Walter Rothschild || Der Kindermörder
Ein Berliner Bus, ein Fremder, ein Vorwurf: »Kindermörder!« – und eine Mütze als Tatwaffe. Eine alltägliche Fahrt kippt ins Absurde und zeigt den Hass hinter vermeintlicher Moral.
Der Kindermörder – das bin ich!
Auch ich war nicht wenig erstaunt, von meiner neuen Identität zu erfahren. Doch vielleicht sollte ich zunächst das Wie und das Warum erläutern.
Ich saß in einem Linienbus – einem ziemlich vollen Bus übrigens, einer M19, falls es jemandem etwas sagt – gegen ein Uhr mittags, fuhr den Ku’damm entlang, auf dem Heimweg nach dem Einkaufen. Plötzlich beugte sich ein großer Mann, um die Dreißig, keiner jener Menschen »mit Migrationshintergrund«, sondern ein waschechter Deutscher, in weißem Sommerhemd, über mich, und fragte mit recht lauter Stimme:
»Wissen Sie, dass Deutschland keine Waffen mehr an Israel verkaufen wird?«
Das war zwar eine leichte Vereinfachung der tatsächlichen Lage – und doch, ja: ich erwiderte, ich hätte es gelesen. Die Entscheidung war kaum eine Stunde zuvor verkündet worden, stand nun aber bereits in den verschiedenen Nachrichtenportalen. Offenbar hatte sie viele überrascht – für einige war sie Grund zur Erleichterung oder gar zur Freude, für andere ein Anlass zur Bestürzung. Doch seit wann, fragte ich mich, haben wir eigentlich Einfluss auf das, was unsere Führer sagen und tun?
Er ließ nicht locker: »Sind Sie ein Zionist?«
Nun, ich trug weder Uniformen der IDF, noch war ich in eine israelische Fahne gehüllt. Schwarzes Jackett, schwarze Hose, Stoffmütze, dazu eine gelbe Schleife für die Geiseln am Revers – so saß ich dort. Aber er hatte mich offenbar bereits als einen der Un‑Auserwählten ausgemacht.
»Ja, selbstverständlich«, sagte ich – und senkte meinen Blick.
Ich wollte ihn nicht weiter ermuntern. Schon bevor er ein weiteres Wort sprach, war völlig klar, wohin dieses Gespräch führen würde. In die eine Richtung nämlich, und nur in diese. Wir befanden uns schließlich in aller Öffentlichkeit, was mir den Eindruck unmittelbarer Bedrohung etwas nahm.
Doch er war nicht aufzuhalten. Er war übervoll von erregter Wut, beinahe orgasmisch vor aufgestautem Hass, und dieser musste nun aus ihm heraus – über mich.
»Sie sind ein Kindermörder!«, schrie er. »Ein Kindermörder!«
Wie voller Genugtuung er war, wie glücklich, in mir endlich jemanden gefunden zu haben, auf den er diese Rage ergießen konnte. Jemanden, auf den sich alle Ungerechtigkeiten der Welt – nein, lassen Sie mich korrigieren: eine ganz bestimmte Ungerechtigkeit (falls sie denn überhaupt so besteht) – projizieren ließen. Alle anderen Leiden, alle anderen Missstände auf dieser Erde zählten für einen Menschen wie ihn nicht, vermutlich, weil sich darin weder direkt noch indirekt Juden als Schuldige ausmachen ließen.
Ich entgegnete, ich wünschte nicht, in einem öffentlichen Omnibus ein Gespräch zu beginnen. Doch das hielt ihn nicht auf – ein Gespräch, ein Dialog, gar eine Debatte lag ohnehin nicht in seiner Absicht. Was er wollte, war, mir seine glühend heiße Wut ins Gesicht zu schleudern – die ihm von unseren großartigen Medien eingeflößt worden war, Medien, die zwar in Freiheit arbeiten, aber, wie es scheint, ohne jede Verantwortung.
