ahavta - begegnungen zum Tod von Henry Brandt
So nannte Bundespräsident Horst Köhler den am 7. Februar verstorbenen Rabbiner Henry G. Brandt 2008 bei dessen Auszeichnung mit dem Verdienstkreuz Erster Klasse der Bundesrepublik Deutschland. Denn er vereinige in seiner Person
intime Kenntnis des hiesigen kulturellen Umfelds und große Weltläufigkeit, Freude an der Vermittlung der alltäglichen Glaubenspraxis und Lust an akademischer Gelehrsamkeit, selbstbewusste Pflege der spirituellen Reichtümer des Judentums und einladende Offenheit gegenüber dem nichtjüdischen Umfeld.
Der Bundespräsident zitierte Brandt dabei mit den Worten:
Ich lebe gern in meinem Volke Israel und bewundere den neben mir wachsenden Baum des Christentums. Hätte man die Dinge vor und während zweitausend Jahren so gesehen, wäre uns die blutige und tragische Geschichte unserer bisherigen Beziehungen erspart geblieben.
Für das Gedeihen der beiden Bäume Kirche und jüdisches Volk im Neben- und Miteinander unserer Zeit hat Henry Brandt sehr viel beigetragen. In einem erstmals so ausführlichen Interview erzählte der Rabbiner 2018 im Bildungskanal ARD alpha von seinen zahlreichen Leben: dem Kindheitstraum, Straßenbahnfahrer in München zu werden, seinem Einsatz als Hagana-Kämpfer beim Werden des Staates Israel, seinem Leben als Marktanalyst bei Ford in England und schließlich seiner Berufung zum Rabbiner.
ARD alpha strahlt den 45-Minuten-Beitrag heute Abend um 21:45 Uhr erneut aus. Online kannst du ihn hier anschauen:
Als Leser, Zuschauer oder Hörer der Angebote von ahavta - Begegnungen wirst du nicht zu den 46% der Befragten gehören, die sagen, „Bin noch nicht in Berührung gekommen“. Angesichts der kleinen Zahl von Juden in Deutschland sind es jedoch immerhin 16,6 Prozent, die „jüdische Freunde und Bekannte“ haben, und 17,9 Prozent haben schon „eine Synagoge besucht“.
Eher enttäuschend ist die geringe Zahl von 2,9% der Befragten, die „durch das Festjahr 1700 Jahre Jüdisches Leben“ in Deutschland mit diesem in Berührung kamen. Und das angesichts des auch finanziell doch erheblichen Aufwands!
Diese und weitere interessante Zahlen – heruntergebrochen bis auf die einzelnen Landkreise und politische Zuordnungen – findest du in den Ergebnissen einer Umfrage von CIVEY:
Civey ist der neue Standard für digitale Marktdaten in Echtzeit.
Wie sehr vermutlich die öffentliche mediale Berichterstattung einen Einfluss auf die Assoziationen zu jüdischem Leben hat, zeigt dieses Antwortspektrum:
Dass Juden in Deutschland am ehesten mit dem Staat Israel und dem Nahostkonflikt in Verbindung gebracht werden, erinnert an die einst an Ignatz Bubis gerichteten Worte der Frankfurter Oberbürgermeisterin Petra Roth. Sie hatte dem deutschem Staatsbürger im Zusammenhang mit dem Friedensprozess „in Ihrem Lande“ alles Gute gewünscht.
Der damalige Vorsitzende des Zentralrates der Juden in Deutschland Bubis sagte 1994 in einem Interview:
Nach Umfragen kennt fast die Hälfte aller Deutschen keinen Juden, weiß nichts über Judentum. Vielen Deutschen kommt überhaupt nicht in den Sinn, dass ein Jude deutscher Staatsbürger sein kann.
Da drängt sich die Frage auf, wieviel sich in den vergangenen 30 Jahren geändert hat…
Fragt Sascha Lobo in einer klugen Kolumne im SPIEGEL. Schon seit dem Sechs-Tage-Krieg 1967 gibt es den vermeintlich gerechtfertigten Antizionismus als
Schafsfell, das der Wolf Judenhass zur Tarnung verwendet. Es gibt das geflügelte Wort »Israel ist der Jude unter den Staaten«, man muss nicht lange suchen, um zu begreifen, was gemeint ist. Die Uno-Vollversammlung hat 2020 genau 23 Resolutionen zur Verurteilung verschiedener Länder verabschiedet. 17 davon waren gegen Israel gerichtet, die restliche Welt – Syrien, Myanmar, Nordkorea, Iran und so fort – muss sich mit zusammengerechnet sechs Verurteilungen begnügen. Das ist nicht nur grotesk, es ist auch purer Antisemitismus.
