ahavta+ || auf dem Weg zu 5783
Das jüdische Jahr beginnt wie jeder der zwölf Monate mit dem Neumond, erklärt der Thüringer Landesrabbiner Alexander Nachama in einem Gespräch mit mir, das wir während des Corona-Lockdowns in der Erfurter Synagoge aufgezeichnet hatten.
Zwölf Mondmonate ergeben 354 Tage. Daher muss etwa alle drei Jahre ein Schaltmonat eingefügt werden.
Da man früher von Jerusalem aus den neuen Monat beobachtet und ausgerufen hatte und dies dann in die Diaspora gemeldet wurde, werden die Feiertage außerhalb des Landes Israel „sicherheitshalber“ zwei Tage lang gefeiert.
Die Tonfolgen Tekia – Schwarim – Trua – Tekia Gedola, die im Monat Elul morgens als „Weckruf“ zu Umkehr und Reue vor Rosch HaSchana erklingen, kannst du jetzt auch online, nicht nur im Download, hören. Das Schofar bläst Ephraim Blunk.
Bei der 11. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Karlsruhe verabschiedeten die Delegierten am 8. September die Erklärung „Auf der Suche nach Gerechtigkeit und Frieden für alle im Nahen Osten“. Diese liegt bislang nur in englischer Sprache vor („Seeking Justice and Peace for All in the Middle East“). Ich habe für dich jedoch eine vorläufige Arbeitsübersetzung gefertigt, die du hier downloaden kannst.
Von der völlig einseitigen Schlagseite des ÖRK im Blick auf seine bisherigen Äußerungen zu Israel und Palästina schrieb ich in meinem Mitgliederbrief ahavta+ vor zwei Wochen. Dies hat sich leider nicht geändert. Auf jüdischer Seite nannte Rabbiner Jehoschua B. Ahrens am Donnerstag in der Jüdischen Allgemeinen die jetzige Erklärung „ein grauenhaftes Dokument“ – und Ahrens gehört sonst zu den Juden, die ausgesprochen viel Dialogbereitschaft und Verständnis für die christliche Seite zeigt.
An dieser Stelle kann ich nicht auf die gesamte Erklärung eingehen, sondern möchte beispielhaft einige Punkte benennen, die die Einschätzung von Rabbiner Ahrens nur unterstreichen.
Der Erklärung sind zwei Bibelverse vorangestellt. Aus dem Prophetenbuch Jeremia im Alten Testament „Friede, Friede“, sagen sie, aber da ist kein Friede (6,14) und aus dem Neuen Testament das Wort Jesu Seid getrost, ich bin's; fürchtet euch nicht. (Matthäus 14,27). Der erste Vers hat das Volk Israel im Blick, dem von Gott Unheil angedroht wird, weil es soziale Ungerechtigkeit und Lüge in seiner Mitte gibt. Der zweite tröstet die Jünger Jesu im Sturm auf dem See Genezaret. Angedrohter Verlust des Landes für die Israel, die Nähe Gottes in der Gestalt Jesu für die, die ihm folgen – damit ist die Kluft bereits aufgerissen, bevor die Erklärung beginnt.
„Der Ökumenische Rat der Kirchen (ÖRK) betrachtet die Region des Nahen Ostens als den Ort der historischen Ursprünge unseres Glaubens, wo Jesus Christus geboren, gekreuzigt und auferstanden ist.“ So die ersten Worte der Erklärung. Das mögen die Christen im ÖRK so betrachten, das Neue Testament sagt jedoch, dass Jesus im judäischen Betlehem, der Stadt Davids, geboren wurde und im judäischen Jerusalem gekreuzigt worden ist. Ich denke, wenn der Anfang schon so ungenau und falsch ist, kann es in der Folge nicht mehr besser werden.
Die Christen des Nahen Ostens leben „in der ungebrochenen Linie eines treuen christlichen Zeugnisses in den multireligiösen Kontexten ihrer Länder“. Die ungebrochene Linie nimmt die häufig begegnende palästinensische Erzählung auf, die eine zeitlich nie unterbrochene Präsenz der Christen im Heiligen Land behauptet – im Unterschied zu den Juden, die erst seit dem 19. Jahrhundert ins palästinensische Land eindrangen. Das „treue christliche Zeugnis“ legt gleich zu Beginn fest, was dann geradezu litaneiartig wiederholt wird, nämlich das Unrechtshandeln Israels an den Palästinensern, während ein solches der Palästinenser verschwiegen wird.
Wenn die Erklärung dann von der „Bedrohung der Zukunft der einheimischen Christen und aller Menschen im Nahen Osten“ schreibt, dann geht es im Folgenden, abgesehen von kurzen summarischen Erwähnungen anderer arabischer Staaten doch ausschließlich um Israel, beginnend mit „In Palästina/Israel gibt es eine weitere Welle von Zwangsvertreibungen palästinensischer Menschen aus ihren Häusern“.
Von Israel wird mehrheitlich nur gesprochen als „Palästina/Israel“ oder „Israel/Palästina“. Das zeigt, dass der Satz „Wir bekräftigen den rechtmäßigen Platz des Staates Israel in der Gemeinschaft der Nationen“ nur ein Lippenbekenntnis ist. Was heute Israel heißt, ist doch zugleich nach Überzeugung der Erklärung eigentlich Palästina.
