ahavta+ || Die jüdischste Jahreszeit der Kirche
„Wir hoffen auf dich, Ewiger, unser Gott, zu schauen bald die Herrlichkeit deiner Macht, dass die Gräuel von der Erde schwinden“. (Aus dem „Alenu“ im jüdischen Morgengebet)
Heute ist der zweite Adventssonntag. Die jedes Jahr in den Kirchen gesungenen Lieder klingen anders in diesem Jahr. Bittender und dringlicher. Denn sie singen immer wieder vom Volk Gottes. Und es sind nicht zuletzt die prophetischen Lesungen aus dem Alten Testament in den Gottesdiensten, die die Christengemeinde erinnern, dass Israel das Volk Gottes ist, aus dem der Erlöser kommt, dessen Ankunft jetzt verkündigt wird.
Das Lied 15 im Evangelischen Gesangbuch beginnt unter Aufnahme von Jesaja 40:
„Tröstet, tröstet“, spricht der Herr, „mein Volk, dass es nicht zage mehr.“
Israel aber hat seit dem 7. Oktober, der Invasion der Hamas in das Territorium des Staates Israel mit dem Massaker an vielen Hundert Jüdinnen und Juden, allen Grund, zu zagen und sich zu sorgen.
Darum verbindet sich die Bitte der Christen mit derjenigen von jüdischen Betern, etwa in der oben zitierten Zeile aus dem Alenu-Gebet, wenn sie in der letzten Strophe des genannten Liedes singen:
Hebe deine Stimme, sprich mit Macht, dass niemand fürchte sich.
Die Hoffnung, dass Gott sich zeigt und handelt, macht die Adventszeit zur vielleicht jüdischsten im Kirchenjahr.
Bald feiert ihr die Geburt des Juden Jesus in Betlehem, der Stadt Davids, aber leugnet, dass auch vor 1948 Juden im Land lebten. Möglicherweise war es dieser in manchen Varianten jetzt in den „sozialen Medien“ verbreitete Spruch gegen die vielen, die das Heilige Land als palästinensisches Land sehen wollen, der Rabbiner Walter Rothschild angeregt hat, die Geburtsgeschichte des Evangeliums nach Lukas mit der Realität in Israel zu verknüpfen. Seine aus Zorn und Enttäuschung gespeiste bittere Geschichte erscheint exklusiv für ahavta+.
Schalom für Israel und einen guten Adventssonntag wünscht
dein Ricklef Münnich
Hier leiden wir die größte Not
Friedrich Spee hat 1622 ein Lied gedichtet, das in den Gräueln des Dreissigjährigen Krieges entstanden ist. Die Klage in den Strophen ist durch zahlreiche Bezüge auf Jesaja jedoch auch eine des Gottesvolkes. Ja, eigentlich spricht nichts in den sechs ursprünglichen Strophen dagegen, dieses Adventslied 7 im Evangelischen Gesangbuch nicht auch mit Juden gemeinsam singen zu können.
O Heiland, reiß die Himmel auf, herab, herab vom Himmel lauf, reiß ab vom Himmel Tor und Tür, reiß ab, wo Schloss und Riegel für. O Gott, ein’ Tau vom Himmel gieß, im Tau herab, o Heiland, fließ. Ihr Wolken, brecht und regnet aus den König über Jakobs Haus. O Erd, schlag aus, schlag aus, o Erd, dass Berg und Tal grün alles werd. O Erd, herfür dies Blümlein bring, o Heiland, aus der Erden spring. Wo bleibst du, Trost der ganzen Welt, darauf sie all ihr Hoffnung stellt? O komm, ach komm vom höchsten Saal, komm, tröst uns hier im Jammertal. O klare Sonn, du schöner Stern, dich wollten wir anschauen gern; o Sonn, geh auf, ohn deinen Schein in Finsternis wir alle sein. Hier leiden wir die größte Not, vor Augen steht der ewig Tod. Ach komm, führ uns mit starker Hand vom Elend zu dem Vaterland.
Mögen Christen auch Jesus als den auferstandenen Messias und damit den Heiland, den Heil = Frieden bringenden Erlöser, verkündigen – es ändert nichts daran, dass die Welt, in der Juden wie Christen leben, dieselbe ist, ein Jammertal, das Trost benötigt, eine Finsternis im Angesicht des Todes, in der Gequälte eine Sonne der Befreiung herbeisehnen.
