ahavta+ || Werner Sylten. Märtyrer der Kirche durch die Kirche
„Man hat mich ausgeschlossen aus Volk und Arbeit, Ehre und Beruf.“ „Ich bin schon tot, wiewohl ich dieser Erde noch kurze Zeit verhaftet bin.“
Du erhältst heute die erste Ausgabe des Sonntagsmagazins ahavta+ im neuen Jahr.
2024 ist ein Schaltjahr und hat einen zusätzlichen Tag. Es wird von einem parallelen Schaltjahr – oder, wie es auf Hebräisch heißt, einem „schwangeren Jahr“, schana me’uberet – im jüdischen Kalender begleitet, in dem 5784 einen zusätzlichen Monat haben wird. Das Zusammentreffen eines christlichen und eines jüdischen Schaltjahres ist zwar nicht so selten, aber auch nicht so häufig. Es wird erst wieder im Jahr 2052 passieren, also in sieben Schaltjahren und vierzehn „schwangeren Jahren“ von jetzt an.
Auf das „schwangere Jahr“ hatte Rabbiner Andrew Steiman bereits am Freitag gegen Ende unseres Gesprächs zum Wochenabschnitt Schemot hingewiesen. Jetzt erklärt Philologus, von dem das Eingangszitat stammt, den Mitgliedern von ahavta - Begegnungen, was es damit und mit der Entwicklung des jüdischen Kalenders von der Zeitenwende bis heute auf sich hat. Ein ausgesprochen lehrreicher wie kurzweiliger Artikel, den ich zu lesen dir empfehle.
Zuvor jedoch lade ich dich ein zum Toralerntag der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland. Er findet am 24. Januar 2024 in Halle (Saale) mit einem jüdischen und einem evangelischen Vortragenden zur biblischen Urgeschichte statt. Im Rahmen dieses Studientages wird mir der „Werner-Sylten-Preis“ der EKM für christlich-jüdischen Dialog verliehen werden. Über diese Auszeichnung meiner Arbeit, auch hier bei ahavta - Begegnungen, freue ich mich außerordentlich, war diese Landeskirche bzw. eine ihrer zwei Vorgängerinnen, die Ev.-Luth. Kirche in Thüringen, doch von 1992 bis 2021 meine Wirkungsstätte als Pfarrer.
Die lutherische Landeskirche mit Sitz in Eisenach ist in der Zeit des Nationalsozialismus in vielfacher Weise schuldig geworden. Auch an ihrem Pfarrer Werner Sylten, der am 12. August 1942 vergast worden ist. Ein Zeichen der Umkehr aus diesem lange verdrängten Versagen ist der seit 2017 vergebene Werner-Sylten-Preis. Den Namensgeber möchte ich in Erinnerung bringen.
Erschreckend für mich ist, wie im Raum der Kirchen noch immer eine erstaunliche Resistenz gegenüber einem durch Umkehr erneuerten Verhältnis zu Israel und dem jüdischen Volk zu beobachten ist. Ungeachtet der geradezu gebetsmühlenartig wiederholten (und damit entwerteten) Rede vom „Existenzrecht Israels“ hofft eine renommierte Theologin und Publizistin in einem Beitrag vom 4. Januar auf das Verschwinden des Staates Israel, um „wahrhaftig das Gelobte Land“ entstehen zu lassen. Ich lade dich ein, meinen Grusel zu teilen.
Für das Jahr 2024 wünsche ich dir allerdings bessere Erfahrungen und für Israel eine Beständigkeit ins 77. Lebensjahr hinein, die in der Welt mehr Unterstützer findet.
Dein Ricklef Münnich
PS: Zur aktuellen Situation Israels im Krieg gegen den Terror von Hamas veröffentliche ich tägliche Beiträge in der WhatsApp-Gruppe „Israel at War – Daily Updates“, der du beitreten kannst.
Eine missratene „Analyse zum Nahostkonflikt“
Mir ist rätselhaft, warum jeder Publizist, der etwas von sich selbst hält, meint, etwas zum Staat Israel und zur Situation der Palästinenser absondern zu müssen – erst recht seit dem 7. Oktober 2023 mit den unsagbaren Gräueltaten der Hamas und von Einwohnern des Gaza-Streifens an israelischen Frauen, Männern und Kindern. Johanna Haberer war bis zu ihrer Pensionierung 2022 Professorin an der Universität Erlangen-Nürnberg und ist Mitherausgeberin der Berliner Wochenzeitung „Die Kirche“. Für das Nachrichtenportal evangelische-zeitung.de verfasste sie in der vergangenen Woche ihre Analyse zum aktuellen Nahostkonflikt, die Israelis wie Palästinenser als von ihren Regierungen „verratene Völker“ darstellt.
