ahavta+ || Anfang und Erneuerung
An Simchat Tora, gefeiert am vergangenen Dienstag, wurde der letzte Abschnitt der Tora, WeSot HaBracha וזאת הברכה „Und dies ist der Segen“, 5. Mose 33–34, gelesen und zugleich wieder begonnen mit der ersten Parascha Bereschit בראשית „Am Anfang“ in 1. Mose 1,1–6,8.
Eine Übersicht aller Wochenabschnitte der Tora mit den zugehörigen Haftarot, den Lesungen aus den prophetischen Büchern der Bibel kannst du dir als Mitglied von ahavta+ hier herunterladen:
Aufgelistet nach ihrer Reihenfolge mit Namen und Haftara
Kalender für das Jahr 5783
Solltest du noch keinen jüdischen Kalender für das neue Jahr, das an Rosch HaSchana begonnen hat, besitzen, so ist die erste Wahl der traditionelle JNF-KKL Kalender. Der Jüdische Nationalfonds nennt ihn einen „unentbehrlichen Begleiter“. Für eine Spende von 18 EUR kannst du ihn dir bestellen:
Der beliebte JNF-KKL Taschenkalender Luach für das aktuelle Jahr 5783. Von September 2022 bis Dezember 2023 immer auf dem Laufenden sein!
Zum Download stelle ich Dir zwei Kalender als PDF-Datei vor. Aus dem Landesverband der jüdischen Gemeinden in Magdeburg, Halle und Dessau kommt ein Monatskalender, der Einblicke in die Geschichte des Landesverbandes sowie ehemaliger jüdischer Gemeinden auf dem Gebiet des heutigen Sachsen-Anhalt gibt:
Der Landesverband der Jüdischen Gemeinde in Hessen veröffentlichte einen Monatskalender mit sehr schönen Fotos und Impulsen aus und zur Tora:
So spricht der HErr, der Schöpfer des Himmels, er, der Gott, der die Erde gebildet und sie gemacht hat, er gründet sie fest — nicht als Irrsal hat er sie erschaffen, vielmehr dass man auf ihr wohne, hat er sie gebildet: Ich bin der HErr und keiner sonst. (Jesaja 45,18)
Es ist vielmehr der Mensch, der dafür sorgt, dass sich Menschen auf der Erde unbehaust fühlen. Zu einem Fall, der unter Juden viele Gespräche auslöst, hat jetzt Christoph Schulte, apl. Professor für Jüdische Studien und Philosophie an der Universität Potsdam, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung einen wichtigen Beitrag geschrieben (siehe auch ahavta+ #116 vom 8. Mai 2022). Du kannst ihn bei ahavta+ downloaden:
Dieser Frage möchte ich mich am kommenden Sonntag annähern. Dazu ist es gut, dass du dir das wichtige Wort zum Schabbat, das Kantor Amnon Seelig gestern bei ahavta - Begegnungen gesprochen hat, anhörst. Denn dort erläutert er die Kommentierung des ersten Verses der Tora durch Raschi.
Auch lade ich dich ein, hier nochmals meinen Beitrag in ahavta+ #75 vom 24. Oktober 2021 zu lesen:
Mit dem Buchstaben Bet beginnt in 1.Mose 1,1 die Tora. Be-reschit bara elohim et ha-schamajim we-et ha-arez. Auf Hebräisch fängt die Tora also mit dem 2. Buchstaben des Alfabets an, nicht mit einem Alef.
Da Hebräisch von rechts nach links geschrieben wird und der Buchstabe Bet nach drei Seiten geschlossen und nur in Leserichtung offen ist, lässt sich sagen: Das A bleibt Geheimnis. Von dem erzählt der Text nicht. Die Bibel beginnt mit B. Was vor dem Bet, vor dem Anfang, vor reschit liegt, ist uns verschlossen. Es macht eigentlich keinen Sinn, hinter den Anfang zurück fragen und forschen zu wollen. Was nicht bedeutet, dass es vor dem Anfang nichts gab…
Im Anfang war das Wort
So beginnt das Johannes-Evangelium und nimmt damit ausdrücklich Bezug auf 1.Mose 1,1. Was bedeutet dieser Bezug?
