ahavta+ || Vergiss nie, wo du herkommst!
Wie können wir wissen, wer wir sind, wenn wir die jüdische Geschichte nicht kennen?
Im 20. Jahrhundert gab es eine Darstellung der Geschichte Israels in biblischer Zeit, die den Maßstab setzte, an dem sich alle orientierten: die Geschichte Israels von Martin Noth, publiziert im Jahr 1950. Im letzten Paragraphen seines Werks schilderte Noth zunächst den ersten jüdischen Aufstand gegen Rom, der zur Zerstörung des Tempels führte. Er hob hier insbesondere den Verlust Jerusalems als eines kollektiven Mittelpunkts hervor und kommentierte emphatisch: „Damit hörte Israel zu bestehen auf, und die Geschichte Israels fand ihr Ende.“ (S. 400) Konsequenterweise konnte Noth in dem späteren gescheiterten Aufstand unter der Führung von Bar Kochba nur mehr „das schauerliche Nachspiel der Geschichte Israels“ (S. 406) sehen.
Als ich 1975 das Studium der „Evangelischen Theologie“ aufnahm, war diese mehr ideologische als historische Beurteilung Martin Noths selber an ihr Ende gekommen. Besonders der Heidelberger Alttestamentler Rolf Rendtorff hatte sich kritisch mit dessen Geschichtsbetrachtung auseinandergesetzt. Er war es auch, der mit zwei anderen Theologen 1978 das „Studium in Israel“ begründete, das mir dann im selben Jahr ein Jahr des Lernens an der Hebräischen Universität Jerusalem ermöglichte. Das Studienjahr war die in Praxis umgesetzte Erkenntnis, dass die Geschichte Israels und das Volk Israel gerade nicht zu bestehen aufgehört hatten, vielmehr die Wurzel des Christentums auch nach der Zerstörung Jerusalems und der Niederschlagung des Bar Kochba-Aufstands höchst lebendige Triebe und Zweige hervorbrachte, die zu eigenen mächtigen Ästen heranwuchsen. Diese Verzweigungen und deren einzelne Blätter als Christin und Christ kennenzulernen, heißt nichts anderes, als mehr über die eigene Wurzel zu erfahren.
„Vergiss nie, wo du herkommst!“ Heute leben wir in einer Zeit des Verfalls des Christentums im kirchlichen Leben. Wenn wir verhindern wollen, dass dessen Geschichte zu Ende geht und sie „ein schauerliches Nachspiel“ findet, wird dieser Satz immer wichtiger. Rabbiner Jonathan Sacks hat ihn in einer Auslegung zum aktuellen Wochenabschnitt Ekew der Tora als eine von drei „Regeln“ formuliert, deren Beachtung das Scheitern einer Kultur bzw. Zivilisation zu verhindern vermögen. Seine Betrachtung gebe ich dir in deutscher Übersetzung weiter.
Wie sehr der Blick auf die Geschichte Israels der Epoche nach dem zweiten jüdischen Krieg gegen die Römer noch immer von der Vorstellung von einem „Ende“ geprägt ist, kann man in Kapernaum sehen. Reisende, die dorthin kommen, interessieren sich – freilich naturgemäß – vor allem für die Geschichte des Ortes im 1. Jahrhundert zu der Zeit, in der Jesus von Nazaret sich dort bevorzugt aufhielt. Sie betreten dabei jedoch eine der prächtigsten Synagogen aus dem 4./5. Jahrhundert, ohne sich darüber zu verwundern, wie es 400 Jahre nach Jesus zu einer solchen Blüte des Judentums am See Genezaret gekommen ist. Immerhin stellt die Synagoge doch in Frage, dass in der Folge des Bar Kochba-Aufstands die jüdische Bevölkerung gründlich und unwiderruflich ausgerottet worden ist.
Jacob Sivak, Professor im Ruhestand an der kanadischen Universität von Waterloo, beendet seinen Überblick über „Vergessene jüdische Aufstände“ im Land Israel, in welchem er aufzeigt, dass „das jüdische Volk nicht 2.000 Jahre lang aus dem Heiligen Land verschwand“, mit den Sätzen:
Leider ist die reiche Geschichte des jüdischen Lebens im Heiligen Land vielen Juden und Nicht-Juden gleichermaßen unbekannt. Wie können wir Juden wissen, wer wir sind und woher wir kommen, wenn wir unsere eigene Geschichte nicht kennen?
In diese Frage Sivaks sollten sich auch Christen hineinnehmen!
Nur 10 km und einen Fußweg von 2,5 Stunden von Kapernaum entfernt, lag der bereits in Josua 19,34 erwähnte Ort Chukok. Dort vorgenommene Ausgrabungen haben Erstaunliches über die jüdische Einwohnerschaft zwischen Bar Kochba und dem 5. Jahrhundert ans Licht gebracht. Möchtest du einiges davon mit mir anschauen?
Schabbat Schalom und einen guten Sonntag wünscht dir
dein Ricklef Münnich
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