Nun aber sei „eine neue, perfide Variante des Judenhasses hinzugekommen: woker Antisemitismus“. „Woke“ steht seit kurzem im DUDEN. Der Begriff bedeutet laut Wörterbuch „in hohem Maß politisch wach und engagiert gegen (insbesondere rassistische, sexistische, soziale) Diskriminierung“. Sascha Lobo:
Wokeness ist angesichts von strukturellem Rassismus, Frauenhass, Behindertenfeindlichkeit und Homo- sowie Transphobie richtig und eine linke und linksbürgerliche Position – die aber bei überraschend vielen Leuten nicht für Juden und Jüdinnen gilt.
Als Beispiel nennt er den in der vergangenen Woche veröffentlichten Bericht von Amnesty International, in dem Israel der „Apartheid“ im gesamten Gebiet zwischen Mittelmeer und Jordan bezichtigt wird (siehe dazu die jüngste Mitgliederinformation von ahavta+, die du abonnieren kannst).
Natürlich gibt es in Israel wie in allen andern Ländern Rassismus. Aber das macht Israel ebensowenig zu einem Apartheid-Staat wie Deutschland, Großbritannien oder Uruguay. Israel als »Apartheid-Staat« zu bezeichnen, ist antisemitisch und nicht antirassistisch, antikolonial oder sonstwie woke.
Sascha Lobos Resümee: „Schade, schade, aber bis auf Weiteres gilt für mich: Wer für Amnesty International spendet, fördert auch die antisemitische Sache. Die Rest-Wokeness ist dann auch egal.“
Seit etlichen Jahren schon bildet das deutsche Standard-Wörterbuch nicht mehr einfach die deutsche Sprache ab, sondern hilft mit, sie sehr woke zu verändern. Da kann es dann schon mal – wie auch beim grassierenden „Gendern“ – passieren, dass man übers Ziel hinausschießt (ein hübsches Beispiel, wie man beim „Gendern“ stolpern kann, gab im vergangenen Jahr Annalena Baerbock bei Anne Will).
Birgit Kelle schreibt in der Züricher WELTWOCHE zum Eintrag „Jude“ im DUDEN:
Gerade nimmt man sich bei den Dud*innen diskrimierungsvorbeugend das jüdische Volk vor mit der sprachlichen Empfehlung, Juden nicht mehr als solche zu bezeichnen, sondern durch Begriffe wie «jüdische Menschen, Mitbürgerinnen und Mitbürger oder Menschen jüdischen Glaubens» zu ersetzen, weil die Bezeichnung Jude und Jüdin «wegen der Erinnerung an den nationalsozialistischen Sprachgebrauch» gelegentlich als diskriminierend empfunden werde.
So beginnt Birgit Kelle ihren Beitrag in der Züricher WELTWOCHE und ist ratlos:
Es wird ein Geheimnis des Dudens bleiben, warum ein Jude zudem umständlich umschrieben ein «Angehöriger eines semitischen Volkes, einer religiös beziehungsweise ethnisch zusammengehörenden, in fast allen Ländern der Erde vertretenen Gemeinschaft» sein muss, während der Muslim dort schlicht ein «Anhänger des Islams» ist und der Christ ein «Anhänger des Christentums» sein darf.
Zentralratspräsident Josef Schuster betonte natürlich umgehend: „Das Wort ‚Jude‘ ist für mich weder ein Schimpfwort noch diskriminierend.“
Fakt ist: Mit dieser Empfehlung, die wir den «Bösewicht*innen» der Redaktion in dubio pro reo als gutgemeint unterstellen wollen, wird die historische Vernichtung der Juden damit nicht etwa sensibel umschifft, sondern sprachlich gar wiederholt. Während man also an anderer Stelle wie etwa bei Geschlecht jede sexuelle Spielart neuerdings einzeln aufzählen muss, damit jeder in der Sprache «sichtbar» wird, betreibt man hier eine Löschung des Wortes «Jude» aus dem Sprachgebrauch.