von Juden aus Quakenbrück, die umgekommen waren. Wir fanden solche Namen. Für meinen Vater war es ein großer Schock, einige dieser Namen zu erkennen und sich zu erinnern, dass es diese Menschen gegeben hatte – etwas, das er völlig verdrängt hatte.
Dieser Schock war so heftig, dass er erkrankte; vordergründig war es eine Magen-Darm-Erkrankung, wie man sie sich leicht in der Altstadt Jerusalems holen kann. Aber sie wurde so heftig und ging einher mit einer psychischen Depression, dass er zeitweise davon ausging, in Israel zu sterben.
Aufarbeitung und Annäherung nach dem Krieg
Aus den bohrenden Fragen „Was ist eigentlich gewesen? Was habt ihr gewusst? Was habt ihr getan?“ – Fragen einer ganzen Generation junger Menschen in den 60er- und 70er-Jahren an die Generation ihrer Eltern – wuchs ein intensives Erforschen jüdischer Vergangenheit in Deutschland.
Überall wurden Spuren früheren jüdischen Lebens sichtbar gemacht; man erinnerte sich plötzlich daran, wo es Synagogen gegeben hatte. Zum Teil waren diese Spuren völlig unsichtbar gemacht worden – so wie in meiner eigenen Heimatstadt Bad Kissingen in Unterfranken.
Infolge der Ernsthaftigkeit des Nachfragens entstand neues Vertrauen zwischen Juden und Nichtjuden sowie zwischen Juden und Christen in Deutschland. Es war die große Zeit der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit; etwa 70 solcher Gesellschaften waren im „Deutschen Koordinierungsrat“ zusammengeschlossen.
Es war auch die große Zeit der Umkehr in der Theologie: Wissenschaftler fragten nach den Spuren von Judenfeindschaft nicht nur in der Kirchengeschichte, sondern auch in der Auslegung des Neuen Testaments und kam darüber mit Jüdinnen und Juden ins Gespräch.
Es war die große Zeit der Arbeitsgemeinschaft Juden und Christen beim Deutschen Evangelischen Kirchentag; die jüdischen Gesprächsforen gehörten dort zu den wichtigsten Veranstaltungen. Für die Katholikentage galt dies mit etwas zeitlicher Verzögerung ebenso.
Die Spurensuche nach früherem jüdischen Leben war in der Bundesrepublik wie auch in der DDR gleichermaßen intensiv. In der DDR kam noch hinzu, dass es keine staatliche Förderung oder Unterstützung für solche Vorhaben gab. So war es den evangelischen Kirchen und dort besonders den Jungen Gemeinden überlassen, nach Zeitzeugen zu forschen und Orte jüdischen Lebens kenntlich zu machen. Die Ergebnisse wurden zum Beispiel durch die Landesjugendpfarrämter in Broschüren publiziert.
Jüdinnen und Juden lebten ungefährdet in beiden Teilen Deutschlands. Es gab gleichwohl eine große Gefährdung und das war die Demografie. Die Zahl der Juden in der DDR war bereits seit den Verfolgungen der 50er Jahre stark dezimiert, und es schien absehbar, wann es keine lebendigen jüdischen Gemeinden auf dem Gebiet der DDR mehr geben würde. In der Bundesrepublik lebten es zwar mehr Juden, aber auf mittlere Sicht schien die Demografie Hitler nachträglich Recht zu geben. Das änderte sich nach der Wiedervereinigung der beiden Deutschlands durch die Juden aus der früheren Sowjetunion, die zunächst als sogenannte Kontingentflüchtlinge nach Deutschland kamen. So schwoll die Zahl der Juden an und die demografische Frage nach der Existenz von Juden in Deutschland schien nicht nur hinausgeschoben, sondern gelöst – wobei freilich erst nach und nach deutlich wurde, dass die überwiegende Zahl der jüdischen Zuwanderer keinerlei jüdische Identität besaßen.
Die trügerische Stille des neuen Jahrhunderts
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts wurde es stiller um das deutsch-jüdische und christlich-jüdische Verhältnis. Zwar wurden immer neue Stolpersteine für tote Juden verlegt, aber die Umkehrbewegung schien abgeschlossen. Fast alle evangelischen Kirchen und auch die katholische Kirche hatten Erklärungen veröffentlicht, in denen sie „Umkehr und Erneuerung“ im Verhältnis zum jüdischen Volk zum Thema machten. Waren die evangelischen Synodalerklärungen anfangs noch ein Streitpunkt, so vor allem die wegweisende Erklärung der Evangelischen Kirche im Rheinland, so war dieser Prozess Anfang des neuen Jahrhunderts weitgehend abgeschlossen. Die Kirchen sahen ihre Aufgabe als erfüllt an.
Aber das war es dann auch… Viele der Forderungen aus den kirchlichen Erklärungen wurden nie zu wirklicher Praxis. So gelang es nicht, jüdische Studien und Kenntnisse vom Judentum in Studien- und Ausbildungsordnungen zu verankern. Infolgedessen setzte sich der Anfangspunkt, der mit den Synodalerklärungen und in den evangelischen Kirchentagen gemacht wurde, nur zu einem geringen Teil in der jüngeren Generation von Studierenden und Vikaren und jungen Pfarrern fort.
Wie sehr sich der Prozess von Umkehr und Erneuerung als Illusion erwies, insofern er in der Breite kirchlichen und theologischen Denkens und Handelns, nämlich in der Praxis, nie richtig ankam, zeigte der Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 mit dem größten Pogrom und Massaker am jüdischen Volk seit dem Holocaust. Dieses Geschehen löste weder in der deutschen Gesellschaft noch in den Kirchen eine Erschütterung aus. Dass auch Deutsche zu Geiseln in den Tunneln der Hamas wurden, blieb nahezu ein Geheimnis.
