Von Esau zum verlorenen Sohn
Warum ähnelt der „verlorene Sohn“ der Begegnung von Jakob und Esau? Eine Analyse der verborgenen Linien zwischen Genesis, Lukas und der Apostelgeschichte.
Das Neue Testament erschließt sich in seiner ganzen Tiefe erst dann, wenn man es als einen Resonanzraum der Tora begreift. Es spricht nicht aus sich selbst heraus, sondern fungiert als ein Echo, ein lebendiger Widerhall der Weisung. Im Wochenabschnitt Wajischlach (1. Mose 32,4–36,43) findet sich ein Motiv, das im Neuen Testament auf faszinierende Weise wiederkehrt – auch wenn seine Bedeutung auf den ersten Blick verborgen bleiben mag.
Die Umarmung der Versöhnung
In Kapitel 33, werden wir Zeugen einer dramatischen Versöhnung: Jakob trifft auf seinen Bruder Esau. Die Tora beschreibt diese Szene in Vers 4 mit eindringlichen Worten:
Esau lief ihm entgegen, umarmte ihn und fiel ihm um den Hals; er küsste ihn und sie weinten.
Diese emotionale Choreografie der Vergebung findet sich fast wortgleich im Lukasevangelium wieder. In der Erzählung, die wir gemeinhin als das „Gleichnis vom verlorenen Sohn“ kennen (Lukas 15,11–32), beschreibt Lukas die Rückkehr des Sohnes aus der Fremde. Als der Vater ihn von weitem sieht, regt sich in ihm tiefes Mitleid. Lukas schreibt:
„Er lief dem Sohn entgegen, fiel ihm um den Hals und küsste ihn.“
Hier greift der Evangelist bewusst auf die griechische Terminologie der Septuaginta-Übersetzung von Genesis 33,4 zurück. Diese Übereinstimmung ist zu auffällig, um zufällig zu sein. Sie ist ein Schlüssel zum tieferen Verständnis des Textes.
Der Kontext bei Lukas: Ein Triptychon der Verlorenen
Um die Tragweite dieses Echos zu erfassen, müssen wir den Kontext bei Lukas betrachten. Die Geschichte vom verlorenen Sohn ist exklusives Sondergut dieses Evangelisten und nimmt daher eine herausragende Stellung ein. Lukas platziert sie strategisch in einem Kapitel, das mit einer brisanten sozialen Situation beginnt: Zöllner und Sünder suchen die Nähe Jesu, um ihn zu hören, während die Pharisäer und Schriftgelehrten murren und anklagen: „Dieser nimmt Sünder auf und isst mit ihnen“ (Lukas 15,1-2).
Als Antwort auf dieses Murren erzählt Jesus drei Geschichten. Die ersten beiden – das verlorene Schaf und die verlorene Drachme – sind klassische Gleichnisse. Ein Gleichnis, im Hebräischen ein Maschal, besteht typischerweise aus einer Bildebene und einer anschließenden Deutung. Bei den ersten beiden Erzählungen ist dieses Muster klar erkennbar: Ein Mann verlässt 99 Schafe, um das eine verlorene zu suchen; eine Frau sucht ihre verlorene Münze. In beiden Fällen folgt die explizite theologische Übertragung: So herrscht im Himmel mehr Freude über einen Sünder, der umkehrt, als über 99 Gerechte. Das Wiederfinden des Verlorenen auf der Erde korrespondiert direkt mit der Freude im Himmel.
Vom Maschal zum Ma’assé: Eine Genre-Verschiebung
Die dritte Erzählung bricht jedoch mit diesem Schema. Zwar wird die Geschichte vom verlorenen Sohn oft als Gleichnis (Maschal) gelesen – wobei der Vater für Gott, der verlorene Sohn für den sündigen Israeliten und der ältere Sohn für den toratreuen Schriftgelehrten stünde –, doch fehlt hier die explizite Übertragung auf eine Sachhälfte. Zudem ist die Erzählung für ein gewöhnliches Gleichnis ungewöhnlich komplex und lang.