Be-reschit setzt sich aus zwei Komponenten zusammen: בְּ be = im und רֵאשִׁית reschit = Anfang. Zusammengenommen kann bereschitalso mit „am Anfang“ oder „im Anfang“ übersetzt werden. Ebenso gut möglich ist jedoch auch die Übersetzung „durch einen Anfang schuf Gott“: Die Schöpfung beginnt da, wo Gott einen Anfang setzt.
Oder wir übersetzen „mit reschit“ oder „durch reschit“ schuf Gott Himmel und Erde. Der Midrasch macht das tatsächlich so. Und er schaut dabei auf die Verse Sprüche 8,22–30:
Der HErr hat mich schon gehabt im Anfang seiner Wege, ehe er etwas schuf, von Anbeginn her. Ich bin eingesetzt von Ewigkeit her, im Anfang, ehe die Erde war. Als die Meere noch nicht waren, ward ich geboren, als die Quellen noch nicht waren, die von Wasser fließen. Ehe denn die Berge eingesenkt waren, vor den Hügeln ward ich geboren, als er die Erde noch nicht gemacht hatte noch die Fluren darauf noch die Schollen des Erdbodens. Als er die Himmel bereitete, war ich da, als er den Kreis zog über den Fluten der Tiefe, als er die Wolken droben mächtig machte, als er stark machte die Quellen der Tiefe, als er dem Meer seine Grenze setzte und den Wassern, dass sie nicht überschreiten seinen Befehl; als er die Grundfesten der Erde legte, da war ich als sein Liebling bei ihm; ich war seine Lust täglich und spielte vor ihm allezeit.
Wer hier spricht, ist die personifizierte Weisheit, die von den Rabbinen generell mit der Tora gleichgesetzt wird. Sie beschreibt ihr Da-Sein noch bevor alles andere zur Existenz kam.
Der Midrasch überträgt nun das reschit aus Sprüche 8,22 in der Bedeutung von „Weisheit“ und „Tora“ auf 1.Mose 1,1. Damit kann er lesen: „Mit Weisheit = mit der Tora schuf Gott Himmel und Erde“.
Von hier aus erschließt sich Johannes 1,1 relativ leicht: „Im Anfang war das Wort“. Und wenn man den göttlichen logos, das Wort, als Wort der Tora interpretiert, dann bedeutet Johannes 1,14: „Das Wort ward Fleisch = Mensch“: Christus ist die Fleisch = Mensch gewordene Tora.
Vor zwei Jahren hat der bedeutende amerikanische Rabbiner Irving „Yitz“ Greenberg (übrigens der Lehrer des dir vom Wort zum Schabbat bekannten Rabbiner Jehoschua Ahrens) eine Auslegung zum Wochenabschnitt Bereschit geschrieben, die mir so gut gefällt, dass ich sie dir einfach weitergeben muss (als Übersetzung aus dem englischen Original). Greenberg beginnt seine Betrachtung ebenfalls mit Raschis berühmten Kommentar zu 1. Mose 1,1.
Raschi schlägt bekanntlich vor, dass, wenn die Tora in erster Linie ein Buch der Gesetze ist – schließlich enthält sie Hunderte von Gesetzen –, dann sollten die Fünf Bücher Mose mit dem ersten Gesetz beginnen, das dem ganzen Volk Israel gegeben wurde (Exodus 12:1-2 „Dieser Monat [Nissan] ist der erste der Monate des Jahres…“, d.h. das Gebot für die Gerichte, die Monate des Jahres und die Daten der Feiertage zu bestimmen). Aber diesem Vers gehen 62 andere Kapitel voraus! Und nach Raschis Logik, wenn die Tora in erster Linie die Geschichte des jüdischen Volkes ist (auf die sie sich die meiste Zeit konzentriert), dann sollte der Text mit der Geschichte Abrahams, des ersten Juden, beginnen. Dies geschieht im elften Kapitel der Genesis, V. 26 ff.
Was will uns die Tora also über ihre Hauptbotschaft sagen, wenn sie mit der Schöpfungsgeschichte beginnt? Warum beginnt die Tora mit dem allerersten Augenblick der Existenz der ganzen Welt? Was bedeutet die Idee der Schöpfung für uns?