So kam es, dass man Israel kein Recht zubilligte, die Terrororganisation Hamas im Gazastreifen zu beseitigen. Außerdem bestand kein wirkliches Interesse, die tiefer gehenden und komplizierteren Zusammenhänge der Einbindung der Hamas in ein terroristisches, anti-israelisches Netzwerk – das vom Iran unterstützt und finanziert sowie gesteuert und gelenkt wurde – zur Kenntnis zu nehmen. Es interessierte nicht wirklich, dass Hamas, Hisbollah, Houthis und terroristische Gruppen im Westjordanland gemeinsame Ziele und Verbindungen haben, die den Staat Israel mit dem Willen umzingelt haben, ihn zu zerstören und zu vernichten.
Die Ideologie der umgekehrten Vorzeichen
Nach 2015 kam in Deutschland und Europa ein Weiteres hinzu: Das Wohlwollen gegenüber den inzwischen mehr als zwei Millionen Flüchtlingen aus Syrien, Irak und Afghanistan. Dieses ließ es nicht opportun erscheinen, auf eine dem Islam innewohnende Judenfeindschaft hinzuweisen. Wer es dennoch wagte, wurde häufig als muslimfeindlich oder islamophob gekennzeichnet.
So konnte in Deutschland einerseits durch das weitgehende Schweigen der Kirchen – die sich tatsächlich mehr ihren palästinensischen Geschwisterkirchen im „Heiligen Land“ verbunden fühlen als Israel, dessen Name sogar regelmäßig in der Bezeichnung „Heiliges Land“ versteckt wird – andererseits durch das in den Medien und der Politik praktizierte Schweigen über eingewanderten Antisemitismus – noch immer wird überwiegend auf die Gefahren eines rechten Antisemitismus verwiesen –, eine neue Haltung, Moral und Ideologie entstehen.
Sie ist israelfeindlich, macht aber alle Juden mitverantwortlich für die Politik der israelischen Regierung, deren Angehörige in der Berichterstattung gern das Adjektiv „rechtsextrem“ erhalten.
In den Universitäten wurde dazu ein ideologischer Unterbau geliefert: Die Gründung des Staates Israel ist ein kolonialistisches Projekt, der sich überlebt hat und dem Verschwinden ausgeliefert ist. Da er selber immer noch kolonialistisch handelt, indem er palästinensisches Heimatland besetzt hält und dessen Bewohner unterdrückt und verfolgt, gilt die Sympathie und Unterstützung den Opfern dieses Konstrukts.
Die deutsche Vergangenheit wird damit selbst zu einem überlebten Überbleibsel. So ist Palästina auch von deutscher Schuld zu befreien („Free Palestine from German guilt“), die nur dazu geführt hat, ein kolonialistisches Siedlerprojekt zu unterstützen – moralisch und mit Waffen. Oder, wie gestern unwidersprochen auf den Straßen Berlins gerufen wurde: „Wir lehnen die sogenannte Staatsräson ab und erkennen die Besatzung als rechtmäßige Begründung für den bewaffneten Widerstand des palästinensischen Volkes gegen Siedlerkolonialismus und Apartheid an.“
Die junge Generation befindet sich heute an einem völlig anderen Punkt in ihrer Auseinandersetzung mit den Eltern und Alten als in der Zeit meiner Jugend. Während viele meiner Altersgenossen und ich nicht aufhören konnten, Bücher, Filme und Artikel über das Grauen der Judenverfolgung und -vernichtung aufzusaugen, um irgendwie eine Vorstellung vom unvorstellbaren Grauen zu bekommen, gibt es heute kaum ein Bemühen, ein Bewusstsein für die Geschichte des 20. Jahrhunderts zu erlangen. So wird „Auschwitz“ zu einem ebensolchen Monstrum wie der „Judenstaat“.
Geschichte wiederholt sich. Aber niemals gleich. Sondern mitunter in einer geradezu perversen Umkehrung. Haben wir unsere Väter angegriffen, weil sie weggesehen oder nicht hingesehen haben, indem sie mehr oder weniger stillschweigender oder aktiver Teil einer judenfeindlichen Staatsideologie waren, weigern sich große Teile der jungen Menschen heute, genau hinzuschauen, was die Geschichte der Bundesrepublik und der DDR und des wiedervereinigten Deutschland im Verhältnis zu ihren jüdischen Teilen und zum Staat Israel gewesen ist. So machen sie sich anfällig für Ideologien. Als größte Gefahr heute sehe ich das Bündnis aus islamistischer, aber auch allgemein-islamischer Judenfeindschaft mit neuer antiimperialistischer und vermeintlich antikapitalistischer sowie antikoloniastischer Ideologie, die alles, was sie zu bekämpfen vorgibt, in Israel konzentriert sieht.
Zohran Mamdani in New York ist der erste erfolgreiche Politiker, der all dies in einer Person vereint. Er wird wohl nicht der einzige bleiben. Dafür spricht in Deutschland allein schon – und nun erneut – die Demographie. Mindestens sechs Millionen Muslime mit stark ansteigender Wachstumsperspektive können politisch nicht mehr übergangen werden. Wohl aber geschätzt 225.000 Jüdinnen und Juden mit der wiedererlangten Perspektive des Verschwindens.
All dies wird vermutlich in heutigen Gedenkreden nicht zur Sprache kommen. Deshalb gilt – und das ist das Kontinuum: Schau hin und schweige nicht. Selbst wenn es dich etwas kostet. Denn noch ist es nicht dein Leben.