Vielmehr haben wir es hier mit einer anderen literarischen Gattung zu tun: der Beispielerzählung, im Rabbinischen als Ma’assé bekannt. Ein Ma’assé berichtet von einem konkreten, realistischen Vorfall. Er benötigt keine metaphorische Auflösung, da die Geschichte selbst die Botschaft ist. In der rabbinischen Literatur dient ein solcher Bericht oft dazu, eine ethische Anweisung oder eine Halacha (eine religiöse Handlungsnorm) zu begründen. Er fungiert als Präzedenzfall.
Betrachten wir die Geschichte unter diesem Aspekt, lösen sich die Figuren von ihren starren allegorischen Zuschreibungen. Es geht nicht primär darum, wer wen symbolisiert, sondern darum, wie eine Ethik gemäß der Tora in der Praxis aussieht. Der Vater in dieser Erzählung nimmt die Haltung Esaus ein: Er vergibt dem Rückkehrer, der Schuld auf sich geladen hat, und führt die Familie wieder zusammen – genau wie Esau, der durch seine Nachsicht die verfeindeten Lager Jakobs und Esaus wieder vereinte.
Dieser Ma’assé etabliert somit einen ethischen Maßstab: Gnade und Vergebung stehen über der eigentlich angemessenen Gerechtigkeit. Jesus demonstriert genau dieses Handeln, indem er Gemeinschaft mit Zöllnern und Sündern pflegt. Der Präzedenzfall findet nun seine Anwendung in der Apostelgeschichte.
Die Anwendung der neuen Halacha in der Apostelgeschichte
Es ist faszinierend zu beobachten, wie Lukas diesen ethischen Faden in seinem zweiten Werk, der Apostelgeschichte, weiterspinnt. Die im Evangelium etablierte Ethik wird hier zu einer neuen Halacha für die junge Gemeinde ausgeformt. Der Fokus weitet sich dabei von den „Zöllnern und Sündern“ in Israel hin zu den Menschen aus den Völkern, die traditionell per se als Sünder galten, da sie ohne Tora lebten.
In Apostelgeschichte 11 begegnen wir demselben Konfliktmuster wie im Evangelium. Petrus sieht sich einem identischen Vorwurf ausgesetzt: „Du bist zu unbeschnittenen Männern gegangen und hast mit ihnen gegessen“ (Apg 11,3). Er hatte den römischen Hauptmann Cornelius besucht und damit jene Regel übertreten, die den Umgang mit nichtjüdischen Fremden untersagte. Doch Petrus berichtet, wie Gott selbst ihm durch eine Vision und die Gabe des Geistes an Cornelius bestätigt hat, dass dies Sein Wille ist.
Hier schließt sich der Kreis zum verlorenen Sohn. Petrus und die Gemeinde vollziehen in der Apostelgeschichte genau das nach, was der Vater in der Beispielerzählung vorlebte. Das Argument des Vaters – „Dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden; er war verloren und ist gefunden worden“ – wird nun auf das Verhältnis von Juden und Nichtjuden übertragen. So heißt es in 11,18:
Als sie (die Ausgesandten und die anderen) das hörten, beruhigten sie sich, priesen Gott und sagten: Gott hat also auch den Nichtjuden die Umkehr zum Leben geschenkt.
Der nichtjüdische Teil der Menschheit, einst als „tot“ und „verloren“ betrachtet, wird lebendig und gefunden. Er wird in die Familie aufgenommen, so wie Esau Jakob wieder annahm. Die große Menschheitsfamilie findet nach Lukas in der messianischen Gemeinde, in der Juden und Nichtjuden vereint sind, ihre Zusammenführung und ihr Ziel.
Esau und Jakob: Kuss oder Biss?
Abschließend ist es aufschlussreich, einen Blick darauf zu werfen, wie die rabbinische Tradition jenen entscheidenden Vers aus 1. Mose 33,4 verarbeitet hat: „Da lief ihm Esau entgegen und umarmte ihn, warf sich an seinen Hals und küsste ihn und sie weinten.“
Das Schriftbild der Tora hält an dieser Stelle eine Besonderheit bereit, auf die sowohl der Midrasch als auch der klassische Kommentator Raschi hinweisen: Über den Buchstaben des hebräischen Wortes für „er küsste ihn“ befinden sich Punkte. In der jüdischen Auslegungstradition ist dies stets ein Signal, innezuhalten – die Weisen der Masora setzten solche Markierungen, um die Aufmerksamkeit auf eine verborgene Bedeutung zu lenken. Doch wie ist dieses Signal zu deuten?
