Tisch'a beAw || Der 9. Aw – Tag der Trauer
Grundloser Hass und grundlose Liebe
Prediger am Israelsonntag der protestantischen Kirchen – am 10. Sonntag nach Trinitatis, das ist 2023 am 13. August – denken auch darüber nach, weshalb es christlicherseits über Jahrhunderte Hochmut und Hass gegenüber dem jüdischen Volk gegeben hat. Hochmut, die den Verlust des jüdischen Heiligtums in Jerusalem im Jahre 70 zum Anlass nahm, darin eine Verwerfung Israels durch Gottes Hand zu sehen. Hass, der es nicht aushielt, dass Gott mit Liebe nicht etwa nur auf seine Kirche, sondern ungebrochen zuerst auf sein erwähltes Volk schaut.
Seit dem Mittelalter liegt der Israelsonntag in zeitlicher Nähe zum 9. Aw des jüdischen Kalenders. Nach der Tradition wurden an diesem Tag sowohl der erste wie der zweite Tempel zerstört. Auch viele andere Katastrophen für Israel sollen sich an diesem Tag ereignet haben. Er ist ein Tag der Trauer und des Fastens. In den Synagogen wird das biblische Buch der Klagelieder gelesen.
In drei Gesprächen, die ich mit Rabbiner Andrew Steiman im Jahre 2020 geführt hatte, haben wir über Die drei Wochen zwischen dem 17. Tammus und dem 9. Aw und den Israelsonntag nachgedacht.
Eine der Antworten, die die jüdische Tradition auf die Frage nach dem Grund des Verlustes des zweiten Tempels gegeben hat, lautet Sinat chinam, „unbegründeter und unnötiger Hass“. Wegen ihrer ungebrochenen Aktualität – nicht nur für das jüdische Volk, sondern für das Zusammenleben der Menschen überhaupt – habe ich Gedanken des verstorbenen britischen Oberrabbiners Jonathan Sacks übersetzt und füge sie an.
Damit erinnere ich an Worte von Raw Awraham Jizchak HaCohen Kook (1865-1935):1
Wenn wir und die Welt mit uns wegen unbegründetem Hass zerstört wurden, dann sollten wir zurückkehren und uns und die Welt mit uns mit unbegründeter Liebe wieder erbauen.
Ricklef Münnich
Die Drei Wochen und der Israelsonntag, Teil 1
Die Drei Wochen sind eine Zeit inmitten der Bedrängnis (Klagelieder 1,3). Am 17. Tammus begannen die römischen Legionen die Mauern Jerusalems zu durchbrechen und die Stadt zu erobern. Am 9. Aw wurde nicht nur das Jerusalemer Heiligtum zweimal zerstört, sondern auch die Ausweisung der Juden aus England 1290, die Vertreibung aus Spanien 1492, zuletzt 1994 das Attentat auf das Jüdische Gemeindezentrum in Buenos Aires, das 86 Menschen tötete und mehr als 300 verletzte, geschahen an oder um diesen Tag. In den Drei Wochen ist es üblich, keine Hochzeiten zu feiern sowie überhaupt nicht zu feiern. Viele hören in dieser Zeit keine Musik und lassen die Haare nicht schneiden.Die Drei Wochen und der Israelsonntag, Teil 2
Das zweite Gespräch mit Rabbiner Andrew Aryeh Steiman in Frankfurt fand am Vorabend des 1. Aw statt. Daher geht es zunächst um die Bedeutung dieses Tages, der neun folgenden Tage und ihre Einordnung im jüdischen Jahreslauf. Dann nähern wir uns den Fragen: Warum gibt es eigentlich Judenfeindschaft? Und war die Zerstörung Jerusalems am 9. Aw die Geburtsstunde des Antisemitismus?Rabbiner Andrew Steiman erläutert die Bedeutung des 9. Aw, geht auf die besonderen Gebete und Traditionen ein und bringt den Trauertag auch mit der Gegenwart in Verbindung. – Der Anfang des biblischen Buches „Echa“, Klagelieder:
Ach, wie liegt einsam die Stadt,so volkreich sonst!
Wie eine Witwe ist sie geworden,
Die groß war unter den Völkern.
Die Fürstin der Städte
Muss tragen das Joch.
Drei Betrachtungen von Rabbiner Jonathan Sacks
Ein Video, das der Weltverband Mizrachi produziert hat, zeigt drei Clips von Rabbiner Jonathan Sacks, in denen er über die Themen jüdische Einheit, Konfliktlösung und das Thema Bund und Schicksal spricht. Die Zusammenstellung will zum Nachdenken über sinat chinam und ahawat chinam, grundlosen Hass und grundlose Liebe, anregen.