Die Tora präsentiert sich als das Buch des menschlichen Schicksals. Sie bietet eine Offenbarung über den Sinn des Daseins und einen Leitfaden für die Mission der Menschheit, diese Welt zu verbessern. Kapitel 1 der Genesis berichtet uns nicht über die tatsächlichen Fakten der Schöpfung. Aus der modernen Physik wissen wir, dass es einen Prozess gibt, der vom Chaos des Urknalls über Strahlung zu Materie und der Entstehung von Ordnung durch Galaxien, Sterne und Planeten führt. Das idyllische Bild, das die Tora in Kapitel 1 zeichnet, zeigt nicht, wie die Erde am Anfang aussieht, sondern wie der Planet aussehen wird, wenn die Schöpfung abgeschlossen ist und dieser Globus in ein Paradies verwandelt wird.
Indem sie sich auf den Anfang der Welt konzentriert, will die Tora die gesamte Menschheit erreichen. Zu Beginn stellt sie die Idee der Schöpfung selbst vor. Dieser Gedanke ist eine der einflussreichsten jüdischen Lehren in der Weltzivilisation gewesen. Schöpfung bedeutet, dass diese Welt nicht das Ergebnis eines blinden und zufälligen physikalischen Prozesses ist, der keine Werte oder Ziele hat und in der Vergessenheit enden wird. Vielmehr hat sie ein beabsichtigtes Ergebnis. „Sie wurde nicht geschaffen, um leer zu sein; sie wurde ins Leben gerufen, um mit Leben erfüllt zu werden“ (Jesaja 45,18).
Schöpfung bedeutet, dass es einen gestaltenden Schöpfer gibt, ein unendliches Bewusstsein, das jeden einzelnen der unendlich vielen Sterne kennt (Psalm 147,4) und jedes einzelne Geschöpf Gottes liebt (Psalm 145,9). Dieser Schöpfer wird in Kapitel 1 als Elohim bezeichnet, was auf eine hochintensive, unbegrenzte Energiekraft hinweist, die in der Lage ist, ein unendliches Universum zu schaffen und zu erhalten. Trotz der unglaublichen Vielfalt und der widersprüchlichen Kräfte in der Natur gibt es nur einen Gott oder eine universelle Kraft. Die gesamte Realität ist vereinheitlicht und wird von einem universellen natürlichen Prozess gesteuert. Diese jüdische Lehre von der Einheit der Schöpfung hat das religiöse Verständnis und das wissenschaftliche Denken tiefgreifend geprägt.
Indem sie uns anweist, die Welt als eine Schöpfung des ultimativen Künstlers, des Schöpfers, zu sehen, leitet die Tora die Menschen an, sich dem Leben und der Existenz wie einem Kunstwerk zu nähern. Wir sollten nicht beiläufig oder routinemäßig hinschauen. Wir sollten nach Mustern der Schönheit und nach Verbindungen suchen, die den Blick bereichern. Wir werden Nebeneinanderstellungen entdecken, die Dimensionen der Tiefe hinzufügen, die das Auge - und die Seele - verzaubern. Wenn wir die Welt als ein geschaffenes Kunstwerk betrachten, erforschen wir instinktiv: Was ist die Botschaft des Künstlers an uns? Was hat die Künstlerin gesehen, wofür sie uns die Augen öffnen will?
Durch die Linse der Schöpfung nähern wir uns der Welt mit Staunen und suchen den „Wow!“-Faktor in jeder Kreatur und in jedem Menschen, dem wir begegnen. Abraham Joschua Heschel schrieb über das radikale Erstaunen bei der Begegnung mit der göttlichen Gegenwart. Mit anderen Worten: Religion, Gebet - ja alle menschlichen Erfahrungen und Beziehungen - werden nicht durch Logik und Beweise maximiert. Sie sollten aus der emotionalen Begegnung und der Offenheit für das Leben in all seinen Dimensionen erwachsen.
Es gibt noch eine weitere Bedeutung der Schöpfung. Diese Welt ist gut (1. Mose 1,31). Dieses sterbliche Leben ist real - keine Illusion, wie einige andere Religionen meinen. Dieses Leben zu leben und diese Welt zu reparieren ist ein äußerst lohnendes Ziel für die Menschen. Der Mensch ist von Gott dazu berufen, diese Schöpfung zu bearbeiten und zu bewahren (1. Mose 2,15).