Die Freiheit der Presse hat sich verwandelt in eine Freiheit zur Unterdrückung, oder eine Freiheit zur Verhetzung, oder eine Freiheit, Druck auszuüben – für jedes Anliegen, das gerade en vogue ist. Man kann es kaum »investigativen Journalismus« nennen, wenn Meldungen und PR-Videos lediglich unkritisch nachgebetet werden – doch dies scheint derzeit das vorherrschende Muster.
Wir erreichten die nächste Haltestelle – Uhlandstraße. Die Tür öffnete sich. Und in einem einzigen raschen Moment riss er mir die Mütze vom Kopf, sprang hinaus und rannte davon.
Der große Held! Ein Maulheld, der seine Solidarität mit den unschuldigen Kindern in Gaza dadurch zum Ausdruck gebracht hatte, dass er auf einem Berliner Bus die Kopfbedeckung eines jüdischen Mannes mittleren Alters stahl (hier schmeichle ich mir ein wenig).
Er hatte einen Schlag für den Weltfrieden geführt. Er hatte es auf sich genommen, einen »selbstzufriedenen Täter abscheulichster Greuel« zu bestrafen. Er war im öffentlichen Nahverkehr der Euphorie unterwegs.
Meine Einkäufe in der Hand, konnte ich ihm lediglich ein Wort hinterherrufen – eines, das ich hier nicht niederschreiben werde, und dessen konkrete Form ich der Phantasie der Leser überlasse.
Da er in derselben Richtung davonlief, in die sich auch der Bus bewegte, konnte ich schließlich nicht ihn selbst sehen, sondern nur die Mütze, die ein paar Meter weiter auf dem Gehweg lag.
Mit einem Schulterzucken nahm ich mir vor, an der nächsten Haltestelle auszusteigen und zurückzugehen, um sie wiederzuholen – und so geschah es.
Einige Fahrgäste blickten etwas fassungslos; es war da ein Murmeln, das wohl Mitgefühl andeuten sollte. Doch mir war nicht nach Konversation – einzig sagte ich: »Es hätte schlimmer kommen können – er hätte mich schlagen können.« Und in der Tat, so hätte es kommen können.
Ich wollte lediglich zurück zu jenem Punkt, an dem meine Mütze noch lag. Zum Glück war mein Kopf nicht in ihr, und es regnete nicht. Wenige Minuten später hatte ich sie wieder entdeckt, aufgehoben, leicht ausgeschüttelt – und dorthin zurückgebracht, wo sie hingehörte.
Auch Kindermörder müssen in der Öffentlichkeit einigermaßen adrett wirken. Wir haben schließlich ein Image zu wahren.
Nun sitze ich hier, vielleicht drei Stunden nach diesem Vorfall, und frage mich, wo er jetzt wohl ist – und was er denkt, was er fühlt, was er tut.
Prahlt er gerade in irgendeiner Kneipe gegenüber einem Freund damit, wie er »so einem von diesen Kindermördern mal ordentlich gegeben« habe?
Wünscht er sich nun, er hätte mich doch geschlagen?
Tänzelt er irgendwo den Gehweg entlang, vor sich hin summend?
Oder sitzt er schon in einem anderen Bus, auf der Suche nach einem neuen Opfer für seine Anklagen?
Ich habe bisher noch niemanden ermordet – jedenfalls nicht, soweit mir bekannt. Weder Erwachsener noch Kind. Es ist schließlich eines der Zehn Gebote, das auch in dem Tora-Abschnitt dieser Woche zitiert wird.
Doch zuweilen frage ich mich, ob ich diese lebenslange Gewohnheit nicht doch einmal brechen sollte – wenn Menschen, die selbst eine Art Gottes-Mord begehen, indem sie jeden Begriff von Gerechtigkeit verneinen, die Wahrheit auf den Kopf stellen, ehe sie sie enthaupten, und die dann auch noch zur Selbstjustiz in dschihadistischer Manier greifen…
Ja, so etwas verleiht einer ansonsten recht unspektakulären Busfahrt zweifelsohne einen besonderen Beigeschmack.