Übertragung ins Deutsche2
Wenn wir vereint sind, kann keine Macht der Welt uns überwältigen
Wenn du dir die jüdische Geschichte ansiehst, wirst du etwas Außergewöhnliches entdecken. Das jüdische Volk wurde von einigen der größten Reiche, die die Welt je gesehen hat, angegriffen: Das Ägypten der Pharaonen, Assyrien, Babylon, das Alexandrinische Reich, das Römische Reich, die mittelalterlichen Reiche des Christentums und des Islams bis hin zu den beiden großen Mächten des 20. Jahrhunderts – Nazideutschland und die Sowjetunion. Sie alle versuchten auf irgendeine Weise, die Juden oder das Judentum anzugreifen. Und jede von ihnen, die Supermacht der jeweiligen Zeit, ist in die Geschichtsbücher eingegangen, während unser kleines, verletzliches Volk immer noch aufstehen und sagen kann: Am Yisrael Chai – das jüdische Volk lebt.
Und doch ging unser Volk dreimal in der Geschichte ins Exil. Einmal in den Tagen von Josef und seinen Brüdern. Ein zweites Mal nach der Zerstörung des Ersten Tempels. Ein drittes Mal nach der römischen Zerstörung des Judentums.
Und alle drei Male aus demselben Grund: dem Grund, den die Tora über Josef und seine Brüder sagt - wajisnu oto – sie hassten ihn (1.Mose 37,4) – lo jachlu dabro leschalom – sie vermochten nicht, ihn im Frieden anzureden. Und genau das gleiche wie in den Tagen Josefs geschah in den Tagen von Bajit Rischon, des ersten Tempels, nach nur drei Königen in Israel, als sich das Reich in zwei Teile spaltete, und wie Abraham Lincoln es im Blick auf die heutigen Situation ausdrückte: Ein Haus, das mit sich selbst uneins ist, kann nicht bestehen.
In der Periode von Bajit Scheni, des zweiten Tempels, gab es Zeiten, so beschreibt es Josephus, in denen die Juden innerhalb der Mauern Jerusalems mehr darauf bedacht waren, sich gegenseitig zu bekämpfen als den Feind außerhalb. Das bedeutet, dass es nur ein Volk auf der Welt gibt, das die Zukunft des jüdischen Volkes bedrohen kann. Und das ist das jüdische Volk.
Wenn wir vereint sind, kann keine Macht der Welt uns besiegen...
Ein Bund des Schicksals
Wenn Haschem, der HERR, Am Jisrael, das jüdische Volk, erwählt und einen Bund mit uns schließt, hat er zwei Möglichkeiten, mit uns in Beziehung zu treten.
Der verstorbene Rabbiner Soloveitchik nannte sie die brit goral und die brit je'ud, den Bund des Schicksals und den Bund des Glaubens. Und das ist sehr wichtig, denn es bedeutet, dass wir nicht nur eine religiöse Gemeinschaft sind, mit all den Spaltungen, die es in religiösen Fragen gibt. Wir sind auch ein Volk, oder einfacher ausgedrückt, eine einzige Großfamilie. Und wir sind durch ein Band der Verantwortung verbunden, kol jisrael arewim se base (Schawuot 39a).
Wenn Juden und Jüdinnen – Gott bewahre – Schlimmes widerfährt, fühlen alle Juden den Schmerz. Wenn Juden und Jüdinnen Gutes widerfährt, fühlen alle Juden das Gefühl von Stolz und Freude. Auch wenn wir in Glaubensfragen gespalten sind, sind wir uns in Schicksalsfragen einig. Und das bedeutet, dass wir in den Angelegenheiten, in denen wir nicht uneinig sind, zusammenarbeiten müssen...
Einheit ohne Uniformität
Wir streiten uns. Wie bleiben wir dann vereint? Durch die schiere Kraft des Arguments selbst.
Wir sind zusammen, wir reden miteinander, wir sind uns uneinig, aber wir gehen niemals auseinander. Die Weisen prägten eine wunderschöne Idee. Sie nannten sie machloket leschem schamajim, Argument um des Himmels willen. Und der Talmud stellt es dramatisch dar. Da steht, Rabbi X sagt dies, Rabbi Y sagt das. Die Rabbinen fragten sich: Wer hat Recht? Und der Himmel antwortete: eilu we'eilu diwrei elohim chajim, beide sind Worte des lebendigen Gottes (Eruwin 13b). Gott hat Freude am Disput.
Deshalb sagt der Talmud auch: afilu aw u'beno, afilu raw we-talmido, wenn ein Vater und sein Sohn oder ein Rabbi und sein Schüler zusammensitzen, werden sie einander zu Feinden, wenn sie sich streiten. we'eino sasim mischam ad schne'asim ohawim se base, aber sie trennen sich nicht von dort, bis sie einander lieben. Warum? Weil et ahaw basofo, wenn man in der Auseinandersetzung bleibt, an deren Ende Liebe steht.
Mit anderen Worten: Das Judentum glaubt, der Streit selbst ist das gesamte Gespräch des jüdischen Volkes im Dialog mit Gott. Und so lange wir miteinander streiten können, ohne den Tisch zu verlassen, sondern gemeinsam nach der Wahrheit suchen, ist es das, was das jüdische Volk zusammenhält. Einigkeit ohne Uniformität. Die Bereitschaft, weiter zu reden, auch mit denen, mit denen wir nicht einverstanden sind.
Orot Hakodesch 3,324.
Die englische Transkription ist hier zu lesen: Jewish Unity: Three Reflections | Video | Rabbi Sacks | הרב זקס