Hier entbrennt eine Debatte. Schimon ben Elasar liest die Punkte als Zeichen der Authentizität: Sie lehren uns, dass Esau in jenem Moment tatsächlich von Erbarmen überwältigt war und seinen Bruder von ganzem Herzen küsste. Rabbi Janai hingegen widerspricht vehement. Wenn dem so wäre, warum dann die Markierung? Für ihn deuten die Punkte darauf hin, dass Esau nicht kam, um zu küssen, sondern um zu beißen. Nur durch ein Wunder, so der Midrasch, verwandelte sich Jakobs Hals in Marmor, sodass die Zähne des Angreifers stumpf wurden. Der Kommentator Rabbeinu Bachja fasst diese skeptische Lesart aus dem Midrasch Bereschit Rabba 78,9 prägnant zusammen: „Die Punkte sind eine Warnung; sie zeigen uns, dass dieser Kuss nicht von Herzen kam.“
Diese harte Auslegung spiegelt die schmerzhafte historische Erfahrung Israels wider. Esau, der in der Tradition auch Edom genannt wird, steht typologisch später für Rom und schließlich für das Christentum.
Während Lukas in der Apostelgeschichte das Motiv der Versöhnung zwischen Israel und den Völkern stark macht, bewahrt die rabbinische Überlieferung ein tiefes Misstrauen gegenüber der scheinbaren Zuneigung der Völkerwelt – ein Misstrauen, das geschichtlich nur allzu oft begründet war.
Dennoch gab es Momente der Hoffnung. Im 19. Jahrhundert erhoben sich jüdische Stimmen, die eine neue Offenheit gegenüber der nichtjüdischen Welt wagten. Der Kommentar Haamek Dawar bemerkt zu dem Ausdruck „sie weinten“, dass in diesem Augenblick auch in Jakob die Liebe zu Esau erwachte. Die Logik ist bestechend:
„Wenn die Nachkommen Esaus die Größe Israels wahrhaftig anerkennen, wird Israel dies mit Brüderlichkeit erwidern.“
Besonders eindrücklich formuliert dies Rabbiner Samson Raphael Hirsch. Er argumentiert psychologisch: „Zwar kann man einen Kuss heucheln, aber Tränen, die in solchen Augenblicken ausbrechen, nicht. Tränen sind Tropfen aus dem Innersten der menschlichen Seele.“ Für Hirsch lassen diese Tränen erkennen, dass auch in Esau ein Nachkomme Abrahams steckt. Esau kann nicht nur der wilde Jäger sein, denn wie hätte er sonst zu einem der Beherrscher der menschlichen Zivilisation werden können? Bloße Gewalt reicht dafür nicht aus. Hirsch sieht in der Begegnung einen Prozess: Esau legt das Schwert nach und nach aus der Hand und gibt der Humanität Raum. Jakob (=Israel) wird dabei zum Katalysator für diese Menschlichkeit. „Erst wenn der Starke, wie hier Esau, dem Schwachen um den Hals fällt und das Schwert der Gewalt weithin von sich wirft“, so Hirsch, „erst dann zeigt sich, dass Recht und Menschlichkeit in ihm zum Siege kommen.“
Freilich müssen wir aus heutiger Sicht ernüchtert feststellen: Im 20. und 21. Jahrhundert ist dieses Prinzip der Humanität in der Völkerwelt gegenüber Israel nicht in dem Maße zum Durchbruch gekommen, wie Hirsch es erhofft hatte. Das wahre Einlösen von Recht und Menschlichkeit im Verhältnis zum jüdischen Volk bleibt eine Bringschuld, die von Seiten der Kirchen und der Völker erst noch zu leisten ist.