Das Schöpfungskonzept lehrt uns auch, dass die physische Existenz zwar real ist, aber nur die Spitze des Eisbergs darstellt. Die Begegnung mit dem Schöpfer/Gott lässt uns erkennen, dass es wichtige Dimensionen der Existenz gibt, die nicht messbar oder anfassbar sind - und doch genauso real und wichtig sind wie das Sichtbare. Das gesamte Innenleben des Menschen - Liebe, Emotionen, Beziehungen, Vorstellungskraft, Kreativität - wird validiert. Sie existieren auf einer der verschiedenen Ebenen des Seins, die in die Schöpfung eingebaut sind. Im Laufe der Geschichte verlagert sich die Begegnung mit Gott von der äußeren in die innere Sphäre. In unserer Zeit lernen wir den Herrn durch Intuition, Emotionen, Beziehungen und durch das Ausloten der Tiefen der Wirklichkeit kennen, um der unsichtbaren Gottheit zu begegnen. Wenn wir auf diese Ebene vordringen, begegnen wir dem Herrn, in dem das Bild Gottes verwurzelt ist und der in der Tiefendimension des Lebens gegenwärtig ist.
Schließlich lenkt die Schöpfungserzählung der Tora unsere Aufmerksamkeit auf drei Rhythmen, die der Herr in das sich entfaltende Universum eingebettet hat. In der Sprache der Tora bewegt sich die Welt erstens vom Chaos (tohu wa-wohu) zur Ordnung (Schabbat), wo alles vollendet und an seinem Platz ist, ohne widerstreitende Naturkräfte oder Konflikte zwischen den Geschöpfen. Zweitens geht die Welt vom Nicht-Leben zum Leben über (an jedem der ersten vier Tage gibt es kein Leben, außer der Vegetation am dritten Tag; am fünften und sechsten Tag explodiert das Leben). Schließlich entwickelt sich das Leben von weniger entwickelten Formen zu viel reicheren, leistungsfähigeren und höher entwickelten Formen – von der Vegetation am dritten Tag (einer begrenzten, unbeweglichen Form des Lebens) über die Fische des Meeres am fünften Tag bis hin zu den Vögeln und schließlich zum Menschen, der so weit entwickelt und leistungsfähig ist, dass er Gott ähnelt („Du hast ihn nur wenig weniger als ein göttliches Wesen gemacht“, Psalm 8,6). In Kapitel 1 wird diese dritte Bewegung als eine Entwicklung von weniger zu mehr Gottähnlichkeit definiert, die im Menschen gipfelt, der so weit entwickelt ist, dass er „das Ebenbild Gottes“ ist (Genesis 1,27).
Die begrenzte Lebensspanne des Menschen verdunkelt diese Wahrheiten. Wir denken, dass wir uns vom Leben zum Tod bewegen, von der Geburt bis zum Ende des Lebens. In unserem Alltag nehmen wir unseren Terminkalender und unsere Schreibtische so wahr, als würden wir von der anfänglichen Ordnung zum wachsenden Chaos übergehen. Der Schöpfungsbericht der Tora fordert uns auf, das Leben und die Welt aus der göttlichen Perspektive zu betrachten. Kosmisch gesehen hat sich die Welt vom totalen Chaos des Urknalls zu geordneten Galaxien, Sternen und Planeten entwickelt. Aus der göttlichen Perspektive betrachtet, haben wir uns auf diesem Planeten in 14 Milliarden Jahren vom Nichtleben zum Leben entwickelt. In mehr als 1 Milliarde Jahren kam es dann zu einem Fluss und einer Explosion des Lebens in all seinen Formen. Der Schöpfungsbericht erzählt uns dies, damit wir die Welt sub specie aeternitatis, aus dem Blickwinkel des Unendlichen, sehen können. Die Tora leitet uns an, die drei Rhythmen der Schöpfung zu erkennen und uns ihnen anzuschließen. Wir Menschen sollten unser Leben auf der Seite der (lebenserhaltenden) Ordnung im Gegensatz zum Chaos leben. In all unseren Verhaltensweisen sollten wir uns dafür entscheiden, Leben zu schaffen und zu erhalten, und nicht für Nicht-Leben und Tod. Schließlich sollten wir durch die Entfaltung des Lebenspotenzials – angefangen bei unserem eigenen – die Lebensqualität in der Welt erhöhen, insbesondere die der Menschen, die nach dem Bild Gottes geschaffen wurden. Indem wir das tun, lehrt uns die Tora, dass wir Partner der Schöpfung werden.