In ihrem ersten Satz gesteht Haberer sich ein, „über den Gaza-Krieg zu schreiben“ sei ein „Balanceakt“. Mit dem zweiten bereits stürzt sie ab, indem sie fragt, wie man „diesen Landstrich zwischen Ägypten, dem Libanon, Jordanien und Syrien“ nenne? Welchen Sinn macht es, die folgenden Bezeichnungen als Antwortalternativen geschichtslos nebeneinander zu stellen: „Israel? Palästina? Westjordanland? Juda und Samaria? Besetzte Gebiete?“
Doch die Zielrichtung des Beitrages ist damit ins Auge gefasst. Sie liegt dort, wo nach Johanna Haberer Israelis und Palästinenser – beide behandelt sie ungeachtet der Verbrechen und Massaker des 7. Oktober (kein Wort des Mitgefühls in ihrem Beitrag dazu) gleichwertig – die von ihren jeweiligen extremistischen und korrupten Führern und Regierungen aufgezwungene Situation verlassen und sich als verratene Völker in einem neuen gemeinsamen Staat vereinen.
Des dazu erforderlichen Umfangs wegen nehme ich hier Abstand, Haberers „Analyse“ des zweifachen Verrats in ihren demagogischen, irreführenden und tendenziösen Beschreibungen in das von der Geschichte gebotene richtige Licht zu rücken.
Die Peinlichkeit hingegen, mit der Haberer die Rolle der „Christen im Heiligen Land“ darstellt, soll hier nicht übergangen werden. Nicht neu ist die ebenfalls von Haberer vorgenommene Positionierung der Christen „zwischen allen Stühlen“, obwohl ich endlich einmal gerne eine Begründung für diese Behauptung gelesen hätte. Denn sie ist eine Floskel, die durch Wiederholung nicht wahrer wird.
Wer sitzt auf den Stühlen links und rechts von den „Christen im Heiligen Land“, Juden und Muslime, oder Israelis und Palästinenser? Ohne Differenzierung ist die Aussage sinnlos. Die nicht-israelischen Christen im Staat Israel, etwa die Benediktiner auf dem Zionsberg, haben einen geschützten eigenen Status, der ihnen alle Freiheit gibt. Die arabischen Christen im Staat haben dieselben Rechte und Pflichten (mit wenigen Ausnahmen, wie den Militärdienst) wie jeder Israeli. Und die palästinensischen Christen in den Autonomiegebieten (in Gaza sind nur noch wenige übrig geblieben) leben nicht zwischen Stühlen, sondern im Dhimmi-Status, der ihnen der Islam zubilligt.
Dieser Dhimmi-Status bedeutet „Gewährung von Lebensrecht und Aktionsradius für Nicht-Muslime in muslimischer Mehrheitsgesellschaft im Gegenzug für offensiv-apologetische Lobby-Arbeit für diese Mehrheitsgesellschaft unter größtmöglicher Ausnutzung aller nicht-muslimischen Informations-Kanäle.“1 Und der bekannteste protestantische Pfarrer, Pfarrer Prof. Dr. Mitri Raheb in Betlehem, erfüllte und erfüllt diese Erwartungen so gut, dass er von Mahmoud Abbas kürzlich „als Gründer und Präsident der Dar al-Kalima Universität mit dem Bethlehem-Stern des Ordens von Bethlehem ausgezeichnet wurde. Damit wird seine Rolle bei der Verbreitung der palästinensischen Geschichte und deren Förderung in internationalen Foren sowie sein Einsatz für die Schaffung von Räumen für Kultur, Kunst und Kreativität in Palästina gewürdigt.“2 Also ein dekorierter (Lehr-)Stuhl…
Zurück zu Johanna Haberer. Ihre zweite Definition der Christen im Heiligen Land: Sie „sind in der Regel Pazifisten“. Das leitet die Verfasserin daraus ab, dass sie „die Gewalt von jüdischer und muslimischer Seite“ fürchten. Der behauptete Pazifismus der Christen bringt Haberer dazu, „ihre Position (als) die einzige mit Zukunft“ zu proklamieren. „Pazifist zu sein und an Kompromissen zu arbeiten in Israel und Palästina“, reicht aus für Haberer, um die Christen im Heiligen Land unmittelbar mit derselben Haltung Jesu in der Bergpredigt in Verbindung zu setzen.