Rabbiner Dr. Walter Rothschild
10. August 2025
Es ist furchtbar und beschämend, dass so etwas wieder in Deutschland zunehmend vorkommt. Respekt, dass Sie so ruhig und besonnen reagiert haben, dass Sie diesen Vollidioten haben ins Leere laufen lassen. Ich hätte mir gewünscht, dass die anderen Fahrgäste Zivilcourage gezeigt hätten und Ihnen beigestanden hätten. Aber davon sind wir wohl weit entfernt.
Das zugrundeliegende Problem sehe ich aber in den Mainstream-Medien, allen voran der „Tagesschau“. Die pseudolinke grün-woke Journalisten-Bagage ist zu einer unabhängigen und ausgewogenen Berichterstattung leider nicht mehr fähig. Investigativer Journalismus findet nicht mehr statt. Seit der Corona-Pandemie wurde die Meinungsfreiheit zunehmend unterdrückt (Umsetzung des Digital Services Act in Deutschland). „Betreutes Denken“ hat Einzug gehalten. Wer dem aktuellen Regierungsmainstream widerspricht, erlebt „Cancel Culture“ pur (Ist mir auch so ergangen, als ich mich gegen mRNA-Impfungen kritisch geäußert habe). Wohlbemerkt, ich bin für kritischen Journalismus, aber er muss Hintergründe aufzeigen und ausgewogen sein. Das gilt auch für die anderen Krisenherde: Ukraine, Syrien, Flüchtlingsströme uvm.
Auch ich sehe es durchaus kritisch, was da in Israel und Gaza passiert: Ich halte es für unverhältnismäßig, wenn über 50.000 Menschen im Gazastreifen sterben, und nein, - ich habe keinen Tipp für Netanjahu, wie er das Problem anders lösen kann. Ich sehe auch das abscheuliche Verbrechen der Hamas, die Geiselnahme und frage auch, warum die Hamas nicht im Sinne ihrer Leute handelt und kapituliert. Und ja, ich sehe, dass Israels Existenz immer noch bedroht ist und das Deutschland an der Seite Israels als verlässlicher Partner, ja Freund stehen muss.
Man kann darüber diskutieren, ohne Hass und Verblendung. Das hat auch Walter Rothschild bewiesen bei unserem letzten Treffen in Donndorf.
Und wenn man sich dann auf diese (durchaus jüdische dialektische) Diskussionskultur besinnt, dann kommt man unweigerlich zu dem Schluss:
„Was kann eine Anna Netrebko dafür, dass Putin in die Ukraine einmarschiert ist? Und was kann ein Walter Rothschild dafür, dass immer noch Krieg ist in Israel?“
Ich bete dafür, dass sich so etwas nicht noch einmal wiederholt, und dass womöglich ein Islamist sich berufen fühlt, Juden anzugreifen.
Auch wenn wir zurzeit in Deutschland viele dunkle Wolken sehen (wirtschaftlich, moralisch, innen- wie außenpolitisch), wir dürfen nicht resignieren, wir müssen den Weg der kleinen Schritte gehen und standhaft bleiben: privat in Familie und Freundeskreis wie auch öffentlich.
Viele Grüße Karsten Karad
Hab ich bis 2018 auch mehrfach erlebt, meist gefolgt von Beleidigungen, angespuckt, Mobbing und auch einige Male der Versuchung mich dafür zu verprügeln. Obwohl ich meine Kippa unter einem Fedora-Hut trug. 2018 war ich dann nach Israel geflüchtet und zum ersten Mal fühlte ich mich ausreichend geschützt und Zuhause.
Versuche mich zu verprügeln endete für den Aggressor nie gut. Bin seit 40 Jahren aktiver Karateka und weiß mich sehr gut zu wehren.