Erlöst aus der Hand unserer Feinde
Seit dem Schwarzen Schabbat ist das die erneut akut gewordene Hoffnung Israels, dass die Hand der Feinde vom jüdischen Volk genommen werde. Lukas hat diese Hoffnung in die Vorgeschichte der Geburt Jesu aufgenommen. Mit den ersten beiden Kapiteln seines Evangeliums macht er deutlich, dass die Ankunft des Retters dem Volk Israel gilt:1
Denn die Freude, die [vom Engel bei der Geburt zu Betlehem verkündigt] – mit Luther – „allem Volke“ widerfahren soll, meint nicht, wie es wohl weithin im Gottesdienst gehört wird, „alle Leute“ (in Israel bzw. auf der ganzen Welt), sondern „das ganze Volk (Israel)“ (pas ho laos, 2,10), in völliger Übereinstimmung damit, dass es überall in Kapitel 1 und 2 als Empfänger der Botschaft erscheint.
So wird Maria angekündigt, dass ihr Sohn auf dem Thron seines Vaters David sitzen und für immer über das Haus Jakob herrschen wird (1,32f.). Das ermuntert Maria, zu loben und zu beten (1,51–54):
Er übt Gewalt mit seinem Arm und zerstreut, die hoffärtig sind in ihres Herzens Sinn. Er stößt die Mächtigen vom Thron und erhebt die Niedrigen. Die Hungrigen füllt er mit Gütern und lässt die Reichen leer ausgehen. Er gedenkt der Barmherzigkeit und hilft seinem Diener Israel auf, wie er verheißen hat unseren Vätern, Abraham und seinen Nachkommen für Ewigkeit.
Und Zacharias schließt sich ihr an, wenn er sagt (1,68ff.), dass jetzt die Zeit gekommen sei, dass der Gott Israels besucht und erlöst sein Volk, und eine Macht des Heils aufrichtet im Haus seines Dieners David, … dass er uns errette von unseren Feinden und aus der Hand aller, die uns hassen, … dass wir, erlöst aus der Hand unserer Feinde, ihm dienten ohne Furcht unser Leben lang.
Die Feinde Israels gibt es noch und wieder und ihre Hand hat sich am 7. Oktober als stark erwiesen. Was bedeutet das für Christen, die glauben, dass Jesus, der Auferstandene, als Messias Israels lebt und handelt? Kann sich dieser Glaube jetzt bewähren?
Ihr dürft euch jetzt nicht mehr verlassen wähnen
Als Adventslied Nr. 20 ins Evangelische Gesangbuch aufgenommen wurde die 1981 von Jürgen Henkys vorgenommene Übertragung des niederländischen Liedes Het volk dat wandelt in het duister (1959). Es basiert auf Jesaja 9,1–6 und richtet sich damit zuerst an das Gottesvolk Israel. Die zweite Strophe enthält die Zusage:
Die ihr noch wohnt im Tal der Tränen, wo Tod den schwarzen Schatten wirft: Schon hört ihr Gottes Schritt, ihr dürft euch jetzt nicht mehr verlassen wähnen.
Wenn Christen in der Geburt, im Leben, Sterben und Auferstehen Jesu von Nazaret Gottes Schritt hören, dann stehen sie als Bürgen hinter der Zusage, dass Israel sich nicht verlassen denken muss.
Das kann jetzt, im Advent des Jahres 2023 nichts anderes bedeuten, als klar und erkennbar und eindeutig zu Israel in der Zeit seines Krieges gegen die Terrororganisation Hamas zu stehen. Ohne ein „ja, aber“. Es ist dann jetzt wirklich die Zeit der Versicherung vorbei, man sei ein Freund, aber ein kritischer, weil eine feste Freundschaft einer kritischen Praxis bedarf, aber nicht solcher Erklärungen.2
Wenn ich eingangs schrieb: Die Hoffnung, dass Gott sich zeigt und handelt, macht die Adventszeit zur vielleicht jüdischsten im Kirchenjahr, dann bewährt und bewahrheitet sich diese Hoffnung darin, dass die christlichen Gemeinden und ihre Kirchen sich jetzt in der Stunde der Not Israels an dessen Seite zeigen und handeln. Wo sonst wäre ihr Platz?
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