Diese indirekte Seligsprechung bedeutet, dass man sich (nur?) bei der evangelischen Gemeinde „ein ungefähres Bild der Lage aus erster Hand“ machen kann. Es folgt der abschließende Spitzensatz:
Wenn es bloß gelänge all diese von ihren Regierungen verratenen Völker in einen säkularen demokratischen Staat zu vereinen und all die Begabungen und Visionen für dieses Land zusammenzuwerfen, Israel/Palästina könnte wahrhaftig das Gelobte Land werden – allerdings ohne den Missbrauch der Religion.
Ein Gelobtes Land nach christlich-pazifistischem Vorbild, aber ohne einen Staat Israel bzw. „vereint“ mit den Mördern seiner Bürgerinnen und Bürger (die Mordtaten wurden, wie wir inzwischen wissen, auch aus der Mitte des „verratenen Volkes“ der Gazaner heraus begangen), die weiteren Mordplänen abzuschwören gar nicht vorhaben (bis jetzt)…
Sage nicht, die frühere Leiterin der Abteilung Christliche Publizistik an einer deutschen Universität wüsste nicht, was sie schreibt!
Ich sage: Johanna Haberer sinniert mit kirchlicher Überheblichkeit und empfundener christlicher Überlegenheit über das Ende des jüdischen Staates. Das Ergebnis ist Israel- und Judenfeindschaft pur, akademisch verbrämt.
Wir schützen jüdisches Leben
Aus einer Mitteilung der Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz:
In Deutschland lebende Jüdinnen und Juden berichteten vermehrt von antisemitischen Vorfällen im Alltag und müssen um ihre Sicherheit fürchten. Erschüttert darüber, dass Antisemitismus in unserer Gesellschaft wieder so laut wird, hat die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO) Materialien produziert, um ihre Solidarität mit den Jüdinnen und Juden in Deutschland weiter sichtbar zu machen.
Gilt die proklamierte Solidarität und der Schutz jüdischen Lebens auch für Israel?
Toralerntag zur Urgeschichte
Noch bis Mittwoch kannst du dich per E-Mail anmelden zum „Toralerntag“ der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland am 24. Januar 2024 in der Evangelisch-Reformierten Domgemeinde Halle (Saale). Aus der Einladung:
Die Genesis, das Eingangsportal der Bibel, ist Thema der kommenden ökumenischen Bibelwoche und damit auch Thema des Tora-Lerntages 2024. Rabbiner Daniel Fabian und Prof. Benjamin Ziemer werden mit uns in Vorträgen und Workshops Aspekte der sogenannten Urgeschichte in den Blick nehmen. Ein weiterer Workshop fragt nach der visionären Kraft der Paradieserzählung im Angesicht einer bedrohten Schöpfung.
Das vollständige Programm findest du zum Download hier. Die eingangs erwähnte Preisverleihung ist um 12.30 Uhr.
Werner Sylten
Werner Sylten3 wurde 1893 als Sohn deutscher Eltern in Hergiswyl (Schweiz) geboren. Sein Vater, aus einer jüdischen Familie aus Königsberg in Ostpreußen stammend, war vor der Heirat mit einer Protestantin vom jüdischen zum christlichen Glauben übergetreten. Er studierte evangelische Theologie und leistete im Ersten Weltkrieg als Freiwilliger Kriegsdienst. Werner Sylten wurde von der liberalen Theologie geprägt und entwickelte ein hohes soziales Bewusstsein. Dazu trugen auch ein Zusatzstudium in Sozialpädagogik und seine Tätigkeiten im Vikariat in der hannoverschen Landeskirche bei. 1925 wurde er Leiter des „Thüringer Frauenasyls“ in Bad Köstritz, das er als „Mädchenheim“ mit fortschrittlichen pädagogischen Methoden modernisierte.
Mit einem 7-tägigen kostenlosen Probeabonnement weiterlesen
Abonnieren Sie ahavta - Begegnungen, um diesen Post weiterzulesen und Sie erhalten 7 Tage kostenlosen Zugang zum gesamten Post-Archiv.