Die Erklärung wiederholt stereotyp die historisch falschen Aussagen früherer kirchlicher Dokumente von den „besetzten palästinensischen Gebieten“ und der „Besatzung“.
Vor drei Wochen schrieb ich über die NGOs, die enge Beziehungen zur terroristischen PFLP unterhalten. Die Erklärung sieht demgegenüber nur die „jüngste Unterdrückung mehrerer palästinensischer Menschenrechtsorganisationen durch die israelischen Behörden“.
Die „weltweite ökumenische Gemeinschaft der Kirchen“ wird aufgerufen, „eine umfassende Lösung für Palästina/Israel“ zu beraten, die „im Gegensatz zu den derzeitigen Systemen der Kontrolle, Ausgrenzung und Diskriminierung“ steht. Welch ungeheure Anmaßung der Kirchen! Sie wollen eine Lösung für den demokratischen und freiheitlichen Staat Israel entwickeln?
„(D)ie Politik und das Vorgehen Israels als "Apartheid" im Sinne des Völkerrechts“ zu bezeichnen, vermeidet die Erklärung zwar, betont jedoch, dass „einige Kirchen und Delegierte nachdrücklich die Verwendung dieses Begriffs“ unterstützen, „da er die Realität der Menschen in Palästina/Israel und die völkerrechtliche Lage zutreffend beschreibt“. Die anderen „halten“ ihn nur „für unangemessen, wenig hilfreich und schmerzhaft“.
Was Jesus zu dieser völlig einseitigen, verkehrten und falschen Erklärung sagen würde? Meine Überzeugung ist: „Ihr blinden Führer, die ihr Mücken aussiebt, aber Kamele verschluckt!“ (Matthäus 23,24) Der Ökumenische Rat der Kirchen und die beteiligten Kirchen, zu denen auch die deutschen Kirchenvertreter gehören, haben sich letztlich selbst ihr Urteil gesprochen.
Ich bin als Jude geboren. Ich trage den Namen meines Großvaters väterlicherseits, Aaron. Christ geworden durch den Glauben und die Taufe, bin ich doch Jude geblieben, wie es auch die Apostel geblieben sind. Meine heiligen Patrone sind der Hohepriester Aron, der heilige Apostel Johannes, die heilige Maria voll der Gnade. Von Seiner Heiligkeit Papst Johannes Paul II. zum 139. Erzbischof von Paris ernannt, wurde ich am 27. Februar 1981 in dieser Kathedrale inthronisiert und habe meinen gesamten Dienst hier verrichtet. Wer hier vorbeigeht, möge für mich beten.
Jean-Marie Lustiger, bis 2005 Erzbischof von Paris, verfasste selbst diesen Text der Gedenktafel in der Kathedrale Notre-Dame vor seinem Tod nach langem Krebsleiden im 81. Lebensjahr am 5. August 2007.
Aaron Lustiger war ein Sohn polnischer Juden, die Anfang des 20. Jahrhunderts nach Frankreich emigriert waren. Während der deutschen Besetzung Frankreichs im Zweiten Weltkrieg wurden seine Eltern deportiert, seine Mutter wurde 1943 im KZ Auschwitz-Birkenau umgebracht. Lustiger überlebte, da er von einer Familie in Orléans aufgenommen wurde. Dort konvertierte er zum Christentum und wurde am 25. August 1940 in der Kapelle der Bischofsresidenz getauft. Nach Theologie- und Philosophiestudium wurde er am 17. April 1954 zum Priester geweiht.
Anders als andere Geistliche war er nicht allein wegen seiner jüdischen Herkunft. Er raucht viel und fährt Moped, seine Predigten sind energisch und modern. Als eine katholische Zeitung seine jüdische Herkunft betont, provoziert er einen Skandal, als er behauptet, er habe mit der Konvertierung zum Katholizismus dem Judentum keinesfalls abgeschworen. Gegenüber dem Journalisten sagte er, er sei eine lebende Provokation, die viele dazu zwinge, das Wesen Christi zu ergründen. Lustiger setzte sich zeitlebens für die Verständigung zwischen Christen und Juden ein.
Als Lustiger Johannes Paul II. trifft, ist er beeindruckt von dessen Persönlichkeit und Visionen. Die beiden Männer haben eine ähnliche Weltsicht und ein ähnliches Verständnis von Kirche. Der Papst ernennt ihn später zu seinem Berater.
Vor der Feier seines Begräbnisses in der Kathedrale wurde gemäß seinem letzten Willen Erde aus Israel auf sein Grab gestreut. Anschließend rezitierten zwei jüdische Mitglieder seiner Familie Psalm 113 auf Hebräisch sowie das Kaddisch, das jüdische Totengebet. Dies symbolisierte seine Hoffnung, Judentum und Christentum „Seite an Seite“, wie er sagte, verwurzelt im selben Glauben an den einzigen Gott und in der Hoffnung auf das Kommen des Messias vereint zu sehen.
Der Regisseur Ilan Duran Cohen drehte 2013 den Film Le Métis de Dieu (Der jüdische Kardinal) mit Laurent Lucas in der Rolle Jean-Marie Lustigers. Arte zeigt den Film jetzt in seiner Mediathek. Absolut